September NE 226 - Kapitel 2

Als wir ihn am nächsten Morgen im Hotel besuchten, hatte Uwe sowohl geduscht als auch saubere Kleidung angezogen. Ich hatte Vasili ein Besprechungszimmer buchen lassen, in dem wir uns mit dem sichtlich angespannten Uwe zusammensetzten.

„Anastasia Petuchow also", sagte Uwe statt einer Begrüßung, „Ich habe es auf den Buchungsmeldungen des Hotels gesehen. Eure Geschichte wurde beim Widerstand heiß diskutiert."

„Hast du nun Informationen für mich, die mich dazu bewegen, dir ein Zugticket zu kaufen?", fragte ich.

Uwe wirkte angespannt, nickte aber. „Ich möchte zu meinen Großeltern nach Südtirol", verlangte er und ich versprach, ihm für die Dauer des Interviews das Zimmer inklusive Zimmerservice zu zahlen und ihm danach sofort sein Zugticket zu den Großeltern zu kaufen.

Als alles geklärt war, begann Uwe zu erzählen: „Wir engagieren uns alle im Widerstand. Meine Eltern, meine drei Schwestern und ich. Eines Tages schöpfte unser Grundbesitzer Verdacht und ließ unsere Wohnung unter einem fadenscheinigen Vorwand von der Polizei durchsuchen."

Dabei war ein Block mit handschriftlichen Notizen zu den Treffen des Widerstands gefunden worden. Die Sippe hatte sich nicht getraut, etwas in einer Datei zu speichern und das für die sicherere Variante gehalten. Mit der Hausdurchsuchung hatte keiner gerechnet. Uwe hatte alle Schuld auf sich genommen und das schwarze Schaf der Sippe gespielt. Er hatte so getan, als würde er gegen seine Eltern und Schwestern rebellieren, um sie aus der Schusslinie zu bekommen. Dann war er geflüchtet.

„Ich arbeite auf einem kleinen Flughafen, beim Bodenpersonal. Als die verwöhnte Tochter der Grundbesitzer-Familie zum Shoppen nach Frankfurt fliegen wollte, habe ich mich an meinen ehemaligen Arbeitsplatz geschlichen und im Privatflugzeug der Familie versteckt. So kam ich nach Frankfurt", berichtete Uwe.

Ich fühlte mich irgendwie ertappt. Zum Shoppen mal kurz in eine andere Stadt fliegen, so was hatte ich früher auch gemacht. Ob die Angestellten meiner Familie auch so über mich gelästert hatten? Uwe war zum Glück so im Redefluss, dass ihm mein innerer Aufruhr nicht aufzufallen schien.

„Nun bin ich zwar untergetaucht, aber wenn ich etwas bezahle, verrate ich damit meinen Aufenthaltsort", fuhr Uwe fort, „Sobald ich in Italien bin, wird mich niemand mehr behelligen. Ich habe ja nichts Illegales gemacht."

Ich interviewte Uwe insgesamt drei Tage lang. Nach und nach fasste er Vertrauen zu Vasili und mir und am dritten Tag verriet er mir auch die Namen seiner Grundbesitzerfamilie und Orte, um seine Geschichte zu untermauern. Dafür war ich dankbar, denn um einen seriösen Artikel zu verfassen konnte ich nicht einfach irgendwelche Behauptungen niederschreiben. Als investigative Journalistin brauchte ich eine verlässliche Quelle.

Ich hatte Uwe gebeten, mir zu erzählen, wie es zur Gründung einer Widerstandsbewegung gekommen war. Er berichtete, dass seine ganze Familie, also seine Eltern, seine drei Schwestern und er, in Bremen wohnten und für den Großgrundbesitzer Walthari Huckelriede arbeiteten.

In Norddeutschland gab es mehr Großgrundbesitzer als im Süden von Deutschland. Diese herrschten wie Könige auf ihren Ländereien. Durch ihren Reichtum hatten sie in ihren Regionen großen Einfluss. Mit diesen Familien wollte es sich niemand verscherzen. Die Familie Huckelriede war in Bremen und im Umland so mächtig geworden, dass selbst ärmere Grundbesitzer sich nicht mehr trauten, etwas gegen sie zu sagen.

Es hatte schon länger Gerüchte gegeben, dass Walthari Huckelriede jungen Mitarbeiterinnen nachstellen würde. Eines Tages hatte er Uwes Schwester bedrängt. Diese hatte den Vorfall bei der Polizei angezeigt. Doch wie bei den anderen betroffenen Frauen, hatte die Polizei die Vorwürfe abgetan und nicht weiter untersucht.

Außer der Aussage der Frauen hatte es keine Beweise gegeben, da nie jemand drittes anwesend gewesen war. Die Polizei tat die Anschuldigungen als Versuch ab, Geld zu erpressen. Die betroffenen Frauen und ihre Angehörigen hatten sich getroffen und beschlossen, sich gegen die Übermacht der Familie Huckelriede zu wehren.

Dies hatte den Großgrundbesitzern natürlich nicht gefallen und sie versuchten, die Grundlosen zum Schweigen zu bringen. Da die Betroffenen alle ihre Angestellten waren, saß die Familie Huckelriede, saßen die Großgrundbesitzer am längeren Hebel. Sie drohten mit schlechten Arbeitszeugnissen, falls jemand kündigen würde und jeder wusste, dass niemand im Einflussgebiet der Familie Huckelriede jemandem gegen deren Willen Arbeit geben würde.

Einige Mitstreiter waren bereits eingeknickt, um die gute Position nicht zu verlieren, um nicht umziehen und Heimat und Freunde zurücklassen zu müssen. Doch ein harter Kern traf sich weiterhin und beriet, wie man als Grundloseral zu seinem Recht kommen könnte.

Als ich von Uwe alle Informationen erhalten hatte, die ich für den Artikel brauchte, ließ ich ihn von Vasili zum Bahnhof bringen, wo er ihm ein Zugticket nach Südtirol löste. Uwe hatte uns die Adresse seiner Großeltern gegeben, so dass ich ihn notfalls auch später noch erreichen konnte. Doch alle Informationen, die die Mitglieder der Widerstandsbewegung verraten würden, würde ich selbstverständlich für mich behalten und nicht im Artikel veröffentlichen.

Ich verfasste den Artikel und reichte ihn bei einer großen Nachrichtenagentur in Hamburg ein, bei der ich das Gefühl hatte, dass meine Story zu dem passte, was diese sonst veröffentlichte. Nicht jede Agentur würde über einen Widerstand der Grundlosen berichten. Als Bild nahm ich ein Foto von Uwe, auf dem er nicht zu erkennen war, da Vasili es durch die Milchglasscheibe der Badezimmertür in seinem Hotelzimmer aufgenommen hatte.

Ich war euphorisch, als ich Mitte September die Nachricht bekam, dass die Nachrichtenagentur in Hamburg meinen Artikel kaufen wollte und er im Grundbesitzeral, dem größten deutschen Magazin für Grundbesitzer, erscheinen würde. Die Agentur hatte sich dazu entschieden, eigene Bilder in Auftrag geben zu lassen, aber das trübte meine Stimmung keineswegs. Tief im Inneren tat es mir gut, dass Vasilis Bild nicht genommen worden war. Schließlich hatte er meine Quelle aufgetrieben und somit war der Artikel genau genommen nicht nur mein Verdienst.

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