September NE 224 - Kapitel 1
Ein halbes Jahr später war es soweit: Ich hatte die Zusage einer renommierten Universität für Grundlose in Deutschland erhalten, an der Journalismus und Fotografie unterrichtet wurde. Und das Wichtigste: es gab alle Kurse auch auf Esperanto. Schließlich konnte ich kein Deutsch.
Aus einem Impuls heraus hätte ich gerne meine Freude geteilt und sofort jemandem davon erzählt. Doch mein Bruder war bei einem Geschäftstermin und ihm währenddessen diese Neuigkeiten per Telefon vorzusetzen war nicht ratsam. Wehmütig dachte ich daran, dass ich so etwas früher sofort meiner besten Freundin Feodora berichtet hätte. Doch diese hatte sich gleich nach unserem Schulabschluss verlobt und war zu ihrem Zukünftigen nach Portugal gezogen. Seitdem drehte sich bei ihr alles nur noch um die Planung von Hochzeit und Schwangerschaft.
Feodoras Fruchtbarkeitswerte waren zwar besser als meine, aber noch immer problematisch. Deshalb sprach sie nur noch von optimaler Ernährung und was sie bereits machte oder in Erwägung zog, um ihren Körper auf die Schwangerschaft einzustimmen. Damit konnte ich nichts anfangen und so hatten wir uns auseinandergelebt.
Die Freundeal* in der Gruppe, mit denen ich mich regelmäßig zum Feiern traf, waren nett und lustig, aber so etwas wie ein Studium an einer Universität für Grundlose konnte ich mit ihnen nicht besprechen. Es ging uns um Spaß und blieb stets oberflächlich. Wer es verbindlich und ernst wollte, suchte sich jemanden, um eine Familie zu gründen.
* m / w / d - Für mehr Gleichberechtigung im Jahre NE 14 eingeführte Form.
So machte ich mich gleich mit Feuereifer ans Packen. Die Grundlosen-Kleidung hatte ich bereits besorgt: Ich hatte sie kurzerhand aus unserer Wäscherei mitgehen lassen. Da ich nun wusste, wohin die Reise ging, konnte ich endgültig entscheiden, was ich brauchen würde. Bald darauf standen meine beiden gepackten Koffer bereit.
✩
„Ich werde trotz Vaters Verbot Journalismus studieren", eröffnete ich freudestrahlend während des Dinners im Speisesaal. Mein Bruder Aleksandr hob nur den Kopf, um mich fragend anzusehen, sagte aber nichts.
Meine Mutter legte sofort los: „Das hast du jetzt aber wirklich oft genug mit uns diskutiert. Wladislaw hat es dir verboten und daran solltest du dich einfach halten. Du weißt genau, dass er für eine Woche auf Geschäftsreise ist. Dein Bruder und ich können dir das jetzt nicht plötzlich erlauben, über den Kopf von Wladislaw hinweg. Was soll das? Warum fängst du schon wieder damit an?"
Natürlich wusste ich, dass mein Vater, der gestern Nachmittag nach China abgereist war, für eine Woche nicht zuhause sein würde. Das war auch der Grund, warum ich den beiden erst jetzt davon erzählte. Morgen war bereits der große Tag, an dem ich aufbrechen musste, um rechtzeitig zum Semesterbeginn an der Universität zu sein. Da kam es mir gelegen, dass mein Vater weit weg war.
„Ich weiß, dass Vater nie zustimmen wird und dass er toben würde, wenn er hier wäre. Aber das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem studieren kann. Ich will mich nicht heimlich davonstehlen. Schließlich werde ich euch zwei Jahre lang nicht sehen", erklärte ich ruhig. „Vater wird mich sicher nicht auf Besuch kommen lassen", ergänzte ich und spürte einen Kloß im Hals.
Meine Mutter liebte meinen Vater. Das war ja auch eigentlich ganz toll, aber dass sie ihn gleich so anhimmeln musste und seine Entscheidungen stets widerstandslos akzeptierte, ging mir gegen den Strich. Ich würde niemals aufhören, mir eine eigene Meinung zu bilden!
„Du wirst mich jetzt aber nicht in meinem Zimmer einsperren, oder?", fragte ich und sah meine Mutter beunruhigt an. Wer wusste schon, wie weit ihre Loyalität zu meinem Vater ging?
Doch sie schüttelte nur langsam den Kopf. „Du hattest schon immer den Dickkopf deines Vaters. Ich werde dich gehen lassen. Vielleicht musst du es auf die harte Tour lernen. Wenn dir das Geld ausgeht, wirst du wieder zurückkommen. Ich verabschiede mich also nur für ein paar Monate von dir", sagte sie und lächelte mich traurig an.
Mein Bruder hatte fertig gegessen, legte das Besteck akkurat in der 20 nach 4 Stellung auf seinen Teller und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
Ich sagte: „Wenn Vater zurückkommt, bin ich weg. Ich bitte euch nur darum, ihm bis dahin nichts zu verraten." Beide nickten ernst.
„Wir werden so tun, als hätte es dieses Gespräch nie gegeben und du wärst einfach heimlich abgereist. Schließlich wollen wir den Zorn von Vater auch nicht auf uns ziehen, wenn er es herausfindet", sagte Aleksandr und grinste schief.
Meine Mutter nickte bestätigend. Ab und zu verheimlichte sie tatsächlich etwas gegenüber ihrem Ehemann, um nicht unverschuldet seinen Zorn abzubekommen.
Ich schob ebenfalls meinen Teller von mir und stand auf, um meine Mutter zu umarmen. Sie drückte mich fest an sich und mir kamen fast die Tränen. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber sie war meine Mutter und ich liebte sie.
„Ich komm nachher noch zu dir aufs Zimmer", hörte ich meinen Bruder hinter mir sagen, ehe er aus dem Raum ging. Vermutlich wollte er mir einen ruhigen Abschied von meiner Mutter gönnen. Oder solche Gefühlsduselei war ihm zu viel.
„Pass auf dich auf, meine Kleine", nuschelte meine Mutter mit belegter Stimme in mein Ohr.
„Mach dir keine Sorgen, Mutter." Ich hoffte, überzeugend zu klingen. „Ich muss das einfach tun. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich diese Chance nicht ergreifen würde."
Als kurze Zeit später die Bediensteten den Speisesaal betraten, um abzuräumen, ließen wir uns wieder los. Wir nickten uns nochmal zu, ehe ich in den Gang hinaustrat, um auf mein Zimmer zu gehen.
Mir wurde bewusst, dass das der Abschied von meiner Mutter für ganze zwei Jahre gewesen war und ich spürte wieder die Tränen in mir aufsteigen. Die Bediensteten durften mich unter keinen Umständen heulen sehen! Ich beschleunigte meine Schritte. Ein kleiner Wischroboter kreuzte meinen Weg, zu seinem Glück verschwand er aber zügig in einem der angrenzenden Zimmer, um dort seine Arbeit zu verrichten.
Für das Internat war ich auch über Monate nicht zuhause gewesen, doch in der Schulzeit hatte es immer wieder Ferien gegeben. So lang wegzugehen nahm mich jetzt doch mehr mit, als ich gedacht hätte.
✩
Als ich in meinem Zimmer angekommen war, zog ich erst einmal die Schuhe aus und setzte mich auf die Bettkante. Ich stützte die Ellenbogen auf meine Knie und legte den Kopf in meine Hände. Ich werde doch jetzt nicht noch kalte Füße bekommen?
Ich wünschte mir schon so lange, Journalistin zu werden! Die Welt zu bereisen und dort die fremde Kultur und die Menschen kennen zu lernen. Auserlesene Veranstaltungen und Museen besuchen und einen schicken Presseausweis zu haben. Und dann über die Erlebnisse anderen Menschen berichten zu können. Ich wäre der Ehrengast und das zur Abwechslung mal nicht wegen meinem berühmten Familiennamen, sondern wegen dem, was ich geleistet habe. Weil ich eine gute Journalistin bin!
Ich fuhr mir durch die Haare und blieb prompt in den Klammern meiner Hochsteckfrisur hängen. Weiter in Gedanken versunken löste ich mein Haar und flocht die langen, feuerroten Strähnen zu einem Zopf.
Da erklang das Tür-Signal und der Morsecode für A. Mein Bruder. Ich rief „Herein" und die Schiebetür öffnete sich. Er schlenderte zu mir herüber und setzte sich neben mich auf die Bettkante. Zum Glück hatte ich mein kleines Tief überwunden und sah ihn gefasst an.
Ich legte meinen Flechtzopf nach vorne und drehte ihm demonstrativ meinen Rücken zu. „Wenn du schon mal da bist, kannst du dich wenigsten nützlich machen." Er begann, mir die Haken und Ösen an der Rückseite meines Kleides zu öffnen, für die ich sonst eine Bedienstete hätte rufen müssen. Ich hielt das nun geöffnete Kleid mit beiden Händen fest und verschwand in mein Ankleidezimmer, wo ich es auszog und über einen Ständer drapierte, damit es nicht knitterte.
Als ich in meinem Schlafanzug zurück in mein Schlafzimmer kam, kniete Aleksandr vor meinem Bett und schaute darunter.
„Was soll das werden?", grummelte ich und setzte mich wieder auf die Bettkante.
Aleksandrs Kopf tauchte auf und er grinste mich breit an. „In fünf Tagen ist Semesterbeginn. Du wirst hoffentlich so schlau gewesen sein, dir eine Universität außerhalb von Russland zu suchen, was bedeutet, dass du erst mal noch eine längere Anreise vor dir hast. Ich hatte recht: unter deinem Bett liegen zwei gepackte Koffer." Er grinste mich weiter triumphierend an, schlüpfte aus seinen Schuhen und setzte sich im Schneidersitz mitten auf mein Bett.
Ich tat es ihm gleich und es war ein bisschen wieder wie damals, als wir noch Kinder waren. „Morgen geht es los", bestätigte ich.
„Leider kann ich dich nicht zum Flughafen begleiten, ich muss gleich am frühen Morgen zu einem Termin aufbrechen", sagte Aleksandr, „Mutter ist ab 8 Uhr bei einer Freundin, du hättest dann freie Bahn. Immerhin haben wir dadurch beide ein Alibi." Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. Dann wurde Aleksandr wieder ernst. „Mutter glaubt fest daran, dass du bald wieder reumütig zurückkommst. Wie stellst du dir das vor? Ich würde dir gerne Geld überweisen, aber da wir beide Unterkonten unseres Familienkontos haben, würde Vater das sofort mitbekommen." Er sah mich besorgt an.
„Ich habe natürlich einen Plan", sagte ich großspurig und genoss es, meinem großen Bruder mal was erklären zu können, „Ich werde an einer renommierten Universität im Ausland studieren. Als Grundlose."
Mein Bruder öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber wieder zu. Doch dann lachte er. „Du verarschst mich doch!", rief er aus, „Du hättest mich fast gehabt. Aber nicht mit mir. Das wäre selbst für dich zu verrückt."
Ich wollte schon protestieren, dachte mir dann aber, dass es eigentlich egal war.
„Du willst mir keine Details sagen, das verstehe ich", sagte mein Bruder.
„Damit du unter Folter nichts ausplaudern kannst." Ich lachte übermütig. Mir war klar, dass er ebenfalls an die Kreuzverhöre unseres Vaters dachte, in denen ermittelt worden war, wer von uns beiden etwas angestellt hatte.
Mein Bruder nickte lächelnd und stand von meinem Bett auf. Als er die Arme ausbreitete, stand ich ebenfalls auf. Er zog er mich in eine feste Umarmung und klopfte mir kumpelhaft auf den Rücken, so dass mir kurz die Luft wegblieb. Er wünschte mir viel Glück und verließ mein Zimmer. Ich kuschelte mich in mein Bett und ging zum wiederholten Male in Gedanken die Liste durch, ob ich noch etwas vergessen hatte, einzupacken.
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