Oktober NE 224 - Kapitel 2

An einem verregneten Tag Mitte Oktober saß ich im Medienraum an einem Artikel über die neueste Technik zur Reinigung der Weltmeere von Mikroplastik, das aktuelle Projekt in einem meiner Kurse. Als ich an einer Stelle nicht weiterkam, sah ich auf und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Durch das Fensterband an der mir gegenüber liegenden Raumseite kam nur wenig Licht herein, der Raum wurde von den Lichtbändern an der Decke erhellt. An langen Tischreihen standen für Studierende um die 50 Bildschirmarbeitsplätze bereit. Seit ich den Raum betreten hatte, waren noch einige Personen hinzugekommen und nun waren fast alle Rechner besetzt.

Neben mir saß Marie, die beliebteste Schülerin unseres Semesters und eine brünette Schönheit. Kein Wunder also, dass sie die interessierten Blicke vieler Jungs und auch einiger Mädchen auf sich zog. Ihre auffallend gute Laune wirkte ansteckend und mit ihren Anekdoten aus dem aufregenden Leben ihrer Journalisten-Eltern unterhielt sie einen ganzen Hörsaal. Leider konnte ich ihren großartigen Berichten auf Deutsch nicht folgen und ihr Esperanto war recht schlecht. Ihre Eltern hatten wohl vor lauter Abenteuern vergessen, ihrer Tochter die Sprache beizubringen.

Sie hatte meinen Blick bemerkt, denn sie sah auf und lächelte mir freundlich und offen zu. „Du bist doch Anna aus Russland", stellte sie fest, „Leider hatten meine Eltern noch keinen Auftrag in Russland. Aber ich stelle es mir dort schön vor. Riesige Wälder und die schier unendliche Steppe."

„Ich selbst kenne auch nur die besiedelten Gebiete", musste ich peinlich berührt zugeben. Ich hätte ihr gerne etwas aufregendes erzählt. Aber was wollte eine Grundbesitzerin auch irgendwo im Nirgendwo? In die Natur, weit ab der Zivilisation, ging man nur, um dort irgendeine steinzeitliche Arbeit zu verrichten wie Bäume fällen oder jagen.

„Als Journalistin kannst du endlich die Welt sehen", ermutigte sie mich weiterhin freundlich lächelnd, „Ich habe deine Ergebnisse bei den ersten Prüfungen gesehen. Du gehörst wie ich zu den besten in unserem Semester. Wir haben die Chance, mal ganz groß rauszukommen."

„Das hoffe ich auch. Ich möchte die Menschen und ihre Kultur in fernen Ländern kennen lernen."

Da wechselte Marie plötzlich das Thema. „Du wohnst doch mit diesem Dorftrampel auf einem Zimmer?", fragte sie leise, „Ich habe es leider auch nicht so gut getroffen. Meine Zimmernachbarin hat recht schlecht in den Prüfungen abgeschnitten."

Ich stutzte. Von der beliebtesten Studentin hätte ich solche Worte nicht erwartet.

Marie schüttelte bedauernd den Kopf und fuhr fort: „Man kann sich eben nicht aussuchen, mit wem man ins Zimmer kommt. Das wurde ausgelost und es kann nur geändert werden, wenn man einen triftigen Grund vorzuweisen hat. Gehört zu den Grundprinzipien dieser Universität. Die schleppen allerhand an antiken Regeln mit sich rum. Nur weil sie die beste Uni für Journalismus in Deutschland sind, meinen sie, sich alles Mögliche rausnehmen zu können."

„Die Prüfungsergebnisse meiner Zimmernachbarin waren alle über dem Durchschnitt", sagte ich. Verglichen wir da gerade wirklich die Leistungen unserer Mitbewohnerinnen?

„Ach komm, sie bekommt doch auf Esperanto kaum einen Satz raus. Sie ist schüchtern und unterwürfig. Sie hat einfach nicht das Zeug zur Journalistin. Es muss schlimm sein, mit so jemandem zusammen zu wohnen."

„In Esperanto war sie tatsächlich eher im unteren Drittel", gab ich zerknirscht zu. Aber so viel besser kannst du es auch wieder nicht!, setzte ich in Gedanken hinzu und nahm mir vor, die graue Maus zu fragen, was Marie so an Punkten geschafft hatte.

„Na siehst du!", triumphierte Marie, „Warum hängst du also mit ihr rum? Sie ist doch unter deinem Niveau. Von ihr kannst du nichts lernen, du musst ihr eher was beibringen."

Marie ging mir auf die Nerven. Was hatte sie denn davon, die graue Maus schlecht zu machen?

„Ich habe beschlossen, eine Elite-Lerngruppe zu gründen", eröffnete sie mir stolz und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, „Eingeladen werden nur die besten unseres Jahrgangs. Was sagst du? Bist du dabei?"

Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. „Eine Lerngruppe ist immer eine gute Idee", antwortete ich ausweichend, um mir Zeit zum Überlegen zu verschaffen.

In dem Moment ging zum Glück Felix, einer ihrer größten Verehrer, an unseren Tischen vorüber und grüßte sie. Marie begann ein Gespräch und ich nutzte die Gelegenheit, meine Sachen zusammenzusuchen. Als ich mich kurze Zeit später von ihr verabschiedete rief sie mir noch nach: „Überleg es dir einfach!"

Ich ging auf mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Eine gute Gelegenheit, schon mal mit dem Lernen auf die nächste Prüfung zu beginnen. Doch meine Gedanken schweiften bald wieder ab. Mit einem hatte Marie nämlich recht: es störte mich, dass meine Zimmernachbarin so schlecht Esperanto sprach. Wir konnten uns noch immer nur mühsam verständigen.

Als die graue Maus wenig später in unser Zimmer kam, versuchten wir auch gleich mal wieder mit Händen und Füßen zu besprechen, was wir als nächstes lernen sollten. Bis mir aufging, dass sie mich zum Shopping überreden wollte. „Ich werde dir Esperanto-Nachhilfe geben!", bestimmte ich.

Als sie mich nur verständnislos ansah, holte ich meine zugegebenermaßen rudimentären Deutschkenntnisse hervor und versuchte, ihr Nachhilfe zu erklären. Es musste sich wohl lustig anhören, denn die graue Maus begann schallend zu lachen. Aber sie lachte mich nicht aus und ich musste selbst mitlachen. Sie nickte und sagte auf Esperanto: „Heute kein Lernen, kein Einkaufen, heute Esperanto-Nachhilfe!"

Ich machte sie zu meinem Projekt. Mein Ziel war es, dass sie in der nächsten Esperanto-Prüfung auf biegen und brechen besser abschnitt als Marie!

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