März NE 225 - Kapitel 1

Seit unserem Kennenlernen hatte ich mit Vasili nie mehr als ein paar flüchtige Worte gewechselt. Aber er fiel mir immer wieder ins Auge, wenn ich auf dem Campus unterwegs war und ich ertappte mich manchmal dabei, dass ich nach ihm Ausschau hielt, wenn ich die Mensa betrat. So auch Anfang März, als ich zum Mittagessen ging. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, holte ich mir mein Essen und setze mich wie immer an einen leeren Tisch am Rand.

„Hast du mich gesucht?", frage Vasili hinter mir.

Ich zuckte vor Schreck zusammen. „Sollte ich?", gab ich betont gleichgültig zurück.

Er stellte seinen gefüllten Teller ab und setzte sich mir gegenüber hin. „Deine Esperanto-Kenntnisse sind gefragt." Er hielt mir sein Tablet vor die Nase. „Ich habe heute Projekt bekommen, aber ich verstehe nicht alles. Meine Kommilitonen sind daran gescheitert, es mir zu erklären. Du bist meine letzte Hoffnung."

„Sollte ich dafür nicht den Abzug einer Fotografie erhalten?"

„Ich war seit Ausstellung nicht mehr im Labor. Du bekommst ihn, sobald ich andere Fotos dort entwickle, versprochen." Er begann, seinen Auflauf zu essen und schob sich eine große Gabel voll in den Mund. Er kaute ein paar Mal und schob dann mit vollem Mund nach: „Außerdem kannst du ja gerne zuerst die Leistung erbringen, bevor du bezahlt wirst." Ich sah ihn missbilligend an.

Er verstand erstaunlicherweise sofort und schluckte sein Essen runter. „Tischmanieren. Habe verstanden." Danach aß er ordentlich weiter.

Grinsend löste ich meinen Blick von seiner tadellosen Messerhaltung und widmete mich der Projektbeschreibung auf dem Tablet. „Du sollst Motive zum Thema Trauer fotografieren. Dabei ist ausdrücklich kein schwarz-weiß erlaubt. Zwölf Fotografien."

Er wies auf den letzten Absatz. „Und was bedeutet das hier? Ich habe manche Worte nicht mal online gefunden."

Ich las den Absatz nochmal genauer durch. „Zwei zentrale Worte sind falsch geschrieben, kein Wunder war die Übersetzung schwierig. Verlangt wird eine Art Kalender, aber du kannst auch ein anderes Format wählen, wenn es dir passend erscheint. Text kann, muss aber nicht dabei sein. Wenn du Text als Stilmittel wählst, muss er von dir selbst geschrieben worden sein." Ich legte das Tablet beiseite und sah ihn an. „Die Formulierung, ob der Text von dir sein muss oder nicht, ist da ganz häufig zu finden, habe ich gehört. Viele Fotografen haben Freunde bei den Journalisten, da liegt es ja auf der Hand, dass man auch mal zusammenarbeitet."

Er brummte zustimmend und wir widmeten uns wieder schweigend dem Essen.

Als ich die Mensa nach dem Essen verließ, fing mich eine Dozentin ab und forderte mich auf, mitzukommen. Mit klopfendem Herzen wartete ich vor dem Büro der Rektorin. War jetzt alles aus? War ich aufgeflogen? Schließlich bat mich Rektorin Lea herein. Sie sah mich prüfend, aber freundlich an, was mir Hoffnung gab. Wenn sie gewusst hätte, dass ich eine Grundbesitzerin war, hätte sie mich ganz anders behandelt.

„Stimmt es, dass du Unstimmigkeiten in Maries Artikeln entdeckt hast?", fragte sie.

Ich hatte vor Nervosität einen trockenen Mund und nickte nur bestätigend. Auf eine auffordernde Handbewegung von Lea hin erzählte ich ihr knapp von der verhüllten Notre Dame und dem Sabbatical von Frau Rückenscheid.

„Wir haben aufgrund der Gerüchte Nachforschungen angestellt", teilte mir Lea mit, „Es war einfach, herauszufinden, dass die Notre Dame im ganzen letzten Jahr verhüllt war. Doch Marie hätte die Eindrücke für ihren Artikel auch im Jahr davor gewinnen können." Nach einer rhetorischen Pause fuhr Lea fort: „Heute hat sich allerdings das Büro für Stipendien der Goldenen Sieben in Essen bei mir gemeldet und mitgeteilt, dass Frau Rückenscheid nie ein solches Interview gegeben hat. Es wurde auch nie ein Interview-Antrag von Marie oder generell von jemandem von unserer Universität gestellt."

Ich hatte es geahnt, doch es jetzt von der Rektorin zu hören war nochmal was anderes. Ich schluckte, um trotz meines trockenen Mundes sprechen zu können: „Marie hat das Interview also tatsächlich frei erfunden?" Unglaublich, denn der beschriebene Organisationsablauf und weitere Details hatte gestimmt, doch das konnte ich Lea nicht sagen, ohne mich zu verraten.

Lea fixierte mit ihrem Blick einen Füller, der vor ihr auf dem Tisch lag. „Ich darf dir keine weiteren Details nennen. Marie ist bereits gestern abgereist, sie ist bis auf Weiteres krankgemeldet. Es wird eine offizielle Untersuchung geben. Schließlich geht es um Täuschung und damit um den möglichen Verweis von unserer Universität."

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