Oktober NE 224 - Kapitel 4

„Stell dir vor, Anna!", quietschte die graue Maus aufgeregt, kaum dass sie die Tür zu unserem Zimmer geschlossen hatte.

Ich war gerade dabei gewesen, frisch gewaschene und mühsam von mir zusammengelegte Wäsche in meinen Schrank einzuräumen. Atemlos kam sie zu mir und als ich mich zu ihr umdrehte, fand ich mich plötzlich in einer herzlichen Umarmung wieder. Ich versteifte mich etwas und mir wurde schlagartig klar, dass mir noch nie ein Grundloseral* jemals so nahegekommen war.

* m / w / d - Für mehr Gleichberechtigung im Jahre NE 14 eingeführte Form.

Doch die graue Maus war zum Glück so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihr nichts auffiel. „Es ist so unglaublich!", japste sie freudestrahlend und hüpfte auf und ab. Da sie mich noch immer in der Umarmung hielt, wurde ich durchgeschüttelt.

Ich schob sie sanft, aber bestimmt von mir. „Was ist denn los?"

„Der Dozent für Esperanto hat mich vor dem ganzen Kurs für meine Fortschritte gelobt!", jubelte sie ausgelassen, „Ich habe in der letzten Prüfung eine gute Punktzahl erreicht und er sagte, meine Aussprache sei auch deutlich besser geworden."

Ich musste breit grinsen und der Stolz auf meine Zimmernachbarin flutete mich wie eine warme Welle. Es war harte Arbeit gewesen und am Anfang hatte ich Jana oft antreiben müssen, doch als sie gemerkt hatte, dass sie gute Fortschritte machte, hatte sie einen großen Ehrgeiz entwickelt und war mit Feuereifer dabei gewesen.

„Das müssen wir feiern!", rief ich, kniete mich vor mein Bett und holte eine Flasche Vodka aus meinem Koffer, die ich stets für Notfälle dort aufbewahrte. Gemeinsam machten wir uns zur Mensa auf. Auf dem Weg dorthin lasen wir noch Mauerblümchen, Mona und Lisa auf.

Nachdem ich an der Essensausgabe einen halbwegs passablen Saft, ein paar hohe Gläser und Eiswürfel für improvisierte Drinks aufgetrieben hatte, setzen wir uns an einen Tisch in der Ecke und stießen auf den großartigen Erfolg unserer Jana an. Die anderen Mädels hatten das Lob des Dozenten live miterlebt und wussten sofort, um was es ging. Ich bekam alles bis ins kleinste Detail geschildert, während wir immer wieder anstießen.

„Hast du den giftigen Blick von Marie gesehen?", fragte Lisa in die Runde und kicherte, „Was ist der denn für eine Laus über die Leber gelaufen?"

Ich grinste vor mich hin. Oh ja, Sieg auf ganzer Linie!

„Man sollte meinen, sie kann auch mal anderen etwas Ruhm gönnen", meldete sich Mona zu Wort, „Sie ist bei den Dozenten und Studierenden gleichermaßen beliebt. Erst letzte Woche wurde sie für ihren Artikel über Paris gelobt."

Jana zuckte mit den Schultern.

„Hat jemand ihren Artikel gelesen?", fragte Mauerblümchen.

„Sie beschreibt lang und breit dieses antike Gebäude Notre Dame", fasste Mona zusammen, „Wie eindrucksvoll es doch dasteht und wie die Morgensonne die Steine wärmt, in den Buntglasfenstern glitzert und so ein Kram."

Lisa ergänzte: „Sie hat erst letzthin im Hörsaal zum Besten gegeben, wie sie im Sommer vor Studienbeginn ihre Eltern nach Paris begleiten durfte, weil diese dort einen spannenden Auftrag hatten. Die dabei gewonnenen Eindrücke hat sie hier wohl verarbeitet. Die Dozenten waren begeistert."

Ich zog die Stirn in Falten. Irgendwas störte mich. „Sie war letzten Sommer in Paris und hat gesehen, wie die Sonne in den Fenstern der Kathedrale glitzerte?", murmelte ich in Gedanken versunken, „Das kann gar nicht sein, mein Vater hat erzählt, dass die Notre Dame komplett eingerüstet und verhüllt war, da sie instandgesetzt und komplett gereinigt wird."

An unserem Tisch war es plötzlich still geworden. „Dein Vater war in Paris?", fragte Mauerblümchen und sah mich mit großen Augen an.

„Er war beruflich für die Familie Petuchow dort", sagte ich. Wer sagt's denn, das ist sogar die Wahrheit. Als mich immer noch alle ehrfürchtig ansahen, erklärte ich ungeduldig: „Nicht nur Journalisten dürfen beruflich an schöne Orte reisen. Aber habt ihr verstanden, was ich sagen will? Letzten Sommer war die Kathedrale verhüllt. Marie kann sich da keine Inspiration für den Artikel geholt haben."

„Dein Vater hat vielleicht übertrieben und die Kathedrale war doch nicht komplett verhüllt?", fragte die graue Maus.

„Irgendeine Erklärung muss es geben", sagte Mona bestimmt, „Warum sollte sie sich so etwas komplett aus den Fingern saugen?"

„Aber warum hat sie dann nicht irgendein anderes bekanntes Gebäude in Paris für ihren Artikel beschrieben?", argumentierte ich, „Warum musste sie unbedingt die Notre Dame nehmen, die sie gar nicht in ihrer vollen Pracht sehen konnte?"

„Anna! Wir reden hier von Marie, deren Eltern Journalisten sind. Warum sollte sie denn etwas frei erfinden?", wiegelte Lisa ab. Damit war das Thema abgehakt.

Während ich noch weiter grübelte, schweiften die Mädels wieder zu irgendwelchen wer ist mit wem zusammen Gesprächen ab, die ich einfach nur langweilig fand. Doch mein Verdacht ließ mir keine Ruhe. Was ich nicht erzählt hatte war, dass ich selbst schon mehrfach in Paris gewesen war. Es gab dort so viele beeindruckende, historische Gebäude. Wer dort war und eines verhüllt vorfand, käme niemals auf die Idee, ausgerechnet dieses zum Thema eines Artikels zu wählen. War Marie gar nicht in Paris gewesen?

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