15. Kapitel
Mit starrem Blick blieb ich noch einige Momente im Bett sitzen, ehe mich die kalte Panik erfasste. Jim hatte sich angehört, als würde ihm jemand ein Messer an den Hals halten.
Was, wenn es tatsächlich so war? Und warum hatte er sich dafür entschuldigt, so ignorant zu mir gewesen zu sein? Als würde er eine Schuld wieder gut machen wollen, bevor etwas Schreckliches passierte. Ich atmete tief ein, um nicht zu hyperventilieren. Hastig sprang ich aus meinem Bett, knipste das Licht an und sah meine gepackten Taschen vor dem großen Schrank stehen. In ein paar Stunden würde es zurück zur Schule gehen und ich wollte einfach Reißaus nehmen?
Ich war so überfordert, dass ich gar nicht wusste, was ich zuerst machen sollte, stand schließlich selbst auch noch in meiner Nachtwäsche mitten im Raum. Ich versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren, so wie Jim es auch immer tat, wen seine Bar gut gefüllt war und die bereits angetrunkenen Männer allmählich wütend wurden, weil sie ihr Bier noch nicht bekommen hatten. Sobald ich ihn vor Augen hatte, sein Lächeln, seinen Enthusiasmus in seinen Augen, wusste ich was ich tun musste. Ich dachte nicht mehr nach, wahrscheinlich eine Schutzreaktion meines Körpers, um nicht komplett durchzudrehen, und konzentrierte mich einfach darauf meine Aufgaben zu erfüllen.
Mit leisen, jedoch schnellen Schritten eilte ich zuerst ins Bad hinein, schnappte mir Zahnbürste, Duschgel und Shampoo. Von dort aus rannte ich wieder zurück und ließ auch das letzte Hab und Gut in meinen Koffer gleiten, als ich den weißen Umschlag entdeckte, den ich in diesen Ferien oft gezückt, aber nie gebraucht hatte. Es war Claires Feriengeld für mich. Damit würde ich auf jeden Fall weiterkommen. Meine zitternden Finger griffen nach dem Reißverschluss und zogen ihn zu. Dann griff ich nach der Jeans und dem T-Shirt, die ich für den ersten Schultag herausgelegt hatte, und zog mir alles schnell über. Meine Haare waren immer noch zu Zöpfen gebunden, weshalb ich es dabei beließ und ein Haargummi um sie wickelte.
Ein letztes Mal schaute ich mich um. Ich hatte alles bei mir. Ich konnte gehen.
Mit einem Mal stoppte ich, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Mit meinem Gehen würde ich auch die Familie Greenwald verlassen müssen. Wie hätte ich das über mein Herz bringen können? Es wäre vernünftiger gewesen, sie zu wecken und gemeinsam zu überlegen, wie wir vorgehen mussten. Doch was würde geschehen, wenn sie die Polizei informierten? Vielleicht würde das Jims Tod bedeuten!
Ich begann einen inneren Monolog zu führen. Ich presste eine Faust gegen meine Lippen und überlegte hin und her. Konnte ich überhaupt geh ... ja, ich musste gehen! Es gab keinen anderen Ausweg! Noch hatte ich Claires Vertrag nicht unterzeichnet. Und ich wusste, dass ich für Mikey da sein wollte und auch für Vicky und Riley, aber Jim war mein Wegbegleiter in den allerschwersten Zeiten gewesen. Er bedeutet die Welt für mich und genau aus diesem Grund entschied ich mich für ihn. Doch ich konnte nicht einfach so abhauen. Ich musste wenigstens zu Mikey, ihm die Situation erklären und ihn darum bitten, sich keine Sorgen zu machen. Ich schulterte meinen Rucksack, hob den Koffer hoch und riss die Tür auf.
Schnurstracks machte ich mich zu seinem Zimmer auf. Vor der Tür kam ich zum Stehen und haderte plötzlich mit mir. Was war, wenn er mir eine Szene machte? Vielleicht würde er mich gar nicht erst gehen lassen oder weckte seine Eltern, um die Polizei zu rufen. Wer wusste, ob die Polizei nicht sogar helfen konnte? Mein Kopf war so randvoll mit Informationen, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich hatte zwei so wunderschöne Wochen hier bei ihnen verbracht, wollte ihnen in den frühen Morgenstunden als Dank noch einen Kuchen backen und ordnungsgemäß mit Mikey wieder zurück zur Schule, dass es sich sträflich anfühlte, plötzlich zu gehen. Und Mikey würde wahrscheinlich durchdrehen, wenn er mein Bett am nächsten Morgen leer vorfand.
Ich atmete durch den Mund aus, nahm all meinen Mut zusammen und wollte nach der Türklinke greifen, als plötzlich mein Handy direkt in meiner Hand vibrierte. Sofort vergaß ich all meine Vorhaben und hob eilig ab. Ich wischte zittrig über das Display und hielt es an mein Ohr.
„ Jim?"
Außer ein lautes Knacken und Rauschen war nichts zu hören.
„ Jim?", fragte ich nochmal eindringlicher und entfernte mich von der Tür, lief bis zur Treppe und spürte, wie sehr mein Körper bebte. Keiner antwortete, doch ich beschloss so lange dran zu bleiben, bis ich etwas brauchbares vernehmen konnte. War Jim zu Hause oder in seiner Bar oder vielleicht doch ganz woanders? Ich hatte keine Ahnung und musste stattdessen versuchen diese beiden Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen.
Ich rannte die Treppe so leise ich konnte hinunter. Unten angekommen wurde das Rauschen nochmal lauter, als die Verbindung mit einem Mal unterbrochen wurde und kein einziges Geräusch mehr zu mir durchdrang. „ Scheiße!", zischte ich.
Tränen stauten sich bereits in meinen Augen. Ich riss die Haustür auf und wollte hinaus, blieb jedoch ruckartig stehen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich in Rockville befand. Ich hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, der mir weiterhelfen würde.
Ich war meinem Ziel sicher viele Stunden von hier entfernt, hatte aber nicht den leisesten Schimmer, wo sich in der Umgebung eine Haltestelle oder ein Bahnhof befinden könnte. Und mein Handy zeigte kein Internet an. Es funktionierte nur für die heruntergeladenen Apps.
„ Diese Drecksschule!", regte ich mich fuchsteufelswild auf und wollte es schon auf den Boden schmettern, als ich plötzlich das Handy von Mabel auf dem Schuhschrank entdeckte. Ich bekam einen Geistesblitz, den ich aber ganz schnell wieder verwarf. Mein Kopf wollte ihn jedoch und holte ihn wieder zurück. Auf der Kommode lag das Handy von Mabel. Sie hatte bestimmt einen Internetzugang. Aber ich konnte es doch nicht einfach stehlen. Nein. Das war moralisch nicht korrekt und schon gar nicht, nachdem sie mich in ihrem Haus aufgenommen, mich mit Essen und Freude versorgt hatten, und mir einen Platz bei ihnen baten. Ich wollte in ihren Augen nicht als Diebin gelten, die sich nur nahm, was sie kriegen konnte, ehe sie wieder verschwand und sogar noch einen teuren Gegenstand mitgehen ließ. So wollte ich nie sein, auch wenn ich in der Vergangenheit oft die Möglichkeit dazu gehabt hätte und mich in Not befand, ich hatte es nie getan.
Kämpfend mit mir selbst, drückte ich meinen Rücken durch und überwand die Schwelle des Hauses, als die Gedanken zurück in meinen Kopf geschossen kamen.
Wie sah es denn aus, wenn es um das Leben eines anderen Menschen ging? Schließlich klaute ich nicht aus Habgier, sondern, um meinem Freund zur Hilfe zu eilen, wenn es denn nicht längst zu spät war, weil ich zu lange herum überlegte!
Ich haderte noch immer, die Finger unter meinen Jackenärmeln verkrampft, der Kopf randvoll mit Überforderung. Mit einem Mal packte es mich und ließ mich zurück ins Haus stürmen. Meine Hand griff nach dem Handy, auch wenn es sich völlig fremd in ihr anfühlte, doch dieses Etwas in mir, vernichtete das schlechte Gewissen und bestärkte mich, dass es schon in Ordnung sein würde. Ich würde es ihr zurückgeben und mich entschuldigen. Wenn sich die ganze Sache aufklären würde, würde sie es hoffentlich verstehen. Mit Tränen in den Augen verließ ich bepackt mit Rucksack, Koffer und Mabels Handy das Haus, um meinen besten Freund hoffentlich noch retten zu können.
Draußen empfing mich eine kühle, dunkle Nacht. Ich konnte nur ein bis zwei Sterne erkennen und auch die Laternen schenkten mir etwas Licht. Meine Augen wanderten hinab auf das Handy, welches ich anschaltete.
Mit klopfendem Herzen lief ich langsamen Schrittes voran. Als das Display bereit war, wollte ich direkt loslegen, um nach Verbindungen bis Minnesota zu suchen, als ich sah, dass zuerst ein Passwort eingegeben werden musste.
„ Scheiße!", rief ich und war am Verzweifeln, als mir plötzlich ein Gedanke kam. Mikey hatte mir bei unserem Ausflug in den Freizeitpark erzählt, dass er diese bunten Buttercreme-Törtchen, die vor Ort in einem Shop angeboten wurden, gerne an seinem Geburtstag aß, der am 20. Oktober war. Vielleicht ... konnte es wirklich so banal sein? Ich gab Mikeys Geburtsdatum ein und es half! Die Zahlen entsperrten das Handy und gaben das Display frei. Doch anstatt mich zu freuen, blieb mir beinahe die Luft weg. Hinter dem dicken Glas des Mobiltelefons lächelte mich eine glückliche Familie, bestehend aus Richard, Mabel und Mikey an. Dieser Anblick heimste mir einen unsagbaren Schmerz in meiner Magengegend ein, dass mir schlecht davon wurde. Um nicht völlig die Fassung zu verlieren, öffnete ich den Internetbrowser und tippte mit schnellen Fingern mein Ziel ein. In Windeseile bekam ich direkt mehrere Bus- und Zugverbindungen angezeigt. Die nächste Haltestelle war nur ein paar Meter von hier entfernt und der Bus kam bereits in sieben Minuten! Also nahm ich die Beine in die Hand und hetzte mich ab. Die Dunkelheit und die Fremde, in der ich mich befand, blendete ich einfach aus und es war so einfach, denn Jim war überall und ich wusste, dass ich das hier alles für ihn tat.
Nach ein paar Abzweigungen und einem kurzen Waldstück, welches ich durchquerte, gelang ich auf eine kleine Nebenstraße mit dem Namen Island-Road-Street. Ich erhaschte die Haltestelle schon von Weitem und erkannte in der Ferne bereits die Scheinwerfer des Busses aufleuchten. Sobald ich den Fahrer nach der richtigen Strecke fragte und er mir grünes Licht gab, suchte ich mir mit meinem gekauften Ticket einen Platz aus. Es war nicht schwer einen Sitz direkt am Fenster zu bekommen, da es schließlich bereits Nacht war und nur eine Gruppe von Mädchen unterwegs, die einen Junggesellenabschied mit der zukünftigen Braut feierten. Ich lächelte, obwohl mir gar nicht danach war, doch ihre gute Laune war wirklich sehr ansteckend. Trotzdem hatte ich schreckliche Angst um Jim. Ich wollte mir nicht ausmalen, dass ihm etwas zugestoßen war. Er war der einzige Freund, den ich hatte. Natürlich wollte ich meine neugewonnen Freunde aus der Schule nicht vergessen, aber Jim hatte mir über all die Jahre, in denen die Zeiten härter gewesen waren, mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war immer die Stütze meines Lebens gewesen und nun auch nur den Gedanken daran zu hegen er sei ... nein, das konnte ich einfach nicht!
Der Bus fuhr sicher eine halbe Stunde, als er endlich Halt machte und ich aussteigen konnte. Im Dunkeln war alles noch verwirrender als überhaupt schon. Ich war zuvor noch nie hier gewesen und musste mich so gut es ging orientieren. Das Handy half mir sehr dabei. Ich durfte nur nicht darüber nachdenken, dass es Mabel gehörte und sie am Morgen danach suchen würde.
Mit schnellen Schritten erklomm ich die vielen Steintreppen des Bahnhofes und wartete mit weiteren drei Menschen, die mehr oder weniger zwiespältig schienen, auf den Zug. Mein Blick huschte immer wieder zu den Anzeigetafeln, während ich nervös auf das eine und dann auf andere Bein trat, und mir bitterlichst den Zug herbeiwünschte.
Es vergingen zehn Minuten, als ich von Weitem plötzlich erneut grelle Scheinwerfer erkannte. Mit jeder Sekunde fiel es mir schwerer zu warten, als sich endlich die Türen öffneten und ich einsteigen konnte. Die Lichter waren gedimmt und in jeder Ecke lagen Tüten mit leeren Fast-Food-Verpackungen. Es roch nach Rauch und Alkohol und es herrschte eine Stille, die mir Gänsehaut auf die Arme trieb. Ich hatte freie Platzwahl und ein ganzes Abteil für mich alleine. Als ich saß, lehnte ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und stellte mich auf eine lange Fahrt ein. Es würde circa dreizehn Stunden dauern. Ich würde also die ganze Nacht durchfahren, ehe ich wieder umsteigen musste und von dort aus den Bus nahm, um es in die Nähe meiner Heimat zu schaffen.
Mittlerweile ging es mir so schlecht in meinem Körper, dass mir schon ganz schlecht davon war. Zudem war ich trotz der Panik todmüde. Vielleicht kam es auch genau deswegen.
Die Fahrt dauert eine ganze Ewigkeit. Immer wieder nickte ich bei dem monotonen Geräusch der Räder auf den Schienen weg, und schreckte wenig später wieder auf, mit der Angst, dass ich meine Haltestelle verpasst hatte. Doch ein Blick nach draußen verriet mir, dass es noch immer Nacht war. Meine Augen huschten dauernd auf die Uhr und die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen. Um mich abzulenken, wenn ich vor lauter Gedanken keinen Schlaf fand, spielte ich mit der kindlich aufgezogenen App auf dem schuleigenen Handy. Abermals fütterte ich die hungrige Schnecke, streichelte sie und spielte kleine Mini-Games mit ihr.
Zwischendurch kam eine Frau mit einem Speisewagen durch den Gang geschlendert. Ich kaufte ihr ein Wasser und auch eine Brezel ab, wobei ich letzteres in meine Tasche für später packte und nur ein paar Schlucke trank. Mein Magen war wie zu. Ich hätte keinen einzigen Bissen hinunterbekommen, weshalb ich meine Arme um meinen Bauch schlang, mich gegen das Fenster lehnte und versuchte es einfach nur zu überstehen.
Die letzten Meter waren beinahe die Schlimmsten. Bis der Zug bremste, hatte ich viermal auf mein Handy gestarrt, doch es war kein weiterer Anruf von Jim eingegangen, was das Schlimmste hätte bedeuten können. Wie stellte ich es mir überhaupt vor? Dass ich einfach so in seine Bar spazierte und ihn munter hinter dem Tresen vorfand und alles einfach nur ein furchtbarer Albtraum gewesen war? So einfach würde es nicht werden, das wusste ich genau.
Ich stand auf und klaubte meine Sachen zusammen, ehe sich endlich die Türen öffneten und ich ausstieg. Noch immer war der Himmel dämmrig und ich konnte vereinzelnd Sterne sehen.
Es fühlte sich merkwürdig an wieder Zuhause zu sein, doch das war in diesem Moment nicht wichtig. Ich musste nur zu Jim, alles andere zählte nicht mehr. Trotz alledem war es eine vertraute Gegend. Früher war ich öfter am Bahnhof gewesen, um in die Stadt oder an den See zu fahren. Wie gerne hatte ich für mich selbst die Menschen in den Gassen oder die Enten auf dem Wasser betrachtet. Es schien tausende von Jahren her zu sein.
Ich quetschte mich vorbei an den vielen Leuten, die aus- und einstiegen oder einfach nur auf einen lieben Menschen warteten, den sie in der Menge noch nicht erhascht hatten. Vom Bahnsteig aus, nahm ich die Treppen hinunter und hastete aus dem Bahnhof hinaus.
Als ich die Straße erreicht hatte, blieb mir für einen Moment das Herz stehen, da mir die Gegend mit einem Mal so unendlich bekannt vorkam!
Ich war in meiner Heimat. Für einen flüchtigen Moment spürte ich die Freude in mir aufkeimen,doch sie ebbte auch genauso schnell wieder ab. Ich musste meinen Bus bekommen, der in zwei Minuten an der Haltestelle ankommen würde. Meine Augen schauten schnell nach rechts und links, ehe ich die Straße überquerte und schräg auf die Haltestelle zulief.
Jeder Meter fühlte sich schwerfälliger an, Jims Bild immer in meinem Kopf. Warum hatte alles nur so weit kommen müssen? Warum war ich auch angefahren worden? Ohne diesen Unfall hätte ich eine Stimme gehabt, um mich gegen den Aufenthalt an dieser Schule zu wehren. Jim hätte mir zur Seite gestanden. Aber meine Eltern wollten, dass ich alles verlor, was ich mir aufgebaut hatte. Ich fragte mich, welchen Hass sie auf mich haben mussten, um mir immer wieder etwas anzutun.
Der Bus fuhr circa fünfzehn Minuten. Als ich endlich ausgestiegen war, wusste ich sofort wo ich mich befand und folgte stur meinem Weg.
Von der weniger befahrenen Straße, bog links ein schmaler Weg in einen kleinen Wald hinein, der eine gute Abkürzungen bot, um schnell in meine Siedlung zu kommen. Als die vielen Bäume sich nach fünf Minuten allmählich begannen zu lichten, erkannte ich mal kleine, mal große Gärten, durch die ich als Kind immer heimlich gerannt war, wenn meine Eltern mal nicht hinschauten. Ich erwartete einen Schmerz in mir aufkeimen, doch ich fühlte gar nichts. Und ausnahmsweise war ich mir sicher, dass dies nicht durch die aufwühlende Situation hervorgerufen wurde, sondern, weil ich mit diesem Thema schon lange durch war.
Die vielen Kiessteine knirschten unter meinen Schuhen und ein leichter, feuchter Film des Nebels, der um mich herum war, legte sich auf meiner Haut ab.
Die letzten Meter rannte ich einfach nur noch, ließ eine Reihe von Garagen hinter mir, ehe ich auf einen kleinen Platz, umrahmt von einer kleinen Menge von Tannen, kam. Und genau zwischen ihren vielen Ästen und winzigen Nadeln, lag Jims Bar.
Nach meinem letzten Aufenthalt dort hatte sich mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt. Ich hatte so viele neue Menschen kennengelernt, um einen von ihnen nach zwei Tagen schon getrauert, eine Familie gefunden, die mich nahm so wie ich war ... Und was würde jetzt auf mich zukommen? Was würde ich nun erleben, wenn man bedachte, welche Anrufe mich heute Nacht ereilt hatten?
Angekommen an dem roten Backsteingebäude, sah ich, dass alles dunkel war. Es sah nicht danach aus, als würde sich jemand drinnen aufhielt, doch ich konnte nicht anders, als es zu versuchen. Mit voller Wucht prallte ich gegen die Tür und klopfte dagegen.
„ Jim! Jim? Bist du da drin?" Ich hielt für einen Moment inne, doch ich bekam keine Antwort. „ JIM!", schrie ich und haute mit meinen Fäusten weiter gegen die Glastür. „ Jim, wenn du mich hörst, ich werde jetzt die Polizei rufen!" Panik erfasste mich und ich sah es, als die beste Idee, nun doch die Polizei zu informieren. Ich konnte ihn nirgendwo ausmachen und meine Kraft reichte einfach nicht mehr, um mich jetzt alleine zu seiner Wohnung aufzumachen, um nach ihm zu schauen. Sie konnten mir bestimmt helfen!
Ich zückte schon das Handy und wollte die Rufnummer wählen, als mich von hinten eine Hand fasste.
„ Wir benötigen keine Polizei. Alles wird wieder gut." Erschrocken fuhr ich herum und konnte in der Dunkelheit zuerst nichts erkennen, als ich mit einem Mal erschrak.
„ Claire."
Claire packte mich etwas unsanft an meinem Arm und zog mich mit sich.
„ Was soll das? Ich muss zu Jim!"
„ Du musst nirgendwo anders hin als in unsere Schule! Deiner Heimat!"
Ich wehrte mich. „ Das ist nicht meine Heimat!", schrie ich, versuchte mich immer wieder von ihr loszureißen, doch sie hatte eine ganz schöne Kraft. Sie fasste mich am Schlafittchen, entriegelte das Auto per Knopfdruck und stieß die Autotür auf. Sie drückte mich wie eine Polizistin ins Auto hinein und knallte die Tür zu. Sofort versuchte ich wieder zu entkommen, doch da verriegelte sie schon wieder das Schloss. Zumindest an meiner Tür, denn wenige Sekunden später, öffnete sich die Fahrertür.
„ Lass mich sofort hier raus!", kreischte ich und wollte über ihren Sitz steigen, als sie mich schon zurückdrückte, den Gurt aus der Vorrichtung zog und ihn neben mir einrasten ließ. Ohne auch nur zu zögern, wanderten meine Finger zu dem kleinen Plastikteil und versuchten es zu öffnen, doch er ließ sich nicht mehr lösen.
„ Was hast du gemacht?", schrie ich und zerrte schon an meinem Gurt. Er saß viel zu eng, um sich daraus befreien zu können.
„ Es ist genau für so etwas vorgesehen", sagte sie nur, den Blick starr geradeaus gerichtet, als sie auch schon den Motor startete. „ Ich habe am letzten Schultag bereits in deinen Augen gesehen, dass du nicht mehr zu uns zurückkehren wirst." Ihre Stimme klang niedergeschlagen und auch ihre Augenbrauen waren bis tief in ihre Stirn gezogen.
„ Das ist nicht wahr! So etwas hatte ich nie vor! Ja, ich habe mit dem Gedanken gespielt zu gehen, aber nicht vor den Ferien. Ich wollte ordnungsgemäß zurückkommen!"
„ Bist du aber nicht", flüsterte sie.
„ Ich bin hier, weil mein bester Freund in Gefahr ist! Ich muss zu ihm!"
„ Natürlich, was auch sonst", erwiderte sie so belanglos, dass es in mir schmerzte. Fassungslos starrte ich sie an.
„ Das kannst du jemand anderem erzählen."
„ Aber es ist die Wahrheit!", schrie ich, doch sie blieb unberührt und würdigte mich keines Blickes.
„ Und wenn schon. Er ist jetzt nicht mehr dein Problem", sagte sie, wendete das Auto mit quietschenden Reifen und bretterte drauf los.
„ Bitte, Claire, bitte! Kehr um! Ich muss ihm helfen! Er ist in Gefahr!"
„ Er wird sich selber helfen."
Mir fehlten die Worte. Panik erfasste mich und lähmte meinen kompletten Körper.
Das konnte alles einfach nicht wahr sein. Wie hatte Claire mich hier finden können? Und warum ging sie so über meine Angst hinweg und riskierte gleichzeitig ein Menschleben, indem sie wegschaute und nicht versuchte mir zu helfen?
Da fiel mir Mabels Handy ein. Hastig griff ich in meine Jackentasche und zog es hinaus. Mit eiligen Fingern tippte ich die 911 ein.
„ Na!", rief Claire. Bevor ich die Nummer überhaupt anwählen konnte, riss sie mir das Handy schon aus den Händen und beschlagnahmte es.
„ GIB ES WIEDER HER!", kreischte ich und versuchte es mir zurückzuholen, doch sie war schneller, ließ das Fenster neben ihr hinunterfahren und hielt es bloß mit zwei Fingern hinaus. „ Nein",flehte ich. „ Bitte nicht das Handy!" Ich wollte nicht wissen wie viele Erinnerungen sie auf diesem Handy von gemeinsamen Ausflügen und Mikey hatte. Es wäre eine Katastrophe gewesen.
„ Noch einen Ton und ich lasse los."
Augenblicklich verstummte ich. Wenn es meines gewesen wäre, hätte ich nicht meinen Mund gehalten, doch es gehörte mir nicht. Es gehörte Mabel. Einer wunderbaren, gütigen Frau. Claire stellte das direkte Gegenteil zu ihr dar und ich hasste sie mit einem Mal abgrundtief.
„ Gute Entscheidung", lobte sie mich abschätzig, so als hätte ich das erste Mal in meinem Leben eine gute Entscheidung getroffen.
Am liebsten hätte ich sie gewürgt, aber ich verkniff es mir vehement.
Claire beschaute sich das Handy genauer und drehte es geschickt ein paar Mal in ihrer Handy. „ Wie ich sehe, ist es nicht eines unserer Modelle." Ihr Finger tippte auf den Bildschirm, wo schon das Familienfoto der Greenwalds auftauchte.
„ Sieh mal einer an. Du warst also dort."
„ Es geht dich nichts an, wo ich meine Ferien verbracht habe!", fauchte ich sie an.
„ Nein, jedoch hast du mich schon wieder angelogen. Und du hast das Handy von ... wem gehört es? Mr Greenwald? Mrs Greenwald? Oder doch ihrem jüngsten Spross?"
Ich zögerte einen langen Moment. „ Mrs Greenwald", gab ich unfreiwillig zu.
„ Hast du es gestohlen?"
„ Nein, ich brauchte bloß einen Internetzugang, damit ich zu Jim komme! Aber du hast mich daran gehindert!"
„ Mit gutem Recht. Und übrigens kassiere ich das hier ein und werde es Mikey ordnungsgemäß wieder zurückgeben."
„ Ich wollte es nicht behalten!"
Sie steckte es in ihre Manteltasche und raste weiterhin wie eine Wahnsinnige über die Autobahn.
„ Gehörte diesem Jim die Bar, vor der du gestanden hast?"
„ Ja, verdammt!"
„ Dann hat er sicher öfter Stress mit pöbelndem Pack. Das wird er schon alleine schaffen und wenn nicht, ist es nicht deine Angelegenheit. Er ist erwachsen, zumindest gehe ich davon aus. Er müsste wissen, wie man sich verteidigen kann."
Innerhalb von fünf Sekunden schaltete sie in den fünften Gang. Mein Körper wurde richtig in den Sitz gepresst, sodass mir das atmen schwerfiel. „ Das ist sonst nicht mein Fahrstil. Schau dir das bloß nicht von mir ab."
„ Das kannst du einfach nicht bringen", weinte ich mittlerweile.
„ Du gehörst nicht in diese Stadt, sondern in unsere Schule!" Sie wurde lauter und ihre Stimme bebte, als würde auch sie kurz vor einem Weinkrampf stehen. „ Du hast mir selbst erzählt, dass du es nicht gut gehabt und dich darüber gewundert hast, dass deine Eltern an deinem Krankenbett standen! Was willst du noch dort? Dein Freund hat sich nie bei uns gemeldet, um nachzufragen, wo du bist. Viele Verwandte tun das, wenn sie nichts davon mitbekommen haben, dass eines ihrer Familienmitglieder nun bei uns zur Schule geht, doch er hat es nicht getan. Du warst ihm also egal. Und selbst wenn er nun in Gefahr schwebt ... er hat sich auch um dich nicht gestört." Inzwischen weinte ich so bitterlich, dass ich nicht mehr reden konnte. Die Tränen rannen mir die Wangen hinunter, pressten sich zwischen meine Lippen und tropften von meinem Kinn hinunter. Mit jedem Meter entfernte ich mich weiter von meinem Ziel, für welches ich so viele Stunden Fahrt und Ängste auf mich genommen hatte. Und es gab keinen Weg Claire zu entfliehen. Wie sollte ich bloß weitermachen, wenn ich niemals erfuhr, was mit ihm geschehen war, oder erst ein paar Monate später zu hören bekam, dass er längst nicht mehr lebte? Ich würde daran zugrunde gehen.
„ Am liebsten würde ich mit dreihundert Sachen über diese verdammte Autobahn brettern. Ich bin so sauer auf dich! Ja, auf dich, Madison! Ganz richtig!!"
„ Was willst du von mir?", schrie ich. „ Willst du mich von der Schule schmeißen? Ja? Ich bitte dich, dann tu es doch endlich! Ich bin froh, wenn ich dich und all die anderen nicht mehr sehen muss!"
Claire schaute mich immer noch nicht an. Sie blieb ganz ruhig. „ Nein", sagte sie bestimmend. „ Du hast nun schon öfter gegen die Hausordnung verstoßen und jedes Mal wurde das Delikt größer. Ich weiß, dass auch du eine Menge wegen Stevens Tod durchgemacht hast und dass du mich belogen hast, war bloß im Affekt. Du hattest nie etwas damit zu tun, warst einfach nur ein unschuldiger Neuling auf einer verbotenen Party, aber du weißt, wie die Regeln lauten und du weißt, was einem blühen kann, wenn man sie missachtet, aber eigentlich darf ich dir gar keine Schuld geben, denn du kommst daher, wo man nicht geschliffen wird. Ich werde dich nicht von der Schule schmeißen, sondern werde alles daran setzen, dass dies noch bei dir passiert. Noch ist die Hoffnung nicht gestorben. Jedoch glaube ich nicht, dass du straffrei aus dieser Sache hinausgehen wirst."
„ Du kannst mir drohen so viel du willst, Claire! Es ist mir egal. Das war es mir wert, es wenigstens versucht zu haben, ihn zu retten, aber was du getan hast, werde ich einfach nicht vergessen. Du hast mich gerade daran gehindert, ihm zu helfen. Wir hätten wenigstens die Polizei alarmieren können! Das ist nicht normal! Du bist nicht normal! Du brauchst Hilfe!"
Sie lächelte schief, doch es erreichte ihre Augen nicht. „ Du solltest dich lieber um dich selbst kümmern, anstatt immer nur um andere." Ich hörte einen Unterton in ihrer Stimme mitschwingen, der mir absolut nicht gefiel.
„ Was willst du damit sagen?"
„ Ich finde es zwar reizend, wie sehr du dich um den kleinen ... Mikey kümmerst, aber du selbst bleibst dabei auf der Strecke."
„ Ich würde ihn immer wieder vor Mrs Edingburgh oder irgendjemand anderem beschützen!"
Sie seufzte. „ Ach ja, die gute Mrs Edingburgh. Ich werde sie nicht vermissen. Im Endeffekt habe ich sie nie leiden können. Eigentlich könnte ich dir dankbar sein, aber die Umstände lassen das einfach nicht zu. Sie hat ihre Arbeit gut gemacht, man konnte sie akzeptieren, aber ihre Intoleranz hat alles zu Nichte gemacht." Nun wirkte sie beinahe traurig. Nicht traurig darüber, dass Mrs Edingburgh wohl selber an ihrer Kündigung schuld war, sondern, weil sie die Gesetze missachtet hatte. Das passte Claire wohl so gar nicht in ihren Kram.
Claire hielt inne und sprach kein einziges Wort mehr, auch ich war mit einem Mal völlig verstummt und lehnte mit meinem Kopf an der Fensterscheibe, während mir unaufhörlich Tränen aus den Augen liefen.
Bei ihrem hohen Tempo brauchten wir ungefähr sieben Stunden. Zwischendurch hielt Claire an einer Tankstelle an und kaufte mir Schokoriegel und einen Kaffee. Ich verweigerte es, sodass sie den Kaffee selber trank und die Schokoriegel vor mir auf das Armaturenbrett legte. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und fühlte mich gleichzeitig so ausgebrannt, dass mir nichts einfallen wollte. Ich schüttelte nur immer wieder mit dem Kopf und fragte mich, wie ich es schaffen konnte Claire und ihrer Schule für immer zu entfliehen.
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