Februar NE 226 - Kapitel 2
Ich schlenderte durch die Mensa und begutachtete die ausgestellten Bilder des Studiengangs Fotografie. Hier hatten Vasili und ich uns kennen gelernt. Das kurze Gespräch mit Finn vor ein paar Tagen war mir nicht aus dem Kopf gegangen. Auch ohne seine Schilderung wusste ich, dass es Vasili quälte. Auch ich litt. All die Wochen hatte ich gehofft, dass es uns beiden bald besser gehen würde. Dass ich bald darüber hinwegkommen könnte, dass Vasili nun kein Teil meines Lebens mehr war.
Einer der Erstsemester hatte die Gewinnung von Meeressalz in Frankreich festgehalten. Von Hand gewonnenes Salz war ein Must-have für Grundbesitzer, die ihren Reichtum zur Schau stellen wollten. Vor dem Foto einer frisch abgeschöpften Fleur de Sel blieb ich stehen. Es trug den Titel Die Salzblume des Salzprinzen. Der Salzprinz war ein slowakisches Märchen, das als Kind zu meinen absoluten Lieblingsgeschichten gehört hatte.
Die Prinzessin versichert ihrem Vater, dass sie ihn so sehr liebt wie das Salz. Er findet das eine Frechheit. Wer will Salz, wenn er Gold haben kann? Der Salzprinz hört davon und verwandelt alles Salz des Königreiches in Gold. Der König ist begeistert und feiert sein Glück. Doch die Speisen schmecken ohne Salz nicht mehr und die Bewohner des Reiches werden durch den Salzmangel krank. Der König muss einsehen, dass Salz wichtiger ist als Gold, da es ohne Salz kein Leben geben kann.
Jetzt wieder an das Märchen erinnert zu werden stimmte mich nachdenklich. Ich hatte es die ganze Zeit nicht wahrhaben wollen, doch ich musste mir eingestehen, dass es auch für mich mehr als nur Freundschaft war. Vasili war das Salz. Ohne ihn waren die Studentenpartys öde, das Essen der Mensa ungenießbar und die Sonne auf der Liegewiese im Park gedimmt und nur lauwarm.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Meine bescheuerten, rationalen Vorsätze, an die ich mich klammerte, hatten mich in eine Situation gebracht, in der ich nicht sein wollte. Das fühlte sich nicht nur falsch an, es war falsch!
Entschlossen drehte ich der Fotografie den Rücken und eilte zum Wohnblock für Jungs. Ich hämmerte gegen Vasilis Tür. Als er mir die Tür öffnete schob ich ihn ins Zimmer, schloss die Tür hinter uns und warf mich ihm an den Hals.
Etwas überrascht taumelte er zurück. Als ich ihn küssen wollte, schob er mich sanft, aber bestimmt von sich. „So geht das nicht. Du kannst nicht immer zu mir kommen, um irgendwelche Bedürfnisse zu stillen und mich danach wieder ins Wartezimmer abschieben."
„Ich weiß. Es tut mir leid", sagte ich mit erstickter Stimme und plötzlich liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich wischte sie energisch weg. „Ich hätte dich gerne immer an meiner Seite", flüsterte ich, „Aber es darf niemand von unserer Beziehung erfahren. Es tut mir so leid."
Als ich diesmal einen Schritt auf ihn zuging, schloss mich Vasili in seine Arme. Wir klammerten uns wie Ertrinkende aneinander. Ich spürte seinen schnellen Herzschlag, der dem meinen in nichts nachstand. Noch immer flossen bei mir die Tränen, aber diesmal waren es Tränen der Erleichterung, die in sein Shirt sickerten. Ich fühlte mich angekommen und geborgen. Kein Grundbesitzer hatte mich je so fühlen lassen wie er.
„Erzählst du mir, warum niemand von unserer Beziehung wissen darf?", fragte er leise.
Ich nickte an seiner Schulter. „Ich habe geplant, Ende dieses Semesters allen das Geheimnis zu verraten. Aber du hast es verdient, dass ich es dir jetzt schon sage."
Wir setzten uns nebeneinander auf sein Bett und ich fixierte den Teppich, der vor dem Bett lag, während ich fieberhaft überlegte, wie ich am besten anfangen sollte. Ach übrigens: wenn es bei einem Trinkspiel darum geht, ob du mal was mit einer Grundbesitzerin hattest, dann musst du ab jetzt trinken.
Ich hätte mir vorher überlegen sollen, was ich jetzt sagen könnte! Ich starrte weiter stur auf den Teppich und sagte das nächstbeste, was mir einfiel. Es sprudelte aus mir heraus: „Ich bin nicht die, für die ich mich ausgebe, ich bin Grundbesitzerin." Nervös hielt ich inne und wartete auf seine Reaktion.
„Wir Grundlose sind nicht ganz so blöd wie Grundbesitzer denken, Anastasia", sagte er ruhig. Perplex hob ich den Kopf und sah zu Vasili, dieser grinste mich nur an. „Welche Grundlose würde Luxus-Packung Nürnberger Lebkuchen als Gastgeschenk mitbringen?"
„Wie lange weißt du es schon?", fragte ich tonlos.
„Als du mir nach unserer Rückkehr wieder nur kalte Schulter gezeigt hast, hatte ich Zeit zum Grübeln. Ich habe nachgeschaut, was solche Lebkuchen kosten", erklärte er. Ich spürte vor allem Erleichterung, dass er es in unserem Urlaub noch nicht gewusst hatte. Das war also alles echt gewesen.
„Dann kam mir verrückte Gedanke, dass du vielleicht keine Grundlose bist", fuhr er fort, „Plötzlich hat alles Sinn gemacht. Warum du es hasst, über deine Vergangenheit zu sprechen. Warum dein Esperanto makellos ist. Warum Essen in Mensa unter deiner Würde ist. Ich habe Familie Petuchow recherchiert und da war Foto von dir mit rotem Haar."
Er hatte es also erst nach unserem Streit erfahren. Und obwohl er mit Sicherheit sauer auf mich gewesen war, hatte er mich nicht verraten.
„Meine Familie gehört zu den reichsten der Welt. Besonders bekannt sind die großen Roboterfabriken, Petuchow Robotico, außerhalb von Moskau, die alle uns gehören", sagte ich, unsicher was ich sonst hätte tun sollen.
„Und du hast Muttermal an Innenseite deines Oberschenkels. Das weiß ich schon alles, erzähl mir etwas Neues", fiel er mir ungeduldig ins Wort, „Warum gibst du dich als Grundlose aus?"
„Für meinen Vater kommt es nicht infrage, dass mein Bruder oder ich einen normalen Beruf ausüben. Wir sollen die Geschäfte der Familie führen, standesgemäß heiraten und Nachkommen in die Welt setzen. Ich wollte das alles nicht und stattdessen Journalistin werden."
Ich erzählte Vasili von meinem Entschluss, als Grundlose zu studieren, da meine Ersparnisse für mehr nicht ausreichten. Von den Maßnahmen wie dem Fälschen der Zeugnisse, die dafür nötig gewesen waren und schließlich von meinen Plänen, meine Identität kurz vor meinem Abschluss öffentlich zu machen, um ein Abschlusszeugnis auf meinen richtigen Namen zu erhalten und dann als anerkannte freie Journalistin zu arbeiten.
Als ich mit meinen Ausführungen fertig war, sagte er nichts dazu. „Und jetzt?", fragte ich verunsichert.
„Was soll jetzt sein?", brummte er. Dann sah er mir in die Augen. „Es wäre mir lieber, du wärst tatsächlich Verwalter-Tochter, für die du dich ausgegeben hast. Aber für einen Rückzieher ist es bereits zu spät. Du wolltest mir gerade deine immerwährende Liebe gestehen, machen wir doch einfach da weiter." Wir mussten lachen und alle Sorgen fielen von mir ab. Ich setzte mich auf Vasilis Schoß und wir küssten uns innig.
Wir führten an diesem Tag noch ein langes und intensives Gespräch, in dem ich ihm meine echte Vergangenheit beschrieb, vom Streit mit meinem Vater erzählte und erklärte, warum ich inkognito studierte. Als Finn nach dem Ende seines Esperanto-Kurses ins Zimmer platze und mich auf dem Bett sitzen sah, war er zufrieden lächelnd sofort wieder verschwunden und hatte uns bis zum Abendessen in Ruhe gelassen.
Als wir in die Mensa kamen, wussten die Mädels bereits von unserer Versöhnung und freuten sich schon fast übertrieben für uns. Wir quetschten uns zu siebt an einen der Mensatische, die eigentlich nur für sechs Personen gedacht waren. Irgendwie gehörten nun auch Vasili und Finn zu unserer Gruppe.
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