1. Kapitel
Ich öffnete meine Augen, nachdem meine Finger meine schweren Lider verließen und stattdessen meine Schläfen massierten. Die Bilder an der Wand verwirrten mich jedes Mal, wenn ich hier war. Ich sah Gruppen von Männern, die lachend zusammenstanden, Gebäude, die ich nur aus meinen Geschichtsbüchern kannte, alte Untersetzer mit Biermarken, die längst im Grau der Vergangenheit weilten. Was für merkwürdige Überbleibsel einer vergangenen Welt.
Ich schaute hinunter auf mein Glas. Die weiß-blaue Flüssigkeit meines Gin Tonics war definitiv weniger geworden, aber das war ja auch Sinn der ganzen Sache.
„ Mach nicht so ein langes Gesicht. Nichts bleibt so wie es ist."
Jims Stimme übertönte das monotone Gemurmel der Leute in der Bar und ließ mich aufschauen.
Ich lächelte, nahm mein Glas in die Hand und reckte es in die Höhe.
„ Dein Wort in Gottes Ohr!", rief ich und schluckte den letzten Schluck rasant meine Kehle hinunter, füllte den Bedarf erneut auf, hielt den Pegel.
Jim grinste leicht besorgt, das konnte man an seinen Stirnfalten erkennen.
„ Zwing mich bitte nicht dazu, dir noch einen einzuschenken," bat er mich beinahe, während er ein nasses Glas hinter dem Tresen aus dem trüben Spülwasser zog.
„ Heute nicht." Ich stellte das Glas zurück, woraufhin die Eiswürfel hörbar an die Innenseite schlugen. „ Es ist schon spät und ich muss morgen früh raus."
Jim zog die Brauen erstaunt in die Höhe und kratzte sich an seinem gekräuselten Bart.
„ Ich dachte, du beginnst immer erst ab Mittag?"
Ich schüttelte schmunzelnd mit dem Kopf. „ Ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch."
„ Hier in Rochester?"
Ich schmunzelte. „ Ja. Es ist in einer Boutique in der Innenstadt. Sie suchen eine Verkäuferin. Wahrscheinlich werde ich eh den ganzen Tag das Lager aufräumen, aber immerhin."
„ Immer noch besser als in diesem ollen Lebensmittelgeschäft für Trockenfrüchte", bemerkte er.
Ich lachte. „ Der Laden heißt Marcy's. Und wir hatten nicht nur Trockenfrüchte."
„ Aber überwiegend!", grinste er.
Langsam rutschte ich von meinem Hocker hinunter und hängte mir meine Tasche umständlich über die Schulter.
„ Dabei bin ich noch nicht einmal betrunken", murmelte ich unzufrieden.
„ Das nicht, aber ich möchte es auch erst gar nicht dazu kommen lassen. Ich habe eine Verantwortung."
Ich riss meine Brauen hoch, sah mich schnell nach rechts und links um, ehe ich ihn misstrauisch musterte.
„ Mir gegenüber?" Ich tippte auf meine Brust. „ Ich bitte dich, hör auf damit."
Er zuckte mit den Schultern und entfernte sich vom Tresen. „ Das kommt davon, wenn man zwei kleine Töchter hat."
„ Ich sehe dich aber nicht als meinen Vater an."
„ Das weiß ich."
„ So alt siehst du nämlich noch gar nicht aus."
Er lachte und strich sich durch sein dunkelbraunes Haar. „ Mit achtunddreißig fängt das Leben eines Mannes doch erst so richtig an."
„ Abgesehen von den grauen Bartstoppeln und deinen neu dazu gewonnen Augenringen, hast du wahrscheinlich recht."
Mit einem Mal verzog Jim die Miene und drehte sich einem Bild, welches direkt über der Kaffeemaschine hing, zu, um sich in dem Glas des Rahmens genauer zu betrachten. Ich musste kichern, woraufhin er sich ertappt zu mir nach hinten drehte und die Augen zusammenkniff.
„ Ganz dünnes Eis, junge Lady", knurrte er schmunzelnd.
Ich nickte ihm einmal zu, ehe ich ihm einen Zwanziger hinüberschob.
„ Das ist viel zu viel", entgegnete er sofort.
„ Für eine neue Tönung", scherzte ich und zwinkerte ihm zu.
„ Oder einem Friseurbesuch. Meine Frau wünscht sich einen anderen Haarschnitt für mich."
Ich verzog die Miene. Nein, das wünschte ich mir auf gar keinen Fall für ihn und sein Haar.
„ Deine Locken bleiben dort, wo sie sind. Sie sind toll. Bitte nicht wegmachen."
Ohne sie wäre er nicht mehr Jim gewesen. Seine braunen Locken und der Bart waren mir so vertraut, dass ich Angst hatte, etwas Fremdes in ihm zu erkennen. Ich wollte mich nicht fremd in seiner Nähe fühlen.
„ Keine Sorge. Wird nicht passieren." Er schob den Geldschein zurück über die Theke. „ Aber nimm den hier bitte zurück. Das geht auf's Haus."
„ Wenn du so weiter machst, gehst du wegen mir noch pleite. Und das kann ich nicht verantworten."
„ Und wenn du so weitermachst, kann ich dir diesen hier bald schon in der Fußgängerzone in eine Blechdose zurückstecken." Er wurde sauer und hielt den Geldschein hoch.
„ Dann können wir uns dort ja die Hand reichen!", lachte ich sarkastisch.
„ So oft bist du nun auch nicht hier." Er schien selbst nicht sehr von seiner Antwort überzeugt zu sein. „ Ich könnte dir ja dann in deinem Modegeschäft helfen."
„ Ich möchte, dass du jetzt diesen Schein nimmst und kein Wort mehr darüber verlierst. Ich gehe jetzt. Schönen Abend dir noch."
„ Du kannst so stur sein."
„ Ich weiß", gab ich zu und lief bereits hinaus.
„ Viel Glück morgen!" Er hob die gedrückten Daumen in die Luft. „ Stoßen wir dann an?"
Ich legte den Kopf schief. „ Ach, ich dachte, du hast eine Verantwortung? Und bei der nächsten Gelegenheit verführst du mich schon wieder zum Alkohol?"
Er zuckte mit den Schultern.
Ich musste lachen, winkte ihm nochmal und schritt dann durch die Tür, über der jedes Mal, wenn sie sich öffnete, ein Glöckchen klingelte.
Die kalte Luft hüllte mich sofort in sich ein. Von der molligen Wärme in der Bar blieb nichts mehr auf meiner Haut zurück. Sie wich der Kälte schneller, als mir lieb war. Ich knöpfte meinen braunen, recht dünnen Stoffmantel bis oben hin zu und schlang die Arme um meinen Körper.
Die Frische des Abends befreite meine Nase vom Nachklang des schweren Rauches und der scharfen Getränke, die sich über die vielen Stunden in ihr festgesetzt hatten.
Ich war froh, dass es nicht schneite. Wenn der Schnee mir die Sicht nahm, fühlte ich mich verlorener. Nun war die Luft klar und die Straßen kaum belebt.
Ich überquerte die Straße und steuerte auf den gegenüberliegenden Bordstein zu, ließ die Hand über die Brüstung des Brückengeländers entlangfahren und sah hinunter in das dunkelblaue, glitzernde Wasser. Oft wirkte es so endlos, als wäre alles Versunkene darin für immer verloren. Dann jedoch, wenn abgebrochene Schiffsteile an den Kiesstrand gegenüber gespült wurden, fiel mir ein, dass es einen Boden gab und er nicht allzu weit entfernt von der Oberfläche schlummerte.
Trotz der vielen Gedanken war es eine wunderbare Aussicht, auf meinem Nachhauseweg. Die großen lilafarbenen Pfeiler rechts und links von mir faszinierten mich jedes Mal, wenn ich die Brücke überquerte, über die Autos nur so unachtsam bretterten. Diese Brücke war eine architektonische Höchstleistung und für mich ein Mysterium. Wie konnte ein Netz aus Metall und Schrauben bloß so wunderschön aussehen und gleichzeitig Bestand für die Ewigkeit besitzen? Ich fühlte mich jedes Mal, als würde ich durch einen riesigen Käfig laufen, der Freiheit bedeutete. Ich schüttelte mit dem Kopf. War es der Alkohol, der meine Gedanken wieder poetisch klingen ließ? Im normalen Leben hatte Poesie in mir nichts zu suchen.
Ja, es musste der Gin gewesen sein.
Als ich mich an die Kälte gewöhnt hatte, steckte ich die Hände in die Manteltaschen und schlenderte so vor mich hin. Mein Blick wanderte zum Himmel empor, in welchem ich ein paar Sterne entdeckte. Wie weit sie doch von uns entfernt waren.
Lautes Gelächter ertönte in der Ferne und ich sah unwillkürlich nach vorne. Das hatte mir noch gefehlt. Eine Gruppe betrunkener Jugendlicher, die sich laut lachend immer wieder gegenseitig auf die Straße schubsten, steuerte direkt auf mich zu, wahrscheinlich auf der Suche nach Ärger.
Ich atmete tief durch, füllte meine Lunge mit der eiskalten Luft und entschied mich dazu, die Straßenseite zu wechseln, die Gruppe dabei immer im Blick. Doch es schien, als würden sie mich in ihrem Rausch gar nicht wahrnehmen.
Sie torkelten, lachten unkontrolliert und führten ulkige Tänze auf der Straße auf. So betrunken wie sie war ich wirklich noch nie gewesen. Immer nur benebelt, aber nicht so, dass ich all meine Sinne verlor. Ich musste lächeln. Jim machte sich immer solche Sorgen um mich. Dass ich zu viel trank und mein Leben verwirkte, dabei war ich diejenige gewesen, die sich zu Anfang um ihn sorgte. Jim war ein Hallodri gewesen, als ich ihn kennenlernte. Ein Elektriker aus einer Elektrikerfamilie. Er erfüllte den Standardtraum eines jeden Vaters mit Familienunternehmen, doch Jim stellte sich für sein Leben etwas ganz anderes vor. Er wollte seine eigene Bar, die benannt wurde nach ihm. Das erzählte er mir alles in Jerry's Diner, als ich nicht genug Geld beihatte, um mein Bier zu bezahlen und er mir aushalf. Ich fand ihn und seine Idee so verrückt, dass ich nicht mehr von ihm loskam. Ich hatte ihn auf den ersten Blick verehrt. Bis heute war dieses Gefühl ungebrochen, denn er gab mir Kraft. Oft nur, durch seine bloße Anwesenheit. Er hatte erreicht, was er sich einst zum Ziel gemacht hatte und ich bewunderte und respektierte seinen Erfolg. Ich wollte nicht sagen, dass ich mich klein gegen ihm fühlte, denn ich gönnte ihm einfach alles, jedoch hätte ich mir teilweise ein Stück seiner Willenskraft gewünscht.
Ich schaute wieder nach vorne, wollte einfach nur auf die andere Seite gelangen und wieder ins Wasser schauen. Das Grölen der Gruppe wurde leiser, eine fast unheimliche Stille entstand. Nur noch der Wind pfiff mir um die Ohren.
Ich atmete laut ein und aus, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Reifenquietschen die Stille durchbrach. Ich eilte auf den Bordstein zu. Das Rumoren des Motors wurde lauter, heulte hinter mir auf, als ich mit einem Mal hart nach vorne geschleudert wurde. Die Welt blieb stehen. Zumindest für mich, als alles schwarz wurde.
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