September NE 224 - Kapitel 4
Ich heiße euch herzlich willkommen an der Internationalen Universität für Journalismus und Fotografie. Bitte übertreibt das Feiern nicht, wir geben keine zweite Chance. Wer einen Kurs trotz Nachprüfung nicht besteht, muss uns verlassen. Dafür haben Absolventen unserer Universität einen exzellenten Ruf und damit gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Strengt euch an, es geht um eure Zukunft!
Die Stimme von Lea, der Rektorin der Universität, hallte durch die Aula, in der alle Erstsemester versammelt waren und brav zuhörten. Ich verzog verächtlich den Mund. Die hier ausgebildeten Journalisten würden für einen Apfel und ein Ei arbeiten und genau das gleiche leisten, was ein Grundbesitzer als Journalist für ein kleines Vermögen leistete. Waren die Grundlosen tatsächlich wie eine Herde Schafe, wie sie die Grundbesitzer gerne sahen? Warum hörte man keine Kritik? Warum wehrte sich niemand gegen diese Missstände?
Endlich war die Rede der Rektorin vorüber und wir wurden in Gruppen eingeteilt. Studenten aus dem zweiten Jahr führten uns über das Gelände der Universität und zeigten uns alles, was für uns wichtig war. Der Campus bestand aus einem wild zusammengewürfelten Haufen aus alten Gemäuern, modernen Gebäuden und den zwei großen Wohnblocks.
Von dem Park war ich sofort angetan. Es gab dort einen kleinen See und eine ausgedehnte Liegewiese mit einzelnen, großen Bäumen. Hier war mal kein Windrad, keine Solar- oder Photovoltaikanlage zu sehen. Nur die Natur. Da der Park ständig Fotomotive liefern musste, waren auch Kunstwerke und allerhand Merkwürdiges abgestellt worden. Auf einer Wiese stand ein ausrangierten Ernteroboter, in einem Blumenbeet ein Stuhl. Der Hauptteil des Rundgangs konzentrierte sich aber auf die verschiedenen Hörsäle, in denen unsere Vorlesungen stattfinden würden.
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Besonders gespannt war ich auf den Deutschunterricht. Als Internationale Universität war es Pflicht, einen solchen Kurs für Studenten aus anderen Ländern anzubieten, um Sprache und Kultur des Gastlandes näher zu bringen. Also ging ich zur ersten Deutsch-Vorlesung extra früh zum Hörsaal und setzte mich schon mal in die zweite Reihe. Erste Reihe wäre dann doch etwas zu strebermäßig rübergekommen. Doch ich freute mich insgeheim darauf, meine vierte Sprache zu lernen. Das war auch für Grundbesitzer eher ungewöhnlich. Neben Esperanto und meiner Muttersprache Russisch hatte ich in der Schule Englisch belegt. Doch nun auch noch Deutsch zu lernen, erfüllte mich mit Stolz.
Als eine Studentin den Hörsaal betrat, musterte ich sie interessiert. Sie war selbst für eine Grundlose recht klein geraten und hatte fast schwarze, leicht wellige, schulterlange Haare. Sie lächelte mir schüchtern zu und setzte sich in die erste Reihe.
Die Zeit verging, es kamen aber weder weitere Studenten herein, noch ließ sich der Dozent blicken. Als die akademische Viertelstunde vorbei war, stand ich auf und setzte mich neben das Mädchen nach vorne.
„Ich bin Anna", stellte ich mich vor. Sie sagte etwas, das wir Tschusi klang und unmöglich ihr Name sein konnte. Doch im Moment interessierte mich sowieso etwas anderes viel mehr: „Hier findet doch die Deutsch-Vorlesung statt? Wo sind denn alle?", fragte ich sie auf Esperanto.
Zu meiner großen Erleichterung antwortete sie mir in der gleichen Sprache, zwar mit einem seltsamen Akzent, aber flüssig. „Wo der Dozent bleibt weiß ich auch nicht, aber wir sind nur zu zweit in diesem Kurs." Ich hob überrascht die Augenbrauen. „Journalismus ist einer der wenigen Studiengänge, in dem wir die Weltsprache Esperanto beigebracht bekommen. Da also die Studenten aus dem Ausland eh schon eine neue Sprache lernen müssen, ist der Deutsch-Kurs nie gut besucht", sagte sie leise und senkte den Blick. „Das steht alles im Intranet, bei der Geschichte der Uni. Und ich habe vorab mit dem Dozenten gesprochen."
Am liebsten hätte ich wieder meine Augenbrauen gehoben, verkniff es mir aber. „Ich habe noch nicht mal darüber nachgedacht, dass Muttersprachler den Deutschkurs nicht besuchen."
Als sich auch weiterhin niemand blicken ließ, erzählte ich ihr meine zurechtgelegte Geschichte mit den Verwalter-Eltern in Petersburg.
„Meine Mutter ist ebenfalls Verwalterin", sagte sie mit vor Freude leuchtenden Augen, „Meine Eltern arbeiten für eine Grundbesitzerfamilie in Mailand. Meine Mutter kann Esperanto und hat es mir beigebracht. So kann ich nun freiwillig das Fach Deutsch belegen", sagte sie mir stolz.
Wenigstens habe ich sie ein bisschen aus ihrem Schneckenhaus herausholen können, dachte ich zufrieden.
Dann betrat der Dozent den Hörsaal und der Kurs begann. Doch auch nachdem ich den Namen der kleinen Italienerin mehrfach gehört hatte, ich tat mich damit einfach schwer. So taufte ich sie für mich kurzerhand Mauerblümchen. Ich hatte im Deutschbuch nach hinten geblättert und war an der amüsanten Beschreibung dieses Wortes hängen geblieben. Die etwas schüchterne, blasse und zarte Italienerin schien mir perfekt zu dieser Bezeichnung zu passen.
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Die Vorlesungen fanden alle auf Deutsch und auf Esperanto statt, so dass alle Studenten den Ausführungen der Dozenten folgen konnten. Die Prüfungen konnten auch alle auf Deutsch oder Esperanto abgelegt werden. Neben den Prüfungen nach jedem Unterrichtsblock musste auch in jedem Fach und jedem Semester ein Projekt ausgearbeitet und am Ende abgeben werden.
Nach der grauen Maus, meiner Zimmernachbarin, und Mauerblümchen, meiner Mitstreiterin in Deutsch, lernte ich zum Glück noch ein paar aufgewecktere Studenten aus meinem Semester kennen. Vor allem auf den zahlreichen Studentenpartys konnte ich meinen Bekanntenkreis erweitern. Da war zum Beispiel Marie, eine brünette Schönheit, deren Eltern beide Journalisten waren und die nach kurzer Zeit in unserem Semester die beliebteste Studentin geworden war. Sie war jemand, den ich mir normalerweise als Freundin ausgesucht hätte. Doch ich hatte mir fest vorgenommen, keine Freundschaften zu schließen und ging ihr deshalb eher aus dem Weg.
Dass ich mich mit meinen Kommilitonen nicht gut verständigen konnte, spielte mir eigentlich in die Karten. So konnte ich mich bei der ganzen Grüppchenbildung heraushalten. Ich achtete stets darauf, dass es lockere Bekanntschaften blieben. Ich traf mich gerne zu Lerngruppen oder arbeitete im Team an einem gemeinsamen Projekt. Jedoch vermied ich es, bei gemeinsamen Ausflügen in der Freizeit dabei zu sein. Ich machte lieber mein eigenes Ding. So musste ich auch nicht auf allzu private Fragen über meine Vergangenheit antworten. Überhaupt hängte ich mich sehr in mein Studium rein und verbrachte viel Zeit mit Lernen.
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Einen Grundlosen wie einen ebenbürtigen Menschen zu behandeln ist dann doch nicht so einfach, wie einen Schulaufsatz darüber zu schreiben. Nicht wahr, Anastasia? Aber vielleicht lernt sie es ja noch.
Deine Sonja
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