Juli NE 226 - Kapitel 3

Es hatte doch noch etwas länger gedauert, bis mich meine Mutter gehen ließ. Wäre Vasili ein Grundbesitzer gewesen, wäre meine Mutter von sich aus klar gewesen, dass seine Eltern ihm ebenfalls persönlich zum Diplom gratulieren wollten. Doch ein Grundloser war niemand, auf den man Rücksicht nahm.

Sie hatte mich immerhin um ein Treffen mit Vasili gebeten. Als herausragender Absolvent seines Studiengangs war er ein Aushängeschild für die Goldenen Sieben. Einerseits hatte ich mich gefreut, ihn meiner Mutter vorstellen zu können, andererseits hatte ich größere Bedenken. Denn wenn jemand erahnen konnte, dass ihre Tochter verliebt war, dann doch wohl die Mutter.

An diesem Tag war ich Vasili gegenüber absichtlich abweisend gewesen, so dass mich meine Mutter später gefragt hatte, ob das wirklich der passende Fotograf für mich sei. Aber das war mir lieber gewesen, als irgendwelche Spekulationen von ihr.

Als meine Mutter nach zwei Wochen noch immer alle möglichen Ausreden fand, warum ich unbedingt noch einen Tag in Petersburg bleiben sollte, musste ich die Reise durch Russland zur Inspiration für einen neuen Artikel vorschützen, mit dem Hinweis, dass ich bald einen neuen Artikel veröffentlichen musste. Außerdem versprach ich regelmäßige Mails und Telefonate, damit sie mich gehen ließ.

Vasili und ich reisten wieder per Bahn zu seinem Dorf, allerdings hatte ich in der Magnetbahn für uns ein ganzes Abteil in der ersten Klasse gebucht, damit wir unter uns waren und es uns gemütlich machen konnten. Da die Strecke diesmal wesentlich kürzer war, war die Reise bei weitem nicht so anstrengend.

„Willkommen, Frau Petuchow", begrüßte mich Vasilis Mutter mit einer Verbeugung und blieb steif in der geöffneten Haustür stehen.

Ich sah sie entgeistert an, dann umarmte ich sie einfach. „Für dich immer noch Anna." Vasilis Vater, der bald darauf an die Tür kam, begrüßte ich gleich mit Handschlag, um weitere peinliche Situationen zu vermeiden.

Wir gingen ins Wohnzimmer und setzen uns. Da es nun Hochsommer war, brannte diesmal natürlich kein Feuer. Die Couch hatten Vasilis Eltern vor den Kamin geschoben, was das Wohnzimmer ganz anders wirken ließ.

„Ich möchte nicht anders behandelt werden, als bei meinem letzten Besuch", versicherte ich. Doch das war nicht so einfach. Mit meinem Grundbesitzer-Reisekleid war ich im Flur links und rechts an den Wänden gestreift und belegte nun zwei Sitzflächen auf dem Dreiersofa. Mit einem festlichen Kleid wäre ich vielleicht gar nicht durch die Haustür gekommen. Ich sollte mich dringend umziehen.

Vasili schenkte uns allen Saft ein, den seine Mutter bereitgestellt hatte. Er unterhielt sich mit seinen Eltern über den neuesten Klatsch im Dorf, während ich immer wieder an meinem Saft nippte und aus dem Fenster sah. Hinter dem Nachbarhaus stand eine Reihe Apfelbäume und dahinter begannen die Felder. Mir wurde wieder bewusst, warum der Saft hier so gut schmeckte. Alles eigene Ernte.

„Wie war die Reise?", fragte Vasilis Mutter.

„Diesmal werde ich nicht vor Erschöpfung im Wohnzimmer einschlafen", sagte ich grinsend und dachte an den Morgen zurück, an dem ich desorientiert im Kinderzimmer aufgewacht war.

„Zur Sicherheit sollten wir gleich unsere Sachen ins Gästehaus bringen. Auf meiner Diplom-Feier wird es spät werden", sagte Vasili und zwinkerte mir zu. Ich nickte. Vor dieser Feier musste ich mich dringend umziehen, wenn ich nicht die Stimmung verderben wollte.

Vasilis Mutter erhob sich. „Tut das, wir sehen uns gleich im Versammlungsgebäude." Wir erhoben uns ebenfalls, verabschiedeten uns und ich drückte mich wieder durch den Flur nach draußen.

Für den Besuch bei Vasilis Eltern hatte ich mir extra all meine Hauskleider mitgenommen. Ich hätte mir nie träumen lassen, diese einfach gearbeiteten Kleider jemals außerhalb des Familienflügels zu tragen. Doch hier im Dorf kam nichts anderes infrage, da ich keine Grundlosen-Kleidung tragen wollte. Hauskleider waren ebenfalls maßgeschneidert und man erkannte sofort den Stand der Trägerin. Jedoch waren sie aus einfachen Stoffen wie Baumwolle gefertigt und die Röcke zeitlos, weder zu eng noch zu ausladend, so dass sie die Trägerin nicht behinderten. Diese Kleider überlebten außerdem eine Wäsche zusammen mit der Kleidung von Grundlosen. Da ich nicht den Wäscheservice eines Hotels nutzen konnte, hätte ich sonst Vasili als meinen Assistenten zu einer Reinigung in der Stadt schicken müssen.

Für Vasilis Diplom-Feier wählte ich mein Lieblings-Hauskleid aus hellblauer Baumwolle mit traditionellen russischen Stickereien in weiß und dunkelblau an den Ärmeln und dem Saum. Meine Hochsteckfrisur löste ich auf und flocht mein feuerrotes Haar in einen Zopf.

Die Feier zu Vasilis Abschluss war wieder geprägt von viel zu viel aber vorzüglichem Essen und einer ausgelassenen Stimmung. Zum Glück hatte einer von seinen Onkeln kurz nach dem letzten Gang einige Flaschen selbstgebrannten Vodka hervorgeholt und ihn ausgeschenkt. Während Vasili uns etwas davon holen gegangen war, setzte ich mich für eine kleine Verschnaufpause von all den Gesprächen auf einen Stuhl am Rand.

„Die kleine Anna ist verschwunden", schnappte ich einen Gesprächsfetzen auf. Von mir konnte nicht die Rede sein, aber ich lauschte trotzdem weiter. Vasilis Tante fuhr bestürzt fort: „Die Mutter ist Arzthelferin in der Stadt. Ich habe es von ihrer Kollegin erfahren, als ich heute in der Praxis war. Ihr drittes Kind, erst vier Monate alt, sie stellte es für einen Moment im Kinderwagen vor dem Haus ihrer Freundin ab. Sie hat nur kurz ein ausgeliehenes Kuchenblech zurückgegeben und als sie rauskam, war der Kinderwagen leer!"

„Wer macht denn so was!", rief eine Cousine entsetzt und legte die Arme beschützend um ihr schlafendes Baby, das sie sich in einem Tragetuch umgebunden hatte.

Die Tante erzählte weiter: „Die Polizei ermittelt, aber es gibt wohl keine Zeugen. Es war eine ruhige Seitenstraße, im Schatten von Bäumen, keiner hat etwas gesehen", erzählte Vasilis Tante weiter.

„War nicht vor drei Jahren schon mal ein ähnlicher Fall in der Stadt?", fragte eine andere Tante, „Der Mutter wurde vorgeworfen, sie hätte das Kind getötet und verscharrt. Was für ein Skandal. Wisst ihr noch? Aber es ist nie was gefunden worden und sie behauptete steif und fest, das Kind sei aus dem Kinderbett in ihrem Schlafzimmer entführt worden!"

Vasili kam zurück und drückte mir ein halbvolles Glas Vodka in die Hand. „Was ist los?"

„Deine Tanten unterhalten sich über entführte Kleinkinder."

„Ja, das ist gerade das Thema, das hier alle umtreibt. Manche behaupten, es gäbe eine ganze Reihe an Fällen. Aber das ist eher was für die Klatschpresse, wenn du mich fragst."

Ich nickte und folgte Vasili zu weiteren Cousinen und Cousins, mit denen er noch sprechen wollte.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als ich mit einem Ruck aufwachte. „Hattest du einen Albtraum?", fragte Vasili und beugte sich über mich.

„Die erste Nacht seit langem neben dir und schon habe ich Albträume", versuchte ich die Situation zu entschärfen. Doch er ging nicht darauf ein, sondern musterte mich weiterhin besorgt.

Erschöpft setzte ich mich auf. Das Schlafzimmer des Gästehauses wurde von einem Nachtlicht notdürftig beleuchtet. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb zwei. Seufzend rieb ich mir über das schweißnasse Gesicht.

„Ich habe von entführten Kindern geträumt. Völlig wirres, unzusammenhängendes Zeug. Vermutlich zu viel gegessen." Ich kuschelte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Brust. Sein langsam schlagendes Herz beruhigte mich und sein um mich gelegter Arm gab mir die nötige Sicherheit.

Doch ich konnte noch lange nicht wieder einschlafen. Denn ich hatte nicht nur von entführten Kindern geträumt, sondern auch von Feodora, meiner besten Freundin aus der Schulzeit, die verzweifelt versuchte, schwanger zu werden. Als ich nach meinem Abschluss zurück in Petersburg war, hatte ich sie angerufen und am Ende hatte sie mir länger ihr Leid geklagt, als ich ihr von meiner Zeit als Grundlose berichtet hatte. Diese Verbindung zwischen den Reproduktions-Problemen der Grundbesitzer und den verschwundenen Babys der Grundlosen flößte mir Angst ein.

Während der Feier war immer wieder über dieses verschwundene Baby gesprochen worden. Der Grundbesitzer Niocovat Lenevka, dem dieser Landstrich gehörte, hatte am Tag zuvor persönlich eine Rede gehalten, um seine Angestellten zu beruhigen. Ich hatte mir diese Rede gleich auf meinem Niki angesehen. Er hatte mehrfach betont, dass an den Gerüchten, dass sich die Fälle hier häuften, nichts dran war, dass sich die Fälle hier häuften und dass die Polizei den Fall gründlich untersuchte.

Ich fand es seltsam, dass sich der Grundbesitzer in dieses Thema einmischte. Üblich war das nicht, eine solche Rede wäre Sache eines Polizeisprechers gewesen. Warum hatte sich die Familie eingemischt, wenn an den Gerüchten wirklich rein gar nichts dran war? Meine Neugierde war geweckt und ich beschloss, der Sache nachzugehen.

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