Oktober NE 224 - Kapitel 1
Die Kursteilnehmer hatten sich über alle Reihen des Hörsaals verteilt. In Zweierteams übten wir, ein Interview zu führen. Ich saß mit einer Kommilitonin auf zwei Stühlen nahe dem Pult des Dozenten. Sie sprach so schlecht Esperanto, dass ich sie in all dem Stimmengewirr nicht verstanden hatte und wir uns deshalb von den anderen abgesondert hatten.
„Die Zeit ist um!", rief unser Dozent schließlich und stellte sich hinter sein Pult. Das Stimmengewirr verstummte sofort. „Also wie besprochen: schreibt einen Artikel über das, was ihr gerade von eurem Interviewpartner erfahren habt, Abgabetermin morgen." Er lehnte sich etwas nach vorne und holte ein kleines, schwarzes Kästchen aus einem Karton auf seinem Pult und hielt es über seinen Kopf. „Bitte macht euch bis morgen auch mit der Benutzung dieser Diktiergeräte vertraut."
Neugierig rutschte ich auf meinem Stuhl nach vorne, um besser sehen zu können. Grundlose brauchen dafür ein extra Gerät? Jedes Niki hat eine Diktierfunktion!
Da warf mir der Dozent das Diktiergerät zu.
Reflexartig riss ich meine Knie auseinander, um das Ding weich im Stoff meines Rockes landen zu lassen. Dumm nur, dass ich Hosen trug. Das Diktiergerät fiel zwischen meinen Oberschenkeln hindurch und landete mit einem unschönen Knacken auf dem Fliesenboden des Hörsaals.
Entsetzt hielt ich die Luft an und sah zu meinem Dozenten, der überrascht blinzelte, aber nichts dazu sagte. Im Saal wurde leise gekichert und ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss.
Der Dozent fuhr fort, Diktiergeräte zu verteilen. Das Mädchen, das ich eben noch interviewt hatte, fing das Kästchen mühelos mit den Händen. Der Dozent warf eines zur nächsten Studentin, die es zwar nicht direkt mit den Händen fing, aber es landete sicher zwischen ihren Händen in ihrem Schoß. Auf fest zusammengepressten Beinen, obwohl sie einen Rock trug.
Beschämt bückte ich mich und hob mein Diktiergerät vom Boden auf. Das Gehäuse hatte einen Sprung, aber es ließ sich immerhin noch einschalten. Es gibt so viele Kleinigkeiten, die Grundlose einfach anders machen als Grundbesitzer! Das Getuschel im Saal konnte ich nicht verstehen, sicher lästerten sie über mich.
„Sind alle Russinnen so merkwürdig, wie du?", raunte mir meine Interviewpartnerin zu und kicherte. Ich presste meine Lippen aufeinander und würdigte sie keines Blickes. Als der Dozent kurz darauf den Kurs beendete, schnappte ich mir meine Tasche, die neben meinem Stuhl auf dem Boden stand und wollte nur noch raus aus dem Hörsaal.
Doch als ich mich in Richtung Ausgang drehte, stand mein Dozent vor mir. Ich sah auf den einen Kopf kleineren Mann hinunter und versuchte, seine Miene zu deuten. Ist er jetzt enttäuscht von mir oder ist es ihm peinlich, dass er mich überrascht hat? „Keine Sorge, das Gerät musst du nicht zahlen. Ich hätte dich nicht so überrumpeln dürfen", sagte er und streckte mir ein anderes Diktiergerät hin.
Mit einem dankbaren Nicken nahm ich das Neue entgegen und gab ihm das mit dem gesprungenen Gehäuse. Dann eilte ich aus dem Hörsaal.
Jeden Tag aufs Neue gab ich mir alle Mühe, mich schnell an der Uni einzuleben, denn nur so konnte ich mich unauffällig verhalten. Doch so sehr ich es auch versuchte, mich mit dem Studienalltag einer Grundlosen anzufreunden, ich kam immer wieder in Situationen, in denen ein aufmerksamer Beobachter Verdacht geschöpft hätte. Zum Glück war es vollkommen abwegig, dass sich eine Grundbesitzerin hier einschrieb. So undenkbar, dass sicher niemand bereits bei einer Kleinigkeit die Wahrheit vermuten würde. Aber wenn sich die Patzer häufen? Wenn mal was richtig Auffälliges passiert, wie gerade eben?
Frustriert eilte ich zum Ausgang des Gebäudes und drückte die Tür zum Hof so schwungvoll auf, dass sie gegen den Türstopper krachte. Jetzt schäme ich mich auch noch vor Grundlosen. So weit ist es schon gekommen!
Am liebsten hätte ich mich sofort auf mein Zimmer gerettet, doch ich hatte Hunger. Wenn man anderen Studenten aus dem Weg gehen wollte, aß man am besten gleich, nachdem die Essensausgabe der Mensa öffnete. Dann war man fertig, wenn der große Andrang kam. Ich steuerte also auf den Eingang des Mensagebäudes zu.
Als sich die Schiebetür zum Mensagebäude vor mir öffnete, sah ich gleich auf die große Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Ich war noch etwas zu früh. Da ich jetzt unter keinen Umständen länger als nötig mit anderen Studenten zusammen sein wollte, überbrückte ich die Zeit, indem ich im Gang vor dem Eingang zur Mensa wartete.
Die Bildschirmwand neben dem Eingang zeigte ein buntes Sammelsurium von Informationen der Uni, Veranstaltungstipps und Kneipen in der Umgebung. Hier zu warten war unauffällig. Ich drehte mich zu den Anzeigen, schloss kurz die Augen und atmete tief durch.
„Suchst du was fürs Wochenende?", fragte mich Mauerblümchen unvermittelt.
Ich fuhr zusammen. „Nein, ich bin zu erschöpft", rutschte es mir heraus. Ich hätte mich ohrfeigen können. Jetzt hatte ich auch noch Schwäche gezeigt. Gegenüber einer Grundlosen!
„Das verstehe ich", sagte Mauerblümchen und sah mich mitfühlend an.
Eine Grundlose die mich versteht! Als ob! Ich wandte mich ab und ging auf den Eingang zur Mensa zu.
Doch Mauerblümchen ging einfach neben mir her und erzählte weiter: „Als Italienerin habe ich so etwas wie einen Exotenstatus. Jeder will mit mir reden, aber da ich kaum Deutsch kann und die anderen kaum Esperanto ist das so anstrengend. Ich werde ständig zu Unternehmungen eingeladen, aber da die anderen untereinander deutsch sprechen verstehe ich kaum etwas." Sie lachte freudlos. „Wenn mich nochmal einer fragt, warum ich so klein bin, raste ich aus. Geht es dir genauso?" Sie ging direkt neben mir und als ich zu ihr sah konnte nicht anders, als auf sie herabzusehen. Sie ging mir gerade mal bis zur Schulter. Einfach winzig!
Sie grinste mich von unten an. „Russische Grundlose sind offensichtlich um einiges größer als Italienische."
Das brachte mich zum Schmunzeln. „Wenn wir zusammen unterwegs sind müssen wir froh sein, wenn keiner ein Foto machen will."
Neben Mauerblümchen fiel meine überdurchschnittliche Größe besonders auf, was mich beunruhigte. Zwar mutmaßten die Studierenden ebenfalls, dass die Menschen in Russland allgemein größer waren, aber das stimmte nun mal nicht und wenn jemand dahinter käme wäre ich in Erklärungsnot.
Wir reihten uns in die kurze Schlange vor der Essensausgabe ein und Mauerblümchen inspizierte das heutige Angebot auf einem der Bildschirme. „In Italien machen wir manches etwas anders als hier", sagte sie, ihren Blick stur auf den Bildschirm gerichtet, „Nur Kleinigkeiten. Gestern habe ich erzählt, dass für mich ein Zimmer nur richtig sauber ist, wenn es leicht nach Chlor riecht. In Italien putzen wir eben gerne mit Chlorreiniger. Sie haben mich ausgelacht. Ich komme mir jedes Mal so dumm vor!"
Erstaunt musterte ich sie von der Seite. Verrückt. Sie kann mich tatsächlich ein Stück weit verstehen!
Die Essensausgabe öffnete und die Schlange wurde schnell kürzer. Wir nahmen beide die Nudeln mit Soße und ein Saftschorle. Ich steuerte auf einen Tisch am Rand zu, Mauerblümchen blieb mir hartnäckig auf den Fersen. Nachdem wir uns gesetzt hatten, rührte ich missmutig meine Nudeln um und schob mir eine Gabel voll in den Mund. Nicht gerade lecker, aber erträglich und von irgendwas musste ich mich ja ernähren.
„Weißt du eigentlich, was man sich so über dich erzählt?", fragte Mauerblümchen zwischen zwei Bissen.
Mein Magen krampfte sich zusammen und ich hatte auf einen Schlag keinen Hunger mehr. Mit Mühe würgte ich die halb gekauten Nudeln in meinem Mund hinunter. „Was wird denn so über mich erzählt?", fragte ich und trank betont gelassen einen Schluck aus meinem Glas. Um nicht gleich weiteressen zu müssen, ließ ich meinen Blick durch die Mensa schweifen.
Mauerblümchen kaute seelenruhig fertig, bevor sie schluckte. „Ich vermute, du verfällst unbewusst in bestimmte Verhaltensmuster, wenn du unsicher bist? Diese wirken auf andere abweisend. Ist das ein russischer Wesenszug oder so?" Sie zuckte mit den Schultern und schob sich eine weitere Ladung Nudeln in den Mund.
Ich entspannte mich. Immerhin ahnte keiner etwas von meiner wahren Identität. „Was genau für Muster?", forschte ich nach.
Mauerblümchen kaute wieder lange, bevor sie antwortete: „Manchmal läufst du rum als hättest du einen Stock im Rücken. Das kann doch nicht gesund sein?" Sie hob entschuldigend die Hände. „Es kommt so rüber, als würdest du dich für was Besseres halten. Du bist hier an der Uni und nicht auf dem Laufsteg. Entspann dich einfach!"
Ich brachte keinen Ton heraus. Dass die Grundlosen durch die Gegend trampelten war nichts Neues. Aber dass ich mich allein durch meinen zivilisierten Gang verdächtig machte, war mir nicht klar gewesen.
Mauerblümchen lächelte mich an. „Wenn du dich bückst, sieht das eher aus wie eine Figur beim Ballett. Beuge dich doch einfach nach vorne runter, wie jeder andere auch?"
Ich riss entsetzt die Augen auf. „Und meinen Po nach oben strecken wie eine läufige Hündin?"
Mauerblümchen lachte. „Seid ihr in Russland so prüde? An so was denkt hier niemand", versicherte sie mir, „Es würde niemand beachten, weil wir uns alle so bücken."
Ich schüttelte vehement meinen Kopf. „So vulgär könnte ich mich niemals bücken."
„Dann lass wenigstens das Überkreuzen der Beine weg. Wir wäre es mit der uncoolen, rückenschonenden Variante: in die Knie gehen, mit geradem Rücken."
Ich sah ein, dass ich zur Tarnung alles versuchen musste und ließ mir bereitwillig diese Art zu Bücken erklären. In Zukunft wollte ich auch bei meiner Körperhaltung darauf achten, nicht aufzufallen.
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