Neunundsiebzig
Verschlafen reibe ich mir die Augen und sehe nach oben zu Dylan, der mich behutsam geweckt hat. Ich lächle ihn an, doch bei seinem Anblick verblast sofort das Lächeln. Seine Augen sind tiefrot und seine Miene todtraurig, was er mit einem aufgesetzten Lächeln versucht zu kaschieren.
Mein Blick gleitet augenblicklich zu Avery.
Seine Augen sind geschlossen.
Er schläft nur.
"Wach auf, Baby", flüstere ich und schüttle ihn schwach an den Schultern.
"Joy..." Dylan legt seine Hand auf meine Schulter und zieht mich zart nach hinten.
"Nein, er schläft nur. Er wird gleich aufwachen", wild nicke ich mit dem Kopf und sehe zu Dylan nach oben.
"Er wacht gleich auf", wiederhole ich und wende mich Avery wieder zu. "Er wacht gleich auf."
"Joy... Er ist-" Ich lasse ihn nicht ausreden und stehe vom Bett auf um mich vor ihm hinzustellen.
"Er hat wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen, er ist nur sehr müde.
Baby, steh auf. Wir haben bald einen Termin, damit wir unser Kind sehen können. Du-", ich nehme sein Gesicht in meine Hände. "Du wolltest sie Audrey nennen nicht wahr? Und wenn es ein Junge ist? Wie soll er heißen?"
Wieder legt Dylan seine Hand auf meine Schulter und versucht mich nach hinten zu ziehen, von ihm wegzuziehen. "Joy."
Stur wie ich bin, warte ich auf eine Antwort von Avery. "Welchen Namen soll er haben, Baby?", frage ich wieder sanft und streichle seine Wange.
"Du musst es mir schon sagen, Gedankenlesen kann ich nicht." Über meinen kleinen Witz, fange ich an zu lachen.
"Joy... Er ist fort", kommt plötzlich Dylan's kaum hörbare Stimme. Immer noch lachend drehe ich mich zu ihm um.
Er sieht endlos traurig aus. Seine Augen sind rot und Tränen rollen ihm die Wangen runter. Warum weint er?
"Avery ist tot."
Langsam schwenke ich zu Avery. Mein Lachen erstirbt wie auf Knopfdruck.
"Avery ist tot", wiederhole ich Dylan's Worte flüsternd. Wie aus dem Nichts steigen mir Tränen in die Augen, die meine Sicht vollkommen verschleiern.
"Nein, nein, nein." Immer noch nicht überzeugt schüttle ich den Kopf. "Er kann nicht tot sein."
Dylan dreht mich um und nimmt mich in eine warme Umarmung. "Es tut mir so unermesslich leid, Joy", sagt er mit rauchiger Stimme und weint laut. Und das sind die Worte, die den Damm brechen lassen.
"Er muss mir doch noch einen Namen geben, falls es ein Junge wird", sage ich leise unter schluchzen. "Er muss es mir sagen!" Schreiend heule ich an Dylan's Brust.
-
Einen Woche später
Ich liege in Avery's Bett im Apartment und weine mir die Seele aus dem Leib. Sein Bett, ich liebe es. Es riecht so gut nach ihm.
Avery.
Die Tür geht auf und ich höre eine Person reinkommen. Ich öffne die Augen, die mit Schlieren versehen sind und sehe Avery. Aber nein, es ist nicht Avery.
"Du musst was essen, Joy", sagt Dylan sanft und streichelt mein Haar, wahrscheinlich um mich ein wenig zu beruhigen. Doch ich ignoriere ihn und vergrabe wieder mein Gesicht in Avery's Kissen um dort weiter zu weinen.
"Wenn nicht für dich, dann für Avery's Kind." Avery's Kind... Es hat seit Tagen nichts gegessen. Das ist das Stichwort, das mich aufsehen lässt.
Auch Dylan hat die ganze Zeit geweint. Er kniet vor dem Bett auf dem Boden. Seine Augen sind total verquillt und rot, er sieht vollkommen verheult aus. Wie ich aussehe, will ich mir gar nicht vorstellen.
Er belegt mich mit einem sanften und dennoch traurigen Lächeln und hält mir eine Schüssel hin. Mit zitternden Händen streiche ich mir die Tränen aus dem Gesicht und versuche keine neuen zu bilden. Ich nehme die Schüssel in die Hand und fange an zu essen.
Für Avery's Kind.
-
Zwei Monate später
Dylan und ich sitzen im Wartezimmer von Dr. Moore's Praxis. Twyla wollte eigentlich mitkommen, doch sie ist vor zwei Wochen nach Spanien geflogen, weil sie da was dringendes erledigen muss.
Avery's Beerdigung war vor einem Monat. Es waren nur wenige Menschen da, darunter Reece, Twyla, der Nachtportier Paul, der Tagesportier Mark, der Surferjunge Jake und noch andere Jungs und Mädchen, die bei Avery Surfstunden hatten. Dylan, Reece, Twyla und teilweise auch ich, haben alles organisiert. Wir haben ihn ehrenvoll verabschiedet, doch der Schmerz in unseren Herzen wird bleiben.
"Miss Collister", ruft mich Dalia, die Sekretärin, auf. Dylan springt sofort auf und zieht mich mit sich.
Auf der Liege liegend, entblöße ich meinen Bauch, damit sie das Gel draufschmieren kann. "So, dann wollen wir mal sehen", meint Dr. Moore nachdem sie mich gefragt hat, wie es mir geht. Ich habe mit einem knappen Lächeln "gut" gelogen.
Sie nimmt das Ultraschallgerät in die Hand und führt es an meinen Bauch. Dylan drückt meine Schulter um mir still mitzuteilen, das alles gut werden wird. Ich schließe die Augen und lausche in die Stille hinein, bis ich etwas vernehmen kann.
Leicht versetzt höre ich zwei Herzen schlagen und reiße meine, bis eben noch geschlossenen, Augen auf.
"Es sind Zwillinge!", schreit Dr. Moore fröhlich und schaut mich und Dylan mit glänzenden Augen an. Plötzlich fange ich an zu weinen, heftig.
Ich spüre eine warme Hand auf meinem Knie. "Miss Collister- Joy, es geht den beiden prächtig. Sie haben jeweils zehn kleine Fingerchen und zehn kleine Zehchen die Herzen sind kräftig und sie werden gesund sein", höre ich die Stimme der Ärztin.
"Was ist mit den Lungen", frage ich schluchzend.
Sie zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen und schaut Dylan fragend an. Auch ich drehe mich zu Dylan, der ihr mit Tränen in den Augen zunickt.
"Können Sie bitte nachsehen, ob die Lungen in Ordnung sind?" Dr. Moore guckt nochmal auf den Monitor. "Die Lungen sehen auch prima aus."
Ich fange wieder das Heulen an. "Könnten wir einen Moment kriegen, bitte?", fragt Dylan höflich. Sie nickt und steht von ihrem Drehstuhl auf.
"Natürlich. Aber bevor ich rausgehe, wollen Sie das Geschlecht der beiden wissen?" Sofort reiße ich die Augen in ihre Richtung und starre sie an ohne etwas zu sagen.
"Joy, willst du es wissen?", kommt es von Dylan. Will ich es wissen? Zwillinge. Was wenn es Jungs sind? Avery war sich so sicher, dass es ein Mädchen wird.
Ich nicke stumm und sehe sie durch meine mit Tränen gefüllten Augen an.
"Es sind Mädchen. Zwei süße Mädchen, die bei dem Aussehen von euch beiden, hinreißend sein werden.", meint die Ärztin und lässt uns alleine.
Mädchen... Avery hatte recht. "Es wird ein wunderschönes, kluges Mädchen, wie ihre Mutter, das weiß ich" hatte er damals gesagt. Doch es wird nicht ein Mädchen, sondern zwei süße kleine Mädchen werden.
Dylan hält meine Hand in seiner, doch ich ziehe meine weg. "Joy", fängt er ruhig an. "Es geht ihnen gut, sie werden vollkommen gesund sein."
"Er wird sie nie sehen können, seine kleinen Mädchen", gebe ich unter Wimmern von mir.
"Avery wird sie vom Himmel aus beobachten, genau wie dich."
Ende
A/N: Es kommt noch ein Epilog, der dies und das aufklärt :)
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