September NE 226 - Kapitel 1
Anfang September wohnten wir noch immer in unserer Suite in Frankfurt. Meinen blöden Plan, etwas über entführte Babys aufzudecken, hatte ich aufgegeben. Journalisten, die irgendwelche Kriminalfälle lösten, gab es vermutlich nur in Romanen. Ich war froh, dass ich von meinen Anteilen am Familienunternehmen komfortabel leben konnte, mir also nie Sorgen um Geld würde machen müssen, doch es kratze an meinem Ego, dass ich als Journalistin kein Geld verdiente.
Ich hatte versucht, wenigstens einen kleinen Auftrag zu bekommen, doch eine Grundbesitzerin engagierte man nur für größere Reportagen. Die Bekanntheit durch meine Abschlussarbeit reichte jedoch noch nicht aus, um attraktive Aufträge zu bekommen. Ich musste also auf Biegen und Brechen einen eigenen Artikel schreiben, der gut genug war, dass er von einer Nachrichtenagentur angenommen wurde.
Ohne Idee für einen Artikel blieb mir im Moment nur das Warten auf die Testergebnisse von Lorenz. Er hatte mich gleich vorgewarnt, dass die Gentests der Neugeborenen Vorrang hatten und wir deshalb auf Vasilis Testergebnisse außergewöhnlich lang würden warten müssen. Ich war nur noch frustriert, da es selbst bei diesem Punkt nicht weiter ging.
Vasili fotografierte fleißig und konnte auch immer mal wieder eines seiner Bilder verkaufen. Immerhin unternahmen wir zum Fotografieren auch Ausflüge ins Umland von Frankfurt, so dass uns beiden nicht die Decke auf den Kopf fiel.
Als wir wie schon so oft beim Abendessen in der Suite saßen, dachte ich trübsinnig darüber nach, dass der Druck, die Idee für einen genialen Artikel haben zu müssen, bei mir bewirkte, dass ich gar keine Ideen mehr hatte. Alles was mir in den letzten Wochen in den Sinn gekommen war, hatte ich gleich wieder verworfen, weil es einfach nicht ausgefallen genug war.
Im Studium hatte ich noch das Gefühl gehabt, das alles locker zu schaffen. Meine Abschlussarbeit hatte mir eine gewisse Berühmtheit verschafft. Doch die Geschichte war meine eigene gewesen. Eine solche Story in der Welt da draußen zu finden war etwas ganz anderes. Mir fehlten einfach die Connections.
„Ich habe da vielleicht Idee für Artikel", riss mich Vasili aus meinen Gedanken. Hoffnungsvoll hob ich den Kopf. Er fuhr fort: „Ich bin vor paar Tagen mit jungen Mann ins Gespräch gekommen. Es gibt doch seit längerem das Gerücht, dass sich in Norddeutschland eine Widerstandsgruppe gebildet hat? Ich glaube, er weiß etwas darüber."
Sofort war ich Feuer und Flamme. „Wo ist er? Kann ich ihn gleich treffen? Warum hast du ihn nicht sofort mitgebracht?", löcherte ich Vasili mit Fragen, ohne ihm in meiner Aufregung Zeit zum Antworten zu lassen. Doch er wartete einfach geduldig, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
„Er hat mich angesprochen, weil er Arbeit suchte. Er hat gehofft, dass ich als Fotograf Unterstützung gebrauchen könnte", erzählte er, „Eigentlich könnte er von seinem Grundgehalt leben. Er spricht ein recht passables Esperanto, damit hätte er gute Chancen, offizielle Arbeitsstelle zu bekommen. Wenn beides für ihn keine Option ist, dann ist er entweder auf Flucht vor Polizei oder er will nicht, dass seine Grundbesitzer erfahren, wo er ist."
„Na dann hoffen wir, dass es kein Krimineller ist."
„So ein bisschen Nervenkitzel im Berufsalltag ist doch ganz nett. Ich habe ihn bereits vor drei Tagen eingestellt. Nicht offiziell, versteht sich. Für drei Mahlzeiten am Tag trägt er mir die Fotoausrüstung hinterher."
„Drei Tage! Warum erzählst du mir erst jetzt davon?" Es hielt mich nicht mehr auf meinem Stuhl. Doch als ich sah, wie seine Augen amüsiert aufblitzten, setzte ich mich schnell wieder.
Er sagte: „Ich konnte ihn ja schlecht schon am ersten Tag ausquetschen. Ich wollte erst mal sein Vertrauen gewinnen und warten, ob sich mein Verdacht bestätigt. Ich hätte ja auch falsch liegen können und dann wärst du mir hier im Hotelzimmer völlig umsonst vor Aufregung durchgedreht." Ich schwankte zwischen beleidigt sein und unbedingt mehr erfahren wollen. Meine Neugierde siegte jedoch schnell.
Vasili erzählte weiter: „Heute konnte ich ihm entlocken, dass er so lange für mich arbeiten möchte, bis ich ein Zugticket für ihn kaufe. Da sein Konto sowie die Konten seiner Eltern und Schwestern alle über seine Grundbesitzer-Familie laufen, kann er das Ticket nicht selbst kaufen, ohne dass diese erfährt, wo er ist. Ich habe ihm erzählt, dass ich jemanden kenne der ihm das Ticket sofort kauft. Ich habe ihm aber nicht gesagt, um was es genau geht. Du darfst ruhig auch noch was arbeiten."
„Kann ich ihn treffen?" Ich rutschte auf meinem Stuhl nach vorne. Den halbleeren Teller vor mir hatte ich längst vergessen.
„Ich habe für morgen ein Treffen zum Mittagessen ausgemacht", bestätigte er zufrieden.
Ich wäre am liebsten gleich losgestürmt. Endlich mal ein Hinweis, der zu einer genialen Story führen könnte. „Ich kann es kaum erwarten!", rief ich enthusiastisch.
Er schüttelte den Kopf. „Erstens solltest du dir genau überlegen, was du sagst, sonst rennt er davon", erklärte er, „Zweitens wird er, wenn er wirklich was mit dem Widerstand zu tun hat, auf Grundbesitzerinnen nicht gut zu sprechen sein." Er richtete seinen Blick vielsagend auf mein hübsches Kleid.
Entgeistert sah ich an mir herunter. Erwartete er von mir, dass ich in schlabbriger Grundlosen-Kleidung durch Frankfurt laufe? Mein erster Impuls war, nicht mitzukommen. Doch das wäre töricht. „Für eine gute Story." Ich seufzte ergeben und stand auf, um mir die passende Kleidung rauszulegen.
✩
Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen. Der Himmel war nun wolkenverhangen, es war kühl und windig. Ich war froh, als wir in der Offenen Kantine ankamen, in der sich Vasili mit seinem neuen Assistenten verabredet hatte.
Das Essen für die Angestellten war Sache der Grundbesitzer-Familien. Konnte diese das Mittagessen nicht bereitstellen, weil die Angestellten zu weit entfernt arbeiteten, konnten diese in eine Offene Kantine gehen. Dort bekam man auch etwas zu Essen, wenn man auf Reisen war.
Es war bereits neun Uhr und es waren nur noch wenige Menschen in der Kantine. Das war von uns auch beabsichtigt, denn hier kamen viele Grundlose her, die in den Läden für Grundbesitzer arbeiteten. Dementsprechend verstanden viele Esperanto und wir wollten uns ungestört unterhalten. Vasili holte zwei Tassen Tee für uns und setzte sich so an den Tisch, dass er den Eingang im Blick haben konnte.
„Er heißt Uwe", erinnerte mich Vasili und wischte nervös nicht vorhandene Krümel vom Tisch. „Er ist da", flüsterte er kurze Zeit später und stand auf. Ich sah ihm hinterher, wie er auf einen ungefähr 19-jähringen Mann zuging und ihn zur Essensausgabe begleitete. Kurze Zeit später kamen sie mit einem Tablett zurück, auf dem genug Frühstück für uns alle aufgehäuft war.
Doch ich wusste: das war alles nur für Uwe. Er schmierte sich stets genug Brötchen für den Rest des Tages, bis er sich am nächsten Morgen wieder mit Vasili gemeinsam zum Frühstück traf. „Das ist Anna, von der ich dir erzählt habe", stellte mich Vasili vor und Uwe nickte mir abschätzend und etwas schüchtern zu. Dann nahm er zwei Vitaminriegel und eine Flasche Saft vom Tablett und steckte alles in seine mitgebrachte Stofftasche.
Er trug unauffällige Kleidung, die aber nicht mehr ganz sauber war und seine braunen Haare gehörten dringend gekämmt und geschnitten. „Du hast Arbeit für mich, mit der ich so viel verdienen kann, dass ich schon in wenigen Tagen mein Zugticket bekomme?", fragte er und begann, sich das erste Brötchen mit Margarine zu bestreichen.
Meine nächsten Worte würden entscheidend sein. Ich ballte nervös meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten, ließ mir aber möglichst nichts anmerken. „Ich würde gerne etwas über die Widerstandsbewegung wissen", sagte ich leise und beobachtete Uwes Reaktion. Er schien kurz zwischen Essen und Flucht hin und her gerissen zu sein. Er entschied sich für das Essen und belegte das Brötchen mit Wurst.
„Warum sollte ich etwas über den Widerstand wissen?", fragte er und konzentrierte sich weiter auf das Brötchen, „Selbst wenn. Niemand im Widerstand würde diesen verraten." Dann biss er herzhaft hinein und begann zu kauen, während er mich wieder abschätzend ansah.
„Mit Verrat hat das nichts zu tun. Ich möchte einen Artikel im Sinne des Widerstandes schreiben. Ich bin freie Journalistin."
„Es gibt keine freien Journalisten unter den Grundlosen, für wie dumm haltet ihr mich?", fragte Uwe und schmierte sich ungerührt ein zweites Brötchen.
„Ich bin tatsächlich freie Journalistin. Ich habe nie behauptet, Grundlose zu sein." Uwe fiel das Brötchen aus der Hand und er sah gehetzt zwischen Vasili und mir hin und her.
Vasili hob beschwichtigend die Hand. „Du kannst ihr vertrauen. Sieh es positiv: Sie ist unabhängig. Wir sind aus Russland. Mit den Grundbesitzern im Norden von Deutschland haben wir nichts zu schaffen."
Uwe schien noch immer nicht überzeugt, beruhigte sich aber wieder etwas und hörte mir weiter zu. „Ich möchte die Aufmerksamkeit der Grundbesitzer auf die Gründe lenken, warum sich unter den Grundlosen ein Widerstand bildet. Ich werde in meinem Artikel keine Namen und keine Orte veröffentlichen. Es geht mir nur darum, aufzuzeigen, warum nicht alle mit der Gesellschaft einverstanden sind, so wie sie jetzt ist", versuchte ich ihn zu überzeugen.
Uwe wendete sich Vasili zu. „Du vertraust ihr?"
Dieser nickte. „Ich habe mit ihr zusammen an gleichen Uni studiert und arbeite als Fotograf für sie", sagte er ruhig.
Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass Uwe von dieser Geschichte gehört hatte. „Bekomme ich etwas Bedenkzeit?", fragte er.
Ich nickte. Das war doch ganz gut gelaufen. „Wir können uns morgen wieder zum Frühstücken treffen. Wo übernachtest du eigentlich?" Ich war einer Intuition gefolgt. Uwe war die Frage sichtlich unangenehm. Ich fuhr fort: „Wie wäre es, wenn Vasili für dich ein Hotelzimmer auf seinen Namen mietet? Eines mit eigenem Bad, Wäscheservice und Zimmerservice?"
„Damit ihr wisst, wo ich bin?"
Vasili antwortete: „Wenn wir dich hätten verraten wollten, hätte ich das schon vor drei Tagen machen können." Vermutlich hatten wir es dem schlechten Wetter zu verdanken, dass sich Uwe recht schnell dazu überreden ließ, das Angebot mit dem Zimmer anzunehmen.
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