Januar NE 226 - Kapitel 3
Das Fest der Liebe, das in Russland traditionell am 6. Januar gefeiert wird, war schneller gekommen als mir lieb gewesen war. Denn es war auch gleichzeitig das Abschiedsfest für Vasili und mich gewesen. Da die Heimreise wieder mehrere Tage dauern würde, waren wir bald danach wieder nach Nürnberg aufgebrochen. Vasili war auch immer ein paar Tage vor Semesterbeginn zurückgekommen, damit er sich von der Reise erholen und wieder an die Zeitverschiebung gewöhnen konnte, bevor das Semester begann.
Jetzt saßen wir in der Magnetbahn, die vor zwei Stunden in Warschau gehalten hatte und nun bald in ihrem Endbahnhof Berlin ankommen würde. Dort in den Zug nach Nürnberg umsteigen und dann noch mit dem Bus auf den Campus. Ich konnte es kaum erwarten, diese Odyssee endlich hinter mir zu haben.
Das Fest der Liebe im Kreis von Vasilis Sippe kam mir schon jetzt so weit weg, so unwirklich vor. Ich erinnerte mich zurück an die Begegnung mit Vasilis Großmutter. Oder sollte ich es eher Audienz nennen? Während dem Fest hatte sie mich und Vasili zu sich gewunken und ich hatte sie ehrerbietig mit Großmütterchen begrüßt. Und obwohl sie eine Grundlose war, hatte es sich richtig angefühlt, denn sie war das Oberhaupt der Sippe und eine Ratgeberin für alle Bewohner des Dorfes.
„Vas'ka, mein Kleiner", hatte sie ihn mit warmer Stimme begrüßt und ich hatte mir auf die Zunge beißen müssen, um nicht zu kichern, denn die alte Frau war zwei Köpfe kleiner als ihr Enkel. „Hast du schon gehört? Deine Cousine Alina heiratet bald. Ach, es kommt mir so vor, als wäre die Hochzeit ihrer Mutter noch gar nicht so lange her." Ihr Blick war kurz in die Ferne gegangen, doch dann hatte er sich wieder auf Vasili fokussiert: „Weißt du noch, als dein Onkel seine Erina geheiratet hat?"
„Lass gut sein, Großmutter", hatte er gepresst geantwortet, doch seine Großmutter hatte sich bereits mir zugewendet.
„Erina sitzt im Rollstuhl, musst du wissen. Mein Vas'ka hat sie gefragt, ob sie zur Hochzeit ein weißes Kleid anziehen wird. Da Erina nie Kleider, sondern wegen dem Rollstuhl immer nur Hosen trägt, hat sie natürlich verneint. Da ging der Kleine zu seinem Onkel und hat ihn mit ernster Miene gefragt, ob stattdessen er ein weißes Kleid anziehen wird." Vasilis Großmutter hatte vergnügt gegluckst und ich hatte mir ein Lachen nicht verkneifen können.
„Ich war gerade mal drei, Großmutter", hatte er gepresst gesagt und wäre mit Sicherheit am liebsten im Boden versunken.
Er hatte mir leidgetan. Solche Kindheitserinnerungen wurden immer in den unmöglichsten Momenten hervorgezerrt. Meine eigene Großmutter machte das auch immer gerne. Mir war eine dieser Geschichten eingefallen und ich hatte sie ohne zu überlegen zum Besten gegeben. Als ich vier Jahre alt war, hatte mich meine Großmutter auf eine Reise mitgenommen. Es war ein Flug nach Schweden gewesen, wo ich meine Großeltern für ein paar Wochen besucht hatte. Doch Grundlose flogen nicht, so änderte ich es kurzerhand in eine Zugreise ab: „Als wir am Bahnhof ankamen, musste ich unbedingt auf die Toilette. Doch es war alles besetzt. Meine Großmutter ging mit mir deshalb auf eine Behinderten-Toilette. Nachdem ich fertig war, ging auch meine Großmutter noch schnell. Wie jede Behindertentoilette war diese mit einer Taste zum Öffnen der Tür ausgestattet. Sie war rot und genau auf meiner Kopfhöhe angebracht. Trotz allem Flehen und aller Versprechen von meiner Großmutter drückte ich darauf. Meine Großmutter erzählt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass die Sekunden, bis sich die Tür wieder von selbst schloss, die schlimmsten ihres Lebens gewesen sind."
Vasilis Großmutter hatte die Geschichte gefallen. Ich war froh, dass meine Großmutter nie davor erfahren würde, dass ich Grundlosen ausgerechnet diese Geschichte erzählt hatte. Aber mich hat sie auch nie gefragt, bevor sie sie zum Besten gegeben hat. Vasili hatte mich dankbar angelächelt und das hatte mich bestätigt, dass dieser kurze peinliche Moment es allemal wert gewesen war.
Vasili und seine Großmutter hatten sich noch eine Weile über seine Zeit in Deutschland unterhalten. Als wir uns von ihr verabschiedeten, hatte Vasilis Großmutter meine Hände in ihre genommen und mir eindringlich in die Augen gesehen. Vasili hat ihre Augen, das gleiche hellgrau. Ich hatte meinen Blick nicht abwenden können. Dann hatte sie mir ruhig und eindringlich gesagt: Liebe ist das Einfachste und gleichzeitig das Schwierigste auf der Welt.
„Wir müssen umsteigen, Printsessa", flüsterte Vasili und küsste mich sanft auf die Wange. Ich lächelte und schlug die Augen auf. Der Zug fuhr gerade in den Hauptbahnhof von Berlin ein. Da über diesen Bahnhof auch einige Kommilitonen von uns zurückreisten, mussten wir nun wieder vorsichtig sein. Ich bedauerte, dass die unbeschwerte Zeit mit ihm nun vorbei war. Jetzt hieß es wieder zurück in die alten Muster und das Studium gut abschließen.
Wir schnappten unsere Koffer und traten auf den Bahnsteig. Es herrschte ein dichtes Gedränge und ich konnte nur einen flüchtigen Blick auf die beeindruckende Kuppel werfen, die die Gleise überspannte. Nach der Großen Katastrophe war das bei einem Meteoriteneinschlag großflächig zerstörte Berlin teilweise wiederaufgebaut worden. Die meisten Bewohner hatten der Stadt aber bereits den Rücken gekehrt. Berlin war nur noch eine mittelgroße Stadt an einem Verkehrsknotenpunkt. Den Bahnhof hatte man aus mehreren Kuppeln errichtet, deren Gerüst aus miteinander verwebten Glas- und Kohlefasern bestand. Das war nicht nur ästhetisch, sondern auch materialsparend, was typisch war für diese Zeit. Denn kurz nach der Großen Katastrophe waren Baumaterialien knapp gewesen.
„Ab jetzt könnte uns wieder jemand sehen, der uns kennt", erinnerte ich Vasili.
Er brummte und entgegnete genervt: „Wirst du jetzt wieder paranoid und denkst, dass dich jeder umbringt, der dich mit einem Mann Händchen halten sieht?"
„Ich habe dir doch erklärt, es ist kompliziert."
„Schön. Trotzdem könntest du mich so langsam mal einweihen, findest du nicht?", entgegnete er und sah mich herausfordernd an.
Hinter uns lag eine zermürbend lange Zugfahrt und eine unbequeme Nacht im Liegewagen. Ich war erschöpft und mir tat alles weh. Dieses Gespräch war das Letzte, was ich jetzt brauchte! Ich schnappte meinen Koffer und machte mich auf den Weg zum Bahnsteig, an dem der Zug nach Nürnberg abfahren würde.
„Ich nehme mir auch gerne eine Stunde Zeit, falls der Sachverhalt wirklich so anspruchsvoll sein sollte!", rief er mir hinterher.
Ein paar Grundlose sahen verwundert in unsere Richtung. Verstehen konnten sie zwar vermutlich nichts, da Vasili russisch gesprochen hatte, aber allein die Aufmerksamkeit war mir unangenehm.
Ich wartete, bis er zu mir aufgeschlossen hatte, dann herrschte ich ihn an: „Jetzt ist absolut nicht der richtige Zeitpunkt!"
„Der richtige Zeitpunkt kommt nie, oder? Ich hatte gehofft, du würdest im Urlaub mit der Sprache rausrücken. Aber nein!"
Überrascht blieb ich stehen und sah ihn an.
„Und sag jetzt bloß nicht, ich hätte dich einfach fragen sollen", fuhr Vasili mit finsterer Miene fort, „Ich weiß genau, dass du sofort zurückzuckst, sobald jemand irgendwas Persönliches von dir erfahren möchte. Ich wollte dir Freiraum geben, dir die Entscheidung selbst überlassen."
Betreten sah ich zu Boden.
Er redete weiter auf mich ein. „Ich grüble schon die ganze Fahrt über, wie das jetzt mit uns beiden weiter gehen soll. Wie stellst du dir eine Beziehung vor, wenn es niemand erfahren darf?"
Überrascht sah ich ihn wieder an. „Wir haben keine...", begann ich. „Ich dachte...", setzte ich neu an.
Doch er fiel mir ins Wort: „Du dachtest, du kannst im Urlaub meine Freundin spielen und danach kehren wir wieder zur Freundschaft zurück als sei nichts geschehen?"
Ertappt sah ich auf meine Fußspitzen hinunter.
„Weißt du was? Nicht mit mir!", stieß er zornig aus, wendete sich abrupt von mir ab und stapfte davon.
Ich atmete kurz durch, dann folgte ich ihm langsam. Auf der Fahrt nach Nürnberg sprachen wir kein Wort miteinander.
Ich hatte mir durchaus Gedanken darüber gemacht, ob ich Vasili nicht einfach einweihen sollte. Doch ich hatte schon meine Regel mit dem intim werden so gründlich gebrochen, dass ich mich scheute, auch noch meine wahre Identität preiszugeben. Und es würde auch nicht viel nutzen. Eine Beziehung zwischen einer Grundbesitzerin und einem Grundlosen hatte keine Zukunft. Wir könnten vielleicht noch ein paar Mal Spaß haben, aber die Gefahr, dass er mich bewusst oder unbewusst verriet überwog diesen Vorteil.
Bettgespiele nannte man solche Grundlosen, die von der Gesellschaft toleriert, aber verachtet wurden. In der Regel holte man sich so jemanden, wenn die Ehe nicht mehr erfüllend war. Scheidung unter Grundbesitzern und die dadurch resultierende Gütertrennung war eine komplizierte Sache, oft blieben die Paare pro forma zusammen, vergnügten sich aber anderweitig.
Wenn erst mal rauskäme, dass er der Bettgespiele einer Grundbesitzerin gewesen war, wäre das das Aus für seine Karriere. Also hieß es, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen um uns beide zu schützen. Ich kam zu dem Schluss, dass es für Vasili und mich das Beste war, wenn wir auch die Freundschaft aufkündigten.
Als wir in Nürnberg auf den Bus warteten, hatten wir noch immer kein Wort miteinander gesprochen. Ich sammelte mich. Ich musste jetzt stark sein und das Ganze ein für alle Mal klarstellen. „Ich denke, du hast recht", sagte ich leise, „Das mit uns funktioniert einfach nicht. Wir haben keine Beziehung und zurück zur Freundschaft können wir auch nicht mehr. Lass uns das wie zwei Erwachsene angehen und ab jetzt getrennte Wege gehen."
„Wie du meinst", antwortete er kalt. Als der Bus ankam, stieg er nach mir ein und setzte sich ein Stück entfernt von mir hin, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
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