Oktober NE 226 - Kapitel 1
Ich wartete und wartete. Mittlerweile war es Anfang Oktober. Mein Bruder schrieb mir auf meine ungeduldigen Anfragen nur immer wieder, dass es auch nicht schneller ginge, wenn ich drängelte und dass ich ihn in Ruhe arbeiten lassen solle. Schließlich hatte Vasili mir gedroht, sich von seinem eigenen Geld ein Zimmer in einem anderen Hotel zu nehmen, wenn ich nicht aufhören würde, wie ein Tiger im Käfig im Hotelzimmer auf und ab zu laufen. Da hatte ich in meiner Verzweiflung meine Grundlosen-Kleidung aus dem Koffer geholt und war als Anna durch die Stadt gezogen. Am Ende hatte ich an einem einwöchigen Kurs zu den Grundlagen der Rückenmassage teilgenommen, um mich abzulenken.
Nach zwei Wochen kam endlich der ersehnte Anruf. „Wer ist dein Lieblingsbruder?", meldete sich Aleksandr.
„Selbstverständlich du", antwortete ich aufgeregt. Ohnehin keine große Kunst, ich hatte sonst keine Geschwister. Dann lauschte ich seinem Bericht.
Auf einem Konto der Familie Lenevka war über die letzten Jahre mehrfach dieselbe enorm hohe Summe eingezahlt worden. Immer über ein anderes Konto, aber alles recht dubiose Quellen. Den Geldeingang von August hatte mein Vater zurückverfolgen lassen. Das Geld kam tatsächlich ursprünglich vom Konto einer Grundbesitzer-Familie in Frankfurt. Nun hatte ich auch einen Namen: Familie Riederwald.
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„Um den Kauf und die Übergabe des Kindes zu organisieren, muss die Familie Riederwald Kontakt zu den Verkäufern gehabt haben. Das lief sicher über den Zentralrechner in ihrem Haus. Aber wie kommen wir da rein?", überlegte Vasili laut. Er lag gemütlich auf einem der Sofas in unserer Suite, ich saß ihm gegenüber mit meiner Tasse Kaffee vom Frühstück. Gemeinsam überlegten wir uns einen Plan, wie wir an Beweise kommen konnten.
„Gegen Angriffe von außen sind die Haussysteme bestens gesichert. Nur vorab im Zentralrechner registrierte Geräte werden überhaupt zur Kommunikation mit dem Login-Programm zugelassen. Das können wir vergessen", erklärte ich, „Unsere einzige Chance ist es, von einem Terminal im Haus aus Zugriff zu bekommen. Dazu müssen wir ins Gebäude, aber die Häuser der Grundbesitzer sind alle gut gesichert."
Seine Augen blitzten amüsiert. „Jetzt wirst du endgültig kriminell. Erst war es nur ein gefälschter Ausweis, jetzt planst du schon einen Einbruch."
„Das Wichtigste ist eine gute Story. Wenn ich den Fall aufdecke, wird mich die Öffentlichkeit lieben, da wird keiner auf die Idee kommen, die Heldin vor Gericht zu zerren. Es wird vermutlich auf eine Geldstrafe hinauslaufen und das gleiche ich mit dem Gewinn aus dem Verkauf des Artikels aus. Selbst wenn für mich davon nichts übrigbleiben sollte, das wäre es mir wert!"
„Wir sollten einfach mal vorbeigehen und uns das Haus anschauen, in dem die Familie wohnt. Vielleicht kommt uns dann eine Idee." Voller Eifer sprang ich auf und versuchte, Vasili vom Sofa hochzuziehen.
Er machte aber keine Anstalten, sich aufzusetzen. „Willst du denen deine Aufwartung machen oder sie unauffällig ausspionieren? In dem Aufzug nehme ich dich nicht mit."
Ich sah an mir hinunter. Es war eines meiner einfacheren Kleider, also nur wenige Lagen und dadurch nicht ganz so voluminös, doch wenn wir nicht gerade durch die Innenstadt von Frankfurt schlenderten, würde ich allein durch den edlen Seidenstoff auffallen. Was mich normalerweise nicht störte. Aber so konnte ich nicht eine Stunde lang vor dem Wohnsitz der Familie Riederwald herumlungern.
Ich ahnte es schon, bevor Vasili etwas sagte. „Wenn schon, denn schon. Komm als Anna mit!"
Ich seufzte und ließ mir widerwillig von ihm die Haken und Ösen im Rücken des schönen Kleides öffnen, die er mir erst vor einer Stunde geschlossen hatte. Kurze Zeit später stand ich in langweiliger Hose und schlabbrigem Pulli vor dem Spiegel im Schlafzimmer. Nur meine feuerroten Haare waren auffällig, aber mir fiel nichts ein, womit ich sie hätte verstecken können. Ich machte mir einfach einen Pferdeschwanz und es konnte endlich los gehen.
Vasili schulterte die Tasche mit seiner Fotoausrüstung und stand dann im Treppenhaus Schmiere, während ich mich aus dem Hotel schlich. Zum Glück hatte der Bereich mit den Suiten einen eigenen, diskreten Eingang, so dass uns die Hotellobby erspart blieb.
Der Wohnsitz der Familie Riederwald lag in einem typischen Grundbesitzer-Viertel. Ärmere Grundbesitzer-Familien, die nicht nah bei ihren Angestellten wohnen wollten, mieteten sich ein standesgemäßes Haus abseits ihres eigenen Besitzes. In der Allee vor dem Haus waren kaum Fußgänger unterwegs und die vereinzelt in autonomen Fahrzeugen vorbeifahrenden Personen sahen nicht aus den Fenstern, sondern waren mit Lesen beschäftigt oder hielten ein Nickerchen.
So konnte Vasili recht ungestört Aufnahmen des Hauses machen, während ich diesmal das Schmiere stehen übernahm. Hätte uns jemand gesehen, hätte er sich sicher gefragt, was Vasili mit so einem großen Objektiv macht. Ich hatte ihn dieses Riesending das letzte Mal bei den Tierfotografien in Russland benutzen sehen. Aber ich hoffte einfach, dass sich hier niemand in Fotografie auskannte.
Wir gingen auch noch in die Straße, die hinter dem Haus hindurchführte und Vasili schlüpfte kurz durch die Büsche in den Garten, um auch die Rückseite des Hauses fotografieren zu können.
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Zurück im Hotel verband Vasili sofort seine Kamera mit seinem Rechner und wir gingen die Bilder durch. Wegen des Objektivs, das er genutzt hatte, waren auf den Aufnahmen wesentlich mehr Details erkennbar, als man mit dem bloßen Auge gesehen hatte. „Leider wurde im Studium kein Paparazzi-Kurs angeboten. Aber ich habe mich ganz gut geschlagen, denke ich." Er lächelte zufrieden, als wir die Bilder von hinten her durch gingen.
„Hier sieht man eines der Terminals durch die Fensterfront an der Rückseite", sagte er und deutete auf den Bildschirm.
„Dann wissen wir schon mal, wo wir hin müssen. Jetzt müssen wir nur noch rein."
Er brummte zustimmend. Wir saßen dicht gedrängt vor dem Bildschirm und sahen konzentriert ein Bild nach dem anderen durch.
„Stopp!" Ich schob Vasili beiseite und lehnte mich noch weiter nach vorne, um das Bild besser sehen zu können.
„Ich kann auch einfach ran zoomen." Er drückte mich beiseite. Ich deutete auf den Bereich und Vasili vergrößerte den Ausschnitt.
„Dachte ich es mir doch! Das ist ein Petuchow Haussystem." Ich klatschte erfreut in die Hände. Auf dem Bedienfeld neben der Haustür prangte das Logo der Haussystem-Sparte meiner Familie.
Er hob die Augenbrauen. „Und du kannst nun mit dem geheimen Firmenpasswort dort rein, oder wie?"
„Das auch, aber dann wüsste die Polizei gleich, in welche Richtung sie ermitteln muss", sagte ich und klickte mich aufgeregt durch die restlichen Bilder. Tatsächlich fand ich eines, auf dem das Bedienfeld noch besser zu sehen war.
Triumphierend grinste ich ihn an. „Das ist ein altes Modell. Alles, was wir brauchen ist eine Besucherkarte, deren ID mit einer Null beginnt." Er brummte wenig überzeugt. Deshalb erklärte ich es ihm: „Man kann einem Handwerker eine Zugangskarte geben und diese für bestimmte Tage und Zeiten freischalten. Wenn man eine Karte hat deren ID mit einer Null beginnt, kommt es zu einem Fehler. Die nächste vierstellige Zahl, die man in das Nummernfeld eingibt, wird als Zugangscode gespeichert. Danach kann man diese Zahl nochmal eintippen und die Tür geht auf."
Er brummte und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich fuhr fort: „Die ID dieser Karten fangen nie mit einer Null an. Ein Auszubildender bei uns wusste das nicht und hat eine Karte falsch erstellt. So kam es, dass wir bei einer Routineüberprüfung den peinlichsten Programmierfehler in unserer Firmengeschichte aufgedeckt haben."
„Darüber hat man gar nichts gehört."
„Na, weil wir das natürlich geheim gehalten haben. Alle Anlagen, die seit der Entdeckung gewartet werden, erhalten ein Update. Aber es war bei Entdeckung schon nicht mehr unser neuestes Modell und hier bei einer vermieteten Villa in Deutschland stehen die Chancen dafür recht schlecht. Umso besser für uns!"
Ich rieb mir die Hände und fühlte mich endgültig wie eine Ganovin. Ich liebe meinen Beruf!
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