Oktober NE 226 - Kapitel 3

Leider waren die Vorbereitungen noch immer nicht abgeschlossen, denn wir wollten uns auf keinen Fall ins Haus schleichen, solange jemand von der Familie Riederwald anwesend war. Also mussten wir notgedrungen herausfinden, wann sie abends nicht zuhause waren, vorhersagbar nicht zuhause. Blöderweise schienen sie absolut jeden Abend daheim zu verbringen.

Lorenz hatte uns sein Auto zur Verfügung gestellt. Er besaß ein eigenes, unauffällig dunkelblau lackiertes autonomes Fahrzeug. Das war außergewöhnlich, denn wer sich ein eigenes Fahrzeug leisten konnte, ließ es in einer auffälligen Farbe lackieren, um damit aus der Masse der Taxis herauszustechen. Doch Lorenz und Bea lebten in allem möglichst unauffällig. Was uns nun zugutekam.

Es wurde zur Gewohnheit, dass Vasili und ich uns einzeln oder gemeinsam bei einsetzender Dunkelheit am Haus der Familie Riederwald vorbeifahren ließen. Ab und zu spazierten wir auch einzeln oder gemeinsam an der Vorder- oder der Rückseite des Hauses vorbei. Doch es ergab jeden Abend das gleiche Bild: Herr Riederwald kam von der Arbeit nach Hause, es wurde zu Abend gegessen und danach verließen sie das Haus nicht mehr.

„Du hast keine Ahnung wie es ist, ein Baby zu haben", stellte Vasili amüsiert fest, als ich mich eines Abends frustriert darüber ausließ. „Selbst Grundbesitzer gehen nicht mehr jeden Abend feiern, sobald sie Nachwuchs haben", erklärte er mir selbstgefällig. In seiner Sippe gab es einige Kleinkinder und er fühlte sich mir überlegen. Nun, er hatte recht.

Wir weiteten unsere Beobachtungen auf den Tag aus und ließen das Auto von Lorenz einen ganzen Tag lang an der Straße parken, so dass Vasili über sein Teleobjektiv den Eingang beobachten konnte. Der Vater ging arbeiten, doch die Mutter blieb tagsüber meistens zuhause. Und wenn sie mal aus dem Haus ging, dann völlig zufällig und wir konnten auch nicht abschätzen, wie lange sie wegbleiben würde. Mal blieb sie zwei Stunden weg und kam mit Einkäufen zurück, mal ging sie nur zehn Minuten spazieren. Dabei war sie immer allein mit dem Baby unterwegs.

„Sie haben nicht mal eine Kinderpflegekraft eingestellt. Die meisten Grundbesitzer-Familien stellen zwei Pflegekräfte ein. Ganz zu schweigen von Personal wie Haushälteral, Reinigungskräfte und was ihr sonst noch so braucht", sagte Vasili, „Aber ich sehe hier nie jemand anderen ein und aus gehen. Nur der Vater, die Mutter und das Baby."

Ich nickte. „Keine Bediensteten, keine Freunde. Die haben ganz sicher etwas zu verbergen. Offensichtlich haben sie Angst, dass jemand etwas herausfinden könnte, wenn er so eng mit der Familie zu tun hat." In meinen Augen bestätigte sich meine Theorie immer mehr, dass das Baby nicht das leibliche Kind war.

„Sie kommt zurück", murmelte er und machte ein paar Aufnahmen.

Ich holte den Rechner und sah sie mir gleich an. „Einkäufe." Ich seufzte gelangweilt.

„Ja, aber siehst du die Packung, die oben drauf liegt?"

Ich betrachtete das Bild genauer. Die Mutter war bereits vom Gehweg auf den Kiesweg zur Haustür abgebogen. Der Kinderwagen, der hinter ihr herfuhr, bog gerade vom Gehweg ab. Im Netz unter der Babyschale lagen Einkäufe. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.

„Die Packung ganz vorne", sagte er ungeduldig, „Das ist Pre-Milch. Das bedeutet, sie stillt nicht. Wenn es ihr leibliches Kind wäre, würde sie doch stillen! Selbst bei Grundlosen tut man alles dafür, damit das Stillen klappt, weil es das Beste für das Kind ist."

Ich hatte wirklich keine Ahnung von Babys. Wie denn auch? Grundbesitzer bekamen nur wenige Kinder und diese waren so wohlbehütet, dass man sie nur aus der Ferne bewundern konnte. In meiner Familie war ich die Jüngste. Vor dem Besuch in Vasilis Dorf hatte ich noch nie ein Baby auf dem Arm gehabt. Unter normalen Umständen war es unter der Würde von Grundbesitzeral, sich mit dem Nachwuchs von Grundlosen abzugeben. Bei Familie Riederwald erhärtete sich immer mehr der Verdacht, dass sie es mit der Missachtung dieser gesellschaftlichen Norm etwas übertrieben hatten.

„Ich kann so eine Story nicht aufgrund einer Reihe von Indizien schreiben. Ich brauche einen Beweis", erinnerte ich ihn.

Als nichts weiter geschah, als dass sich der Vater bei Anbruch der Dunkelheit von einem Taxi vor der Haustür absetzen ließ, kehrten wir wieder in unsere Suite zurück. Eine Woche später hatten wir es aufgegeben, das Haus weiter zu beobachten. Wir hatten auch nur solange durchgehalten, weil uns einfach nichts Besseres eingefallen war. Denn ich glaubte nicht mehr daran, dass wir noch weitere Hinweise finden würden, geschweige denn eine Zeit, in der mal niemand zuhause war. Die Familie lebte absolut zurückgezogen. So ein Pech aber auch!

Eines Nachmittags Ende Oktober klingelte mein Niki zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. „Ich hoffe, es ist wichtig", grummelte ich und löste mich widerwillig aus Vasilis Umarmung, um aus dem Bett zu steigen. „Hallo Lorenz", begrüßte ich ihn, nachdem ich abgenommen hatte und ging schnell aus dem Schlafzimmer. Es reichte, dass ich nackt mit ihm telefonierte, da wollte ich dabei wenigstens nicht auch noch im Schlafzimmer stehen.

„Bea hat mir gerade mitgeteilt, dass Frau Riederwald einen Termin bei ihr ausgemacht hat. Heute um 15 Uhr. Der Termin geht vermutlich eine halbe Stunde", sagte Lorenz ohne Begrüßung.

Sofort begannen meine Gedanken zu rasen. Der Vater kam immer ungefähr um 17 Uhr nach Hause. Das heißt, wir hätten freie Bahn, während die Mutter mit dem Säugling bei der Kinderärztin war. „Es geht los!", rief ich Vasili zu, den ich hinter mir aus dem Schlafzimmer kommen hörte.

„Ich will gar nicht wissen, gegen was ich hier alles verstoße", sagte Lorenz.

„Dieses Telefonat hat nie stattgefunden", beteuerte ich in bestem Ganoven-Jargon. Doch dann überlegte ich es mir nochmal anders: „Na ja, Telefonate können nachgewiesen werden, sagen wir es ging um eine Einladung zum Abendessen."

„Unbedingt! Morgen Abend bei uns. Ich muss wissen, wie es gelaufen ist. Viel Glück!" Dann legte er auf.

Mein Blick ging sofort zur Uhr auf dem Niki-Display. Frau Riederwald würde vermutlich in einer Stunde das Haus verlassen. Ich bestellte über mein Niki das Auto von Lorenz vor das Hotel. Dann stürmte ich ins Schlafzimmer und holte die sorgfältig aufbewahrte Besucherkarte hervor. Damit ging ich zurück zum Esstisch und legte sie dort ab, damit wir sie keinesfalls vergaßen.

Vasili kam bereits fertig angezogen aus seinem Zimmer. Er schnappte sich die Kameratasche mit seiner kleinsten Kamera und verstaute die Besucherkarte sogfältig in einem Seitenfach. „Können wir los?" fragte ich ihn aufgeregt.

„Von mir aus schon", sagte er trocken und ich sah ihm an, dass er sich über irgendetwas königlich amüsierte, „Aber so nehme ich dich nicht mit."

Mir lag schon eine gepfefferte Entgegnung auf der Zunge, dass er sich nicht jedes Mal über meine Garderobe auslassen sollte. Doch noch ehe ich den Mund aufmachen konnte wurde mir klar, dass ich diesmal gar keine Garderobe trug. Beschämt eilte ich ins Schlafzimmer und zog mir die gerichtete dunkle Grundlosen-Kleidung an. Meine feuerroten Haare wickelte ich in ein schwarzes Tuch, das einmal ein Shirt von Vasili gewesen war. Dieses zurechtgeschnittene Kopftuch sah zwar merkwürdig aus, aber ohne die Haare als mein deutlichstes Merkmal würde es viel schwerer sein, mich später wiederzuerkennen.

Als ich angezogen war, war auch das Auto vorgefahren. Zwei Grundlose, die in einen privaten Wagen einstiegen, wären in einer Seitenstraße eher noch mehr aufgefallen, also machten wir uns diesmal nicht die Mühe und ließen uns direkt vor dem Hotel abholen. Ich hatte eine große Kameratasche mit einem zweiten Fotoapparat und dem großen Objektiv umgehängt. Vasili trug die Tasche mit seinem Rechner. Wir hofften, den Eindruck zu erwecken, beide Fotografen zu sein. Wir eilten das Treppenhaus hinunter und stiegen möglichst schnell ein, als würde unser Grundbesitzer bereits ungeduldig im Auto auf uns warten.

Das neue Ziel hatte ich bereits vorab mit meinem Niki eingegeben, so dass das Auto auch sofort losfuhr. Wir ließen es wieder ein Stück entfernt vom Haus der Familie Riederwald parken und Vasili legte sich mit der Kamera und dem großen Objektiv auf die Lauer. Als kurze Zeit später ein Taxi vorfuhr und Mutter und Baby mitnahm, begann mein Herz wie wild zu klopfen. Jetzt ging es wirklich los!

Wir ließen die große Kamera und den Rechner im Auto zurück und schickten es zum Parken in die Straße hinter dem Haus der Familie Riederwald. Dann schlenderten wir so gelassen wie möglich zum Hauseingang hinüber und ich hielt die Besucherkarte vor das Bedienfeld. Augenscheinlich passierte nichts. Ich holte ein Reststück von Vasilis zerschnittenem Shirt aus meiner Hosentasche, umwickelte damit meine Fingerkuppe und gab die Zahlen eins bis vier auf dem Bedienfeld ein. Dann gab ich die Besucherkarte an Vasili zurück, der sie sorgfältig im Seitenfach seiner Kameratasche verstaute. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als ich nun wieder die Zahlen eins bis vier eintippte. Die Haustür schwang auf.

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