September NE 226 - Kapitel 4

Als ich den Grund für die Einladung zum Essen erfahren hatte, nämlich dass Lorenz und Bea sich ebenfalls liebten, war mir ein Stein vom Herzen gefallen. Unsere schlimmen Befürchtungen hatten sich zum Glück nicht bewahrheitet. Nachdem das kleine Buffet aufgetragen worden war, hatten wir uns gegenseitig erzählt, wie wir Paare geworden waren.

Lorenz Grüneburg hatte Bea während seines Medizinstudiums an der Universität in Frankfurt kennen gelernt. Allerdings nicht in einer Vorlesung, da Grundbesitzer und Grundlose strikt getrennt voneinander unterrichtet wurden. Beas Eltern arbeiteten als Ärzte im Klinikum, das der Familie Grüneburg gehörte und da sie manchmal beide zur gleichen Zeit die gleiche Strecke zum Campus zurücklegen mussten, hatte Lorenz ihr angeboten, sie im Taxi mitzunehmen.

Bea hatte schon lange für Lorenz geschwärmt, hätte sich aber nie getraut, es ihm zu sagen. Bei Lorenz hatte es erst gegen Ende des Studiums Klick gemacht. Bea wurde Kinderärztin, Lorenz Allgemeinmediziner. Ihre Studie über die negativen Auswirkungen von der Behandlung von Kindern mit zusätzlichen Wachstumshormonen fand große Beachtung. Danach verwirklichten sie ihren Traum und eröffneten gemeinsam eine Praxis, das Ärztehaus in Frankfurt.

Lorenz Eltern waren von Anfang an gegen seine Beziehung zu einer Grundlosen. Alle Hoffnung seiner Eltern lag auf ihm, dem Einzelkind, und er hatte sie bitter enttäuscht. Lorenz und Bea hielten ihre Beziehung nach außen hin stets geheim. Offiziell war sie nie mehr als seine Angestellte.

Als wir gegessen hatten, war ich von den vielen neuen Informationen wie erschlagen gewesen und wir hatten beschlossen, uns einfach ein paar Tage später wieder zu treffen. Lorenz hatte uns zu sich nach Hause eingeladen. So kam es, dass Vasili und ich am nächsten Abend wieder vor dem Ärztehaus standen, diesmal aber einen dritten Eingang benutzten, den zu den Wohnungen.

Lorenz wohnte im Penthouse und ich bewunderte die Glasfronten und die riesige Dachterrasse. Die Wohnung wirkte aber irgendwie steril. Lorenz trat neben mich und sagte: „Ich nutze hier eigentlich nur das Büro. Große Fenster und eine Terrasse sind unpraktisch, wenn niemand erfahren darf, mit wem ich mein Leben teile. Ich bin die meiste Zeit in Beas Wohnung, die unter dieser hier liegt."

Als Lorenz, Vasili und ich von der Dachterrasse wieder in den offenen Wohn-Essbereich traten, war Bea in der offenen Küche bereits mit der Zubereitung des Salates für die Vorspeise beschäftigt. Vasili bot sofort seine Hilfe an und ging zu ihr hinüber.

Lorenz und ich setzten uns auf das Sofa. „Und schon lassen sich die Grundbesitzer von den Grundlosen bekochen", murmelte ich.

„Nun, wir können nicht alle Klischees ausmerzen, ich habe keinen blassen Schimmer vom Kochen", sagte Lorenz schmunzelnd.

Da öffnete sich ein großer Wandschrank und drei Jungen kamen heraus. Ich blinzelte mehrmals und konnte meinen Augen nicht trauen.

„Der Schrank ist eine Tarnung, dahinter verbirgt sich eine Wendeltreppe, die meine Wohnung mit Beas darunter liegender Wohnung verbindet", erklärte Lorenz, „So kann ich abends in mein Penthouse gehen und trotzdem den Abend mit meiner Familie verbringen." Und die Nacht mit Bea, ergänzte ich in Gedanken.

Lorenz stellte mir seine drei Söhne im Alter von neun, 12 und 16 Jahren vor und wir setzten uns alle für die Vorspeise an den großen Esstisch. Die Jungen waren schüchtern und trauten sich kaum, Vasili oder mich anzusehen.

„Entschuldigt das Verhalten meiner Söhne, wir haben nie Gäste außer ihren Großeltern", erklärte Lorenz, der meinen verwunderten Blick bemerkt hatte.

Lorenz und Bea hatten uns instruiert, manche Dinge besser nicht anzusprechen, während wir gemeinsam mit ihren Kindern beim Essen saßen. So unterhielten wir uns über allgemeine Themen wie unseren Aufenthalt in Frankfurt und Städte, die ich mir in Deutschland schon angesehen hatte.

Als die drei Söhne uns nach dem Essen wieder über die Wendeltreppe im Wandschrank verlassen hatten, setzten wir uns mit unseren Weingläsern ins Wohnzimmer.

„Ich nenne Bea zwar privat meine Frau, aber wir sind nicht verheiratet", berichtete Lorenz, „Eine Heirat von Grundbesitzern und Grundlosen ist nicht verboten. Man kann aber nur auf dem Standesamt heiraten, in dessen Gebiet man gemeldet ist, und dieses Standesamt kann die Trauung ablehnen."

„Die Eltern von Lorenz waren von Anfang an gegen unsere Beziehung und als wir heiraten wollten, wussten sie das zu verhindern", klinkte sich Bea ein, „Sie haben einen höheren Angestellten des Standesamtes zum Essen eingeladen. Ihre Forderung, unsere Hochzeit abzulehnen, wird kaum auf Widerstand gestoßen sein."

„Und wie macht ihr das mit euren Kindern?", wollte ich neugierig wissen.

„Offiziell habe ich die drei durch eine künstliche Befruchtung empfangen, weil ich Kinder wollte, ohne einen Ehemann zu haben", erklärte Bea.

Lorenz ergänzte: „Um meinen Söhnen mein Erbe zu sichern, habe ich sie adoptiert, was wir aber niemandem erzählen. Wenn sie hier in Frankfurt sind, sind sie grundlose Kinder einer Ärztin. Wenn die Ferien vorbei sind, gehen sie wieder zurück ins Internat für Grundbesitzer. Dort trete ich als Vater ohne Ehefrau auf. Bei dem stattlichen Schulgeld werden keine weiteren Fragen gestellt. Die drei gelten dort als Grundbesitzer. Es ist kompliziert."

Mir wurde klar, dass ich die Ausmaße dessen, was die beiden täglich auf sich nahmen, noch nicht mal erahnen konnte. Ganz zu schweigen davon, wie schlimm diese Heimlichtuerei für die Kinder sein musste.

Vasili begann mit Bea ein angeregtes Gespräch über sein Heimatdorf in Russland. Gedankenverloren betrachtete ich die Weinflasche, die auf dem Tisch zwischen uns stand und aus der Lorenz uns allen gerade nachgeschenkt hatte. Es war Spätburgunder vom Kaiserstuhl. „Kennst du Dieto Rosenblatt?", fragte ich ihn. Dieto hatte erwähnt, dass er auch Wein verkaufte und die Zigarre war vom Kaiserstuhl gewesen.

Lorenz antwortete: „Nicht persönlich, den Wein habe ich von einem Freund geschenkt bekommen. Dieser bezieht ihn tatsächlich über Dieto, davon hat er mir mal erzählt. Er hält große Stücke auf ihn." Irgendwie war ich froh, dass es keine Verbindung zwischen Lorenz, Dieto und Niocovat gab. Aber gleichzeitig auch enttäuscht. Ich erzählte Lorenz, wo ich Dieto kennengelernt hatte.

„Die Welt ist wirklich klein", stellte Lorenz fest und betrachtete den Wein in seinem Glas, „Eine Patientin unserer Gynäkologischen Abteilung war im letzten Sommer im Urlaub in dieser Gegend."

Bei mir schrillten die Alarmglocken. Auch Vasili unterbrach das Gespräch mit Bea und schaute interessiert zu uns herüber. Überrascht von der plötzlichen Aufmerksamkeit sah Lorenz fragend von Vasili zu mir.

„In dem Gebiet, das der Familie Lenevka gehört, werden angeblich immer wieder Babys entführt", erklärte ich Lorenz, „Niocovat Lenevka ist regelmäßig geschäftlich in Frankfurt. Das muss nichts heißen, aber ich habe das Gefühl, da könnte was dran sein."

Bea rutschte aufgeregt auf dem Sofa nach vorne und erzählte: „Diese Patientin, die in Russland im Urlaub war, hat kurz danach ihre Kinderwunsch-Behandlungen bei uns abgebrochen. Ein Jahr später kam sie zu mir in die Praxis mit einem bildhübschen Säugling. Das Baby hätte zu dem Zeitpunkt maximal drei Monate alt sein können. Ich bin Kinderärztin und habe selbst drei Kinder, mir kann man da nichts vormachen. Dieser Säugling war mindestens vier Monate alt!" Mein Herz begann zu klopfen. Hatte ich tatsächlich eine Spur?

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