Januar NE 226 - Kapitel 2
„Lass uns aufbrechen", sagte Vasili schließlich am frühen Nachmittag und verstaute seine Kamera in der Tasche. Da er auch noch das Stativ abbauen musste, nutze ich die Zeit, um ein letztes Mal meinen Blick durch den Kraterkessel schweifen zu lassen. Da fiel mir aus dem Augenwinkel ein Busch auf, der heftig schwankte. Gespannt richtete ich mein Fernglas darauf, in der Erwartung, ein großes Tier zu sehen. „Ein Mann!"
„Bist du sicher? Von meiner Sippe ist heute niemand hier und wer sonst sollte hier durch den Wald laufen?", überlegte er und machte den Reißverschluss seiner Fototasche zu. „Wilderer", rief er und entriss mir das Fernglas. Mir wurde mulmig zumute. Zum Glück würden wir bald aufbrechen und auf dem schnellsten Weg zum Dorf zurückfahren.
„Was macht der da nur?", fragte er. Das hatte ich mich auch gefragt. Der Mann hatte sich nicht von der Stelle bewegt und allerlei merkwürdige Verrenkungen gemacht. Er senkte seufzend das Fernglas. „Wir müssen dort hin und der Sache nachgehen. Nur weil das ein Wilderer sein könnte, dürfen wir nicht einfach so tun, als hätten wir nichts gesehen."
„Du willst da hin?", rief ich entsetzt. Vasili begann, unsere restlichen Sachen zusammenzusuchen und erklärte währenddessen: „Ich bin zwar kein Förster oder Wildhüter, aber hier draußen ist es ähnlich wie auf dem Meer: wenn etwas passiert sein könnte, ist man verpflichtet, es zu überprüfen."
Ich wagte nicht, nochmal etwas dagegen zu sagen, aber ich stieg nur ungern wieder auf den Hundeschlitten. Er schlug seitlich ein paar Decken zurück und nahm ein Gewehr aus einer Halterung. „Keine Sorge, ich gehe niemals schutzlos in die Wälder." Er kontrollierte routiniert, ob es geladen war und hängte es sich mit einem Riemen über die Schulter. „Wenn ein Wolf unseren Weg kreuzt, muss ich meine Printsessa schließlich retten können."
Ich fand es alles andere als beruhigend, dass Vasili nun wie der Held aus einem Actionfilm aussah. „Die Szene würde mir im Lichtspielhaus weitaus besser gefallen und wäre sicher genauso packend", sagte ich bedrückt in dem Versuch, die Situation etwas aufzulockern.
Er lachte. „Als ob sich unsereins jemals einen Besuch im Real 4D Kino leisten könnte. Los geht's!" Er ließ die Hunde anziehen und lenkte den Schlitten am Kraterrand entlang, bis wir zu einer Stelle kamen, an der man hinab fahren konnte. Die Bäume wurden schnell kleiner und schließlich waren wir auf einer recht offenen Fläche.
Als wir den sich bewegenden Busch in der Ferne ausmachen konnten, ließ Vasili die Hunde anhalten. Er hatte das Gewehr wohl sofort angelegt, denn als er vom Schlitten stieg, zielte er bereits auf den Mann und ging langsam auf ihn zu. Ich kletterte schnell selbst vom Schlitten, nahm meinen ganzen Mut zusammen und hielt mich dicht hinter ihm. Sobald der Mann uns bemerkte, hob er die Hände über den Kopf. Er hatte längere, hellbraune Haare, die unter seiner Wollmütze hervorschauten und einen kurzen Vollbart.
„Wer bist du?", verlangte Vasili zu wissen und blieb 15 m von dem Mann entfernt abwartend stehen. Dieser sah uns mit verängstigtem Blick an und stammelte etwas in so schlechtem Russisch, dass ich ihn nicht verstand. Schließlich fluchte er und ich erkannte Worte, die auch Mona manchmal verwendete.
„Wer bist du?", versuchte ich es auf Deutsch.
Dem Mann kamen die Tränen. „Dass ich hier draußen auf jemanden stoße, der Deutsch kann." Er begann, zu schluchzen.
„Was hast du zu ihm gesagt?", fragte mich Vasili entgeistert.
Trotz der angespannten Situation musste ich lächeln. Der Mann sagte noch einiges und deutete immer wieder nach unten auf seine Füße, ließ die Hände aber weiterhin erhoben. Meine Deutschkenntnisse reichten aber leider nicht aus, um ihn zu verstehen.
„Er spricht Deutsch. Aber ich verstehe nicht viel. Er will uns wohl irgendwas zeigen."
„Geh hin und schau nach, was er will."
Ich schluckte und ging zögernd an ihm vorbei, weiter auf den Mann zu. Wilderer können kein Deutsch, versuchte ich mich zu beruhigen.
„Aber lauf mir nicht vors Gewehr", setzte Vasili warnend hinzu.
Wird ja immer besser!, dachte ich bang und ging zur Sicherheit in einem leichten Bogen auf den Mann zu.
„Nicht zu nah!", warnte mich Vasili und ich hätte ihm am liebsten gehörig meine Meinung gegeigt. Aber er war vermutlich einfach genauso angespannt wie ich und jetzt war Konzentration das Wichtigste.
Der Mann versuchte es mittlerweile mit Esperanto und so langsam dämmerte mir, was er uns mitteilen wollte. „Er sagt, er ist Wissenschaftler und im Auftrag einer Moskauer Universität hier draußen", rief ich Vasili zu, ohne den Mann vor mir aus den Augen zu lassen. Kurze Zeit später wurde mir auch klar, was er uns zeigen wollte: Sein Fuß steckte in einer rostigen Falle, die mich an eine Bärenfalle in einem Western erinnerte. Entweder der dümmste Wilderer des Planeten oder wirklich ein Wissenschaftler.
„Lass dir seinen Ausweis zeigen!", rief Vasili von hinten.
Ich erklärte dem Mann auf Esperanto was ich wollte und er deutete vorsichtig auf seine Jackentasche, ließ seine Hände aber weiterhin oben und sah immer wieder nervös zu Vasili hinüber. Seinen gestammelten Worten entnahm ich, dass er uns für Wilderer hielt. Ich sagte ihm kurzerhand: „Vasili ist ein Förster, wir wohnen in einem Dorf in der Nähe." Diese einfache Erklärung konnte ich ihm sogar auf Deutsch klar machen, auch wenn ich Vasili zum Waldarbeiter degradieren musste, da ich das Wort für Förster nicht kannte. Meine Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf den Mann.
Ich griff in seine Jackentasche und holte einen Schlüsselbund hervor, an dem eine ID-Karte hing. Ich erkannte das Logo einer Universität in Moskau, daneben das Bild eines glattrasierten jungen Mannes mit kurzen Haaren, der nur wenige Jahre älter als ich wirkte und seinen Namen: Liam. Ein Geologe aus Deutschland. Ich musterte kurz den zerzausten Mann, aber es war wirklich derselbe wie auf dem Ausweis.
Ich drehte mich zu Vasili um. „Er sagt die Wahrheit!", rief ich ihm zu. Er ließ das Gewehr sinken und kam zu uns. Liam nahm erleichtert seine erhobenen Hände herunter und bat mich, ihn von dem Ding an seinem Fuß zu befreien.
Ich deutete auf die Falle und grinste Vasili an. „Hier scheint Kraft alles zu sein. Ein Fall für dich." Vasili verzog den Mund, verkniff sich aber einen Kommentar und kniete sich nieder. Er inspizierte die Falle, werkelte kurz daran herum und drückte sie dann auseinander. Nachdem sie eingerastet war, half ich Liam, sein Bein aus der Falle zu heben. Vasili holte einen Stock und stieß damit die Falle an, die prompt um den Stock wieder zusammenschnappte.
✩
Als wir zu der Stelle kamen, an dem Liam seine Ausrüstung zurückgelassen hatte, war dieser bereits vor Erschöpfung auf dem Hundeschlitten eingeschlafen. Nach der Befreiung aus der Falle hatten ihn Vasili und ich in die Mitte genommen und gestützt, zum Hundeschlitten gebracht und dort erst mal mit den Resten von unserem Tee und Essen aufgepäppelt. Er hatte uns gebeichtet, dass er seinen schweren Rucksack mit der gesamten Ausrüstung heute Morgen an einem aus dem Kraterrand herausgebrochenen Felsbrocken stehen gelassen hatte, um die Umgebung zu erkunden. Nach seinem Tritt in die Falle, die im Boden verankert war, war sein Rucksack damit in unerreichbarer Ferne.
Um die Hunde zu schonen, waren Vasili und ich neben dem Schlitten hergegangen. Zum Glück war der Felsen nicht schwer zu finden und auch den Rucksack hatten wir bald entdeckt. Vasili durchsuchte ihn sofort, fand das Funkgerät und rief einen Rettungshubschrauber. Er gab unsere Position durch, seine eigenen Daten und das, was auf Liams ID-Karte stand.
„Das rostige Ding lag dort vielleicht schon länger unentdeckt. Es könnte aber auch frisch ausgelegt worden sein. Wir sollten zur Sicherheit wachsam bleiben", sagte Vasili. Er setzte sich mit dem Rücken zum Felsen so hin, dass er den Schlitten, die Hunde und das Gelände im Blick hatte. Das mit dem wachsam bleiben war mir nicht entgangen, er hatte sein Gewehr nicht wieder verstaut und hielt es auch nun über die Knie gelegt.
Als wir das Brummen des Hubschraubers hörten, dämmerte es bereits. Eigentlich hätten wir jetzt bereits wieder im Dorf sein wollen. Während Vasili den Hubschrauber durch Schwenken einer roten Decke auf uns aufmerksam machte, weckte ich Liam. Als der Helikopter im Schwebeflug über uns stand, wurde eine Notärztin über eine Seilwinde zu uns hinuntergelassen. Sie war nur einen kurzen Blick auf Liams Bein, dann halfen wir ihr dabei, Liam mit Gurten am Seil zu befestigen.
Liam bedankte sich überschwänglich bei uns und da wurde er auch schon gemeinsam mit der Notärztin über die Seilwinde zum Hubschrauber hinaufgezogen. Noch während den beiden ins Innere des Hubschraubers geholfen wurde, drehte der autonom fliegende Hubschrauber ab, um Liam in das nächste Krankenhaus zu bringen.
Vasili hüllte mich auf dem Schlitten sorgfältig in Decken und wir traten den Heimweg an. Als wir mit dem Hundeschlitten endlich wieder zurück in sein Dorf kamen, waren wir erschöpft und durchgefroren. Zum Glück hatte man Vasilis Eltern verständigt, so dass wir erwartet wurden, sich gleich jemand um die Schlittenhunde kümmerte und für uns ein warmes Bad eingelassen wurde.
Unterm Strich hatten wir einen wundervollen Tag im Naturschutzgebiet verbracht. Vasili hatte jede Menge Fotos geschossen. Dazu noch ein waschechtes Wildnis-Abenteuer mit Nervenkitzel und einer guten Tat und die Fahrt mit dem Hundeschlitten war sowieso der absolute Wahnsinn!
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