November NE 226 - Kapitel 2
Leider bedeutete unser Besuch in Petersburg wieder, dass Vasili und ich nicht zusammen sein konnten. Während ich in meinem Zimmer im Familienflügel wohnte, war er wieder irgendwo im Flügel für die Bediensteten untergebracht. Uns in der Stadt zu treffen war ebenfalls viel zu gefährlich, mich kannten zu viele Leute, selbst als Anna in Grundlosen-Klamotten wäre ich Gefahr gelaufen, erkannt zu werden. Die Grundlosen wussten ja durchaus, wie die Mitglieder ihrer Grundbesitzer-Familien aussahen.
Immerhin war das Gespräch mit meinem Vater am Morgen überraschend gut verlaufen. Er hatte sich versöhnlich gegeben und ich war guter Dinge, dass er sich bald an den Gedanken gewöhnen würde, dass ich als Journalistin mein eigenes Geld verdiente.
Ich hatte auf den altbewährten Trick zurückgegriffen und Vasili für den Nachmittag zu einem Termin in den Besprechungsraum 42 eingeladen. Nach dem Mittagessen mit meinen Eltern und meinem Bruder war ich nochmal für eine halbe Stunde auf mein Zimmer verschwunden, doch nun konnte ich es kaum erwarten, Vasili endlich zu treffen. Ich eilte voll Vorfreude durch die Gänge des Zarenflügels.
„Anastasia!", rief da mein Vater vom anderen Ende des Gangs. Er war aus seinem Büro getreten und winkte mich gebieterisch zu sich. Widerwillig ging ich zu ihm. „Wir haben doch beim Mittagessen vorhin über das Galadinner gesprochen, zu dem wir morgen Abend alle eingeladen sind. Ich erwarte natürlich, dass du dabei sein wirst."
„Selbstverständlich komme ich mit", bestätigte ich und hoffte, ihn nun bald los zu sein.
Doch er war noch nicht fertig. „Dein Bruder wird mit einer Begleitung hin gehen, du suchst dir ebenfalls jemanden."
Das hatte mir gerade noch gefehlt! „Ja, mache ich", wimmelte ich ihn ab. In Gedanken war ich bei Vasili und mich um eine standesgemäße Begleitung zu einer Veranstaltung kümmern zu müssen passte mir absolut nicht in den Kram. Ich wendet mich von meinem Vater ab und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang zum Besprechungsraum 42.
Ich hatte mich schon den ganzen Vormittag auf das Wiedersehen gefreut und wollte Vasili auch gleich von der Beziehung meines Bruders zu Suzume Shikoku erzählen. Zwar sollte ich es niemandem verraten, aber Aleksandr hatte damit vor allem meine Eltern und andere Grundbesitzeral gemeint. Vasili zählte also nicht wirklich. Und ich musste es einfach jemandem sagen, sonst würde ich platzen.
Schnell huschte ich in den Besprechungsraum und war schon in Vasilis Armen, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Kaum dass wir den, zugegeben ausführlichen, Begrüßungskuss beendet hatten, sprudelte es aus mir heraus: „Du wirst es nicht glauben, was ich gestern erfahren habe!"
In dem Moment ging die Tür zum Besprechungsraum wieder auf. „Hast du schon daran gedacht...", sagte mein Vater und stockte. Ich trat schnell einen Schritt zurück und löste mich so aus Vasilis Umarmung. Doch ich bereute es sofort wieder. Es hatte ohnehin keinen Sinn mehr, es war zu spät. Und es wirkte, als wäre mir meine Beziehung zu Vasili peinlich, als würde ich nicht dazu stehen.
Mein Vater stand eine Weile einfach nur dort und sah zwischen Vasili und mir hin und her. Schließlich sagte er leise, aber dafür umso bedrohlicher: „Anastasia. Mein Büro. Sofort." Dann drehte er sich um und verließ den Besprechungsraum.
Meine Gedanken rasten. Ich legte Vasili meine Hände auf die Schultern und sah ihn eindringlich an: „Pack deine Sachen! Ich lasse meinen Perscho am hinteren Eingang vorfahren. Lade dein Gepäck ein und warte dort auf mich. Ich weiß nicht wie das Gespräch mit meinem Vater ausgeht, aber ich möchte dich so schnell wie möglich aus der Schussbahn haben, verstanden?" Ich blickte ihm kurz nach, während er den Besprechungsraum verließ. Dann schickte ich meinen Perscho über mein Niki los und machte mich auf den Weg ins Büro meines Vaters.
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Sobald ich die Tür seines Büros hinter mir geschlossen hatte, fixierte mich mein Vater mit einem stechenden Blick. „Wie um alles auf der Welt kommst du auf so eine dumme Idee!", donnerte er, „Wie konntest du nur mit diesem Grundlosen die professionelle Ebene verlassen und ihn zu deinem Bettgespielen machen! Er ist dein Fotograf!"
Ich baute mich möglichst bedrohlich vor dem Schreibtisch auf, um ihm etwas entgegenzusetzen. Mit fester Stimme sagte ich: „Meine Beziehung zu Vasili war nie rein professionell. Er war schon mehr für mich, bevor ich ihn als meinen Fotografen angestellt habe."
„Das ist unverantwortlich deiner Familie gegenüber!", wetterte Wladislaw, „Wir werden zum Gespött von ganz Russland, wenn das rauskommt!"
Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. „Uns ist vollkommen klar, dass niemand davon erfahren darf. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du einfach reinplatzt. Kurze Zeit später hätte ich die Tür verriegelt."
„So wie ich euer Geheimnis herausgefunden habe, kann jederzeit jemand anderes dahinterkommen. Die bekannte Journalistin vögelt ihren Angestellten? Ein gefundenes Fressen für die Medien!", polterte mein Vater weiter und stand von seinem Stuhl auf. Das war Wladislaw Petuchow, der eiskalte Geschäftsmann, der Lenker eines Imperiums, der seinen Besitz und seine Familie verteidigte. Offensichtlich in dieser Reihenfolge.
„Wenn die Gerüchte stimmen und Aleksandr tatsächlich Suzume Shikoku ausführt, würde dieser Skandal ungeahnte Ausmaße annehmen. Die ganze Welt würde auf uns herabschauen", fuhr er fort. Überrascht vergaß ich für einen Moment meine selbstbewusste Haltung. So geheim wie mein Bruder dachte, war seine Beziehung wohl nicht geblieben. Aber mein Vater hatte recht: wenn mein Geheimnis herauskam, würde das Wellen schlagen, die vielleicht sogar das Aus für Aleksandrs Beziehung bedeuten konnten. Ihm wollte ich keinesfalls schaden.
„Wir geben uns alle Mühe, unsere Beziehung geheim zu halten", wiederholte ich noch einmal. Es klang aber selbst in meinen Ohren eher nach trotzigem Kind.
„Haben deine Mutter und ich dir denn keinen Anstand beigebracht? Ausgerechnet ein Grundloser! Ich hoffe, du hast dir wenigstens keine Seuche eingefangen?"
Bei mir brannte eine Sicherung durch. „Du bist ein Kontrollfreak! Meine Mutter ordnet sich dir völlig unter, aber ich werde das niemals tun!", schleuderte ich ihm an den Kopf.
Dann nahm ich von seinem Schreibtisch den hübschen Briefbeschwerer in Form eines Bären, den ich als Kind stets bewundert hatte und der meinem Vater wichtig war. Ich schleuderte ihn gegen die Wand hinter den Schreibtisch, wo er mit einem befriedigenden Krachen auftraf und mit einem satten Ton auf dem Sideboard darunter liegen blieb.
Mein Vater hatte mit keiner Wimper gezuckt. „Wir haben in unserer Familie keinen Platz für ein schwarzes Schaf. Du bist nicht mehr meine Tochter. Geh mir aus den Augen", sagte er kalt. Ich drehte mich mit einem gekonnten Schwung meiner feuerroten Haare zur Tür und schlug sie mit aller Kraft hinter mir zu. Der laute Knall hallte durch den Gang.
Ich rannte in den Familienflügel, auf mein Zimmer. Ich beorderte eine Schar an Bediensteten in mein Zimmer und ließ sie meine Koffer packen. Als sie mit den Gepäckstücken verschwunden waren, um sie für die Abholung durch den Gepäckwagen vom Flughafen bereit zu stellen, blieb ich allein auf meinem Zimmer zurück.
Mein Atem ging noch immer stoßweise und das Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Ich ging eine letzte Runde durch meine Räume. Als mir nichts mehr auffiel, was ich mitnehmen wollte, nahm ich mein Handy vom Bett, steckte es in die Rocktasche meines Kleides und trat in den Flur. In mir tobte der Zorn. Ich wollte nicht mal meinem Bruder oder meiner Mutter begegnen. Ich wollte nur noch hier weg. Raus aus dem Palast, raus aus Petersburg, raus aus Russland. Ich eilte zum hinteren Ausgang, setzte mich neben Vasili in den Perscho und ließ uns zum Flughafen bringen.
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