Juni NE 226 - Kapitel 4
Zwei Tage nach meinem Telefonat mit meinem Bruder wurde ein großer, edler Koffer vom Flughafenpersonal an die Universität ausgeliefert. Mein Bruder hatte ihn extra herfliegen lassen. Die Neuigkeiten von der Ankunft des Koffers hatte sich unter den Studierenden schneller verbreitet, als ich vom Sekretariat informiert wurde, dass etwas für mich angekommen war.
Auch die kleine finanzielle Unterstützung meines Bruders war auf meinem Konto eingegangen. Da ich nun durch den Koffer aus Petersburg auch genug Garderobe hatte und ohnehin alle auf dem Campus wussten, wer und was ich war, beschloss ich die Verkleidung als Grundlose aufzugeben.
Ich verschenkte fast alle meine Kleidungsstücke, die ich als Grundlose getragen hatte. Nur zwei Outfits behielt ich, darunter auch den roten Wollpullover, bei dessen Kauf mich Giusi beraten hatte. Man wusste ja nie, was man in Zukunft bei Recherchen für einen Artikel mal alles brauchen konnte.
Die dicken Decken aus dem Labor schenkte ich Finn, der versprach, sie mit nach Hause zu nehmen und sofort zu waschen. Danach wollte er eine behalten und die anderen an seine Schwester und andere Familienmitglieder verschenken.
Nur eine Sache bereitete mir Kopfzerbrechen. Der Abschlussball der im Anschluss an die Diplom-Vergabe gefeiert werden sollte. Natürlich würde ich gerne mit Vasili dort hingehen, den ganzen Abend wild mit ihm tanzen und gemeinsam mit unseren Freunden einen drauf machen. Aber das war einfach zu gefährlich.
Was, wenn wir uns auf der Tanzfläche verliebt ansahen, wenn ich mich von der gelösten Stimmung mitreißen ließ und meinen Arm um ihn legte? Vasili war von meinen Einwänden nicht begeistert gewesen und wie er richtig festgestellt hatte, wäre es auch komisch, wenn Vasili und ich beide ohne Partner auf den Ball gehen würden, wo doch jeder wusste, dass wir befreundet waren. Egal was wir machen würden, ich war jetzt so bekannt, dass jeder darüber reden würde.
Finn ging mit Giusi auf den Abschlussball. Er war der Fotograf in der Abschlussarbeit-Gruppe mit ihr und Jana gewesen und hatte sie schon vor Wochen gefragt. Mona und Lisa hatten sich für ihre Abschlussarbeit mit der Fotografin Ina zusammengetan, die sie über Finn kennengelernt hatten. Ina war sogar die treibende Kraft dahinter gewesen und hatte gleich am Anfang des Projektes Mona gefragt, ob sie mit ihr zum Ball gehen würde. Seitdem beschnupperten sich die zwei vorsichtig, Mona hatte aber zumindest für den Ball zugesagt. Lisa hatte ein blondes Mädchen aus dem zweiten Semester gefragt, mit dem sie schon seit ein paar Monaten zusammen war und hatte somit ebenfalls eine Begleitung.
Nun hatten nur Jana, Vasili und ich noch keine Partner für den Abschlussball. Ich fand keine Lösung und konnte mir auch keinen Rat bei meinen Freundinnen holen, da ich ihnen mein Dilemma nicht schildern konnte. Also beschloss ich, einfach jemanden anzurufen, der mit dem Studium nichts zu tun hatte: meinen Bruder. Auch wenn ich ihm die wahre Problematik ebenfalls nicht schildern konnte, vielleicht hätte er eine Idee.
„Wenn ich ohne Begleitung gehe, wird sich jeder fragen, warum ausgerechnet ich niemanden abbekommen habe. Wenn ich mit Vasili hingehe, was meine Freunde sicher alle erwarten, könnte es Gerüchte geben. Schließlich will ich ihn als meinen Fotografen einstellen", schilderte ich ihm mein Problem am Niki.
„Ok, ich komme."
„Nach Nürnberg?"
„Na, du kannst keinesfalls einen Grundlosen als deine Ballbegleitung wählen", bestätigte mir Aleksandr, „Es muss also ein Grundbesitzer sein. Und da du die Männer schneller entsorgst als deine Schuhe, gibt es soweit ich weiß niemanden, der dafür infrage käme. Also komme ich nach Deutschland und begleite meine Schwester höchstpersönlich auf den Ball."
Ich lächelte breit. Eine geniale Lösung. Vasili konnte mit Jana hingehen und ich mit Aleksandr. Keiner würde sich irgendetwas dabei denken und da Aleksandr mein Bruder war, also kein echtes Date, würde es auch Vasilis Nerven schonen. Perfekt!
Was für ein Kleid ich zum Abschlussball tragen würde, war wesentlich schneller entschieden. Für den Ball an einer Universität für Grundbesitzer hätte ich mir ein neues Kleid schneidern lassen müssen. Doch hier, in der Provinz, umgeben von Grundlosen, tat es auch ein Kleid, das ich mir vor zwei Jahren hatte machen lassen.
Ich wählte ein grasgrünes, das den perfekten Kontrast zu meinen feuerroten Haaren darstellte. Wenn schon auffallen, dann richtig! Das ins Kleid integrierte Mieder betonte meine schlanke Taille. Die engen, glatten Ärmel endeten in hellgrünen Spitzenmanschetten. Der Rock bestand aus unzähligen Lagen Stoff und war mit hellgrüner Spitze und Goldstickereien verziert. Durch die obersten zwei Schichten aus leicht durchsichtiger Seide bekam das voluminöse Ungetüm eine elegante Leichtigkeit. Die barocken Hüftpolster, die auch Grundbesitzer nur zu besonderen Anlässen trugen, gaben dem Rock noch weiteres Volumen, was besonders festlich wirkte. Den Halsausschnitt zierten ebenfalls aufwändige Goldstickereien. Das Kleid hatte ich zuletzt zu einer Vernissage in Moskau getragen. Wie anders war mein Leben damals doch gewesen!
✩
Es war tatsächlich alles glatt gegangen. Mein Bruder hatte noch einen Flug buchen können und war am Tag der Diplomübergabe in Nürnberg angekommen. Schon beim Aussteigen aus dem Taxi, direkt auf dem Hof vor der Mensa, hatte er einen Menschenauflauf verursacht. Rektorin Lea hatte ihn persönlich begrüßt und wir waren den ganzen Tag über wie Ehrengäste behandelt worden.
Das Diplom, das mir genauso wie allen anderen Absolventen unseres Jahrgangs unter Applaus auf einer Bühne in der Aula überreicht worden war, lautete auf meinen richtigen Namen und hatte die Traumnote sehr gut, was ich der mit voller Punktzahl bewerteten Abschlussarbeit zu verdanken hatte. Vasili erhielt neben seinem Diplom mit sehr gut noch eine Auszeichnung als Jahrgangsbester der Universität.
Nach der Diplomübergabe waren wir alle in die Mensa gegangen, die für den Abschlussball mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt worden war. Die Essensaugabe war hinter einem dunkelblauen Samtvorhang verschwunden, auf dem das Logo der Universität prangte. Davor hatte man eine Parkett-Tanzfläche ausgelegt. Der Rest des Saals war mit runden Tischen mit weißen Tischtüchern, dunkelblauen Läufern und Stühlen mit weißen Hussen bestückt. Auf jedem Tisch stand eine Glasschale mit Lichtbändern, die drei dunkelblaue Lilien in Szene setzte.
„Geschmackvoll", raunte mir Aleksandr zu und ich konnte nur zustimmen. Durch den vielen Stoff, der den Schall schluckte, hörte es sich mit den gedämpften Gesprächen und dem leisen Klirren von Gläsern auch mehr nach edlem Restaurant an und ich hatte bald vergessen, dass wir hier eigentlich in der Mensa waren.
Aleksandr und ich wurden auch hier wie Ehrengäste behandelt und konnten deshalb zum Essen leider nicht bei meinen Freunden am Tisch sitzen. Wir saßen mit Rektorin Lea an einem Tisch, gemeinsam mit einigen hochangesehenen Dozentenal. An unserem Ehrengäste-Tisch wurden Speisen auf Grundbesitzer-Niveau aufgetragen, was von den Dozentenal mit Begeisterung aufgenommen wurde. Doch obwohl ich mich freute, dass es endlich mal wieder etwas gab das schmeckte, war es mir doch unangenehm, dass wir anders behandelt wurden als alle anderen im Saal.
Die Gespräche gestalteten sich eher schwierig. Natürlich konnten alle Anwesenden Esperanto, doch unsere Welten waren so verschieden und keiner wusste so recht, über was wir sprechen sollten. Als der letzte Gang des Dinners abgetragen worden war, nutze ich die Gelegenheit, mich zusammen mit Aleksandr in mein Zimmer zurückzuziehen, um mir ein anderes Kleid anzuziehen.
In diesem Ungetüm von Kleid konnte ich vieles, von Eindruck schinden bis einschüchtern, aber ganz sicher nicht tanzen. Aleksandr, der mir bereits vor der Diplomübergabe beim Anziehen des Kleides assistiert hatte, öffnete mit geübten Handgriffen die Schnürungen des ins Oberteil integrierten Mieders und lockerte es soweit, dass ich das Kleid abstreifen konnte.
Das Tanzkleid aus himmelblauer Seide, das ich nun anlegte, war wesentlich unkomplizierter. Es ging nur bis übers Knie und der leichte, weit schwingende Rock ließ mir die nötige Bewegungsfreiheit für die Tanzschritte. Das eng anliegende Oberteil hatte keine Schnürungen und ließ mir so genug Raum auch für tiefere Atemzüge. Während ich mir eine fein gearbeitete Halskette aus Platin umlegte, schloss Aleksandr mit geschickten Fingern die lange Knopfleiste an der Rückseite meines Kleides. Schließlich schlüpften wir beide in unsere Tanzschuhe mit speziellen Ledersohlen und machten uns auf den Weg zurück zum Abschlussball.
Als ich an Aleksandrs Arm würdevoll den Ballsaal alias Mensa betrat, hatte die Band offensichtlich erst vor Kurzem begonnen, zum Tanz aufzuspielen. Das erste Paar betrat gerade die Tanzfläche, weitere Paare hatten sich auf den Weg gemacht. Ich nutze die Gelegenheit, nicht mehr an den VIP Tisch zurückkehren zu müssen und dirigierte Aleksandr direkt auf die Tanzfläche.
Ich genoss es, dass mein Bruder genauso wie ich eine große Palette an Tänzen beherrschte und nicht nur diesen einen Standard-Tanz, den Grundlose so tanzten. Als wir uns schwer atmend dazu entschlossen etwas zu trinken, hatte sich die Gesellschaft bereits soweit aufgelöst, dass wir nicht mehr an unseren ursprünglichen Tisch zurückkehren mussten.
Stattdessen zog ich Aleksandr zum Tisch, an dem meine Freunde saßen. Da Finn und Giusi unermüdlich die Tanzfläche unsicher machten, waren ihre Plätze frei und wir ließen uns dort nieder. Mein Bruder setzte sich neben Vasili und begann mit ihm sofort ein Gespräch. Ich hatte die beiden vor der Diplomübergabe einander vorgestellt und Aleksandr hatte mir gesagt, dass er meinen Fotografen gerne näher kennen lernen würde. Es störte mich nur zu hören, wie Vasili ihn mit Herr Petuchow ansprechen und siezen musste.
Ich lauschte amüsiert dem Gespräch von Ina, Mona und Lisa über die Ballkleider, die unsere Kommilitoninnen so trugen. Ina lästerte zum Teil überraschend bösartig und unterhielt ihre Zuhörerinnen mit lustigen Geschichten aus dem Studienalltag zu der jeweiligen Studentin, deren Garderobe gerade auseinandergenommen wurde.
✩
Als wir den Abschlussball verließen war es schon nach 3 Uhr. Aleksandr rief sich ein Taxi und ließ sich ins beste Hotel in der Nürnberger Innenstadt bringen. Vasili, der sich den ganzen Abend mit meinem Bruder unterhalten hatte, wartete neben mir, bis mein Bruder davongefahren war. Danach gingen wir gemeinsam zu den Wohnblocks.
„Ich bin froh, dass ich es nicht weit bis zu meinem Bett habe. Ich bin müde und habe zu viel getrunken", gestand ich. Aleksandr hatte zu später Stunde einige Flaschen besten Vodka ausgepackt und wir hatten sie gemeinsam mit meinen Freunden und Dozenten geleert.
„Denk heute Abend an die Anti-Kater-Tablette, die ich dir gegeben habe", erinnerte ich Vasili zur Sicherheit nochmal. Ich würde auch gleich eine nehmen, genauso wie es mein Bruder im Hotel mit Sicherheit ebenfalls tat.
„Die werde ich auf jeden Fall nehmen", versicherte Vasili, „Schließlich möchte ich bei meinem ersten Flug morgen nicht Geringste verpassen."
Am Tag nach der Abschlussfeier würde ich noch packen und mich von meinen Freunden verabschieden. Am nächsten Morgen ging es per Flugzeug zusammen mit Aleksandr und Vasili nach Petersburg.
Ich legte Vasili kurz die Hand auf die Schulter. Mehr traute ich mich nicht, schon gar nicht in meinem angeheiterten Zustand. „Gute Nacht", wünschte ich ihm und ging dann zum Eingang des Wohnblocks für Mädchen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top