Februar NE 224 - Kapitel 2
Um mich europaweit an den Universitäten für Grundlose bewerben zu können, ließ ich kurzerhand mein Abschlusszeugnis fälschen. Ein Anruf bei einem ehemaligen Klassenkameraden, der jemanden kannte, der jemanden kannte und die Sache war erledigt. Der Notendurchschnitt blieb gleich, doch schon die Schulfächer, die Grundlosen unterrichtet wurden, unterschieden sich von denen der Grundbesitzer. Vor allem war nun statt der teuren Privatschule die ich besucht hatte eine Petersburger Schule für Grundlose eingetragen und statt meinem Namen Anastasia Petuchow stand dort nur noch: Anna.
Dazu noch einen gefälschten Grundlosen-Ausweis und fertig war meine neue Identität. Das alles hatte eine stolze Summe gekostet, doch auf meinem Sparkonto war noch genug übrig, um als Grundlose jahrelang davon leben zu können.
Es war merkwürdig, nun keinen Nachnamen mehr zu haben, aber wozu würde eine Grundlose auch einen Familiennamen brauchen? Ich hatte beschlossen, als Tochter einer der Verwalter meiner Familie aufzutreten. So konnte ich wahrheitsgemäß erzählen, dass ich aus Petersburg kam und es würde sich auch keiner wundern, dass ich mich auf dem Besitz und in den Geschäften der Familie Petuchow gut auskannte.
Ich stellte eine Geldkarte für Anna aus, wie sie alle Angestellten des Petuchow Imperiums bekamen. Das war recht unauffällig: solange niemand Geld vermisste, würde keiner Nachforschungen anstellen. Da ich der Karte vollen Zugriff auf mein Konto gab, würde ich darüber genauso problemlos auf mein Erspartes zugreifen können wie über mein Niki.
✩
Während der kommenden Monate, in denen ich darauf wartete, ob ich eine Zusage zum Studium erhalten würde, sah ich den Palast mit anderen Augen. Wenn alles glatt ging, würde ich bald für zwei Jahre das Leben einer Grundlosen führen. Ich stellte fest, dass ich darüber kaum etwas wusste. Ich saß hier im goldenen Käfig.
Annehmlichkeiten wie den Zimmerservice oder Luxusgüter wie mein geliebter Schokokuchen – alles Dinge, auf die ich bald würde verzichten müssen. Ich hatte Bilder von den Studentenunterkünften gesehen, die Betten sahen schon auf den Fotos schmal und hart aus. Was aßen die Grundlosen überhaupt? Ich hatte gehört, dass sie nur Fleischersatz bekamen oder viel mit Aroma gearbeitet wurde statt Obst und Gemüse zu verwenden, hatte mich aber nie dafür interessiert, was das genau war.
Die Grundlosen, die ich kannte, waren alle als Bedienstete bei uns angestellt. Ich traf höchstens noch einen der Verwalter, die jedoch alle vor meiner Familie katzbuckelten.
Mir war von Kindesbeinen an eingebläut worden, bei Grundlosen vorsichtig zu sein. Sich mit ihnen anzufreunden stand außer Frage. Als Kinderpflegeral* für meinen Bruder und mich hatten meine Eltern Grundbesitzeral eingestellt. Die waren zwar wesentlich teurer als Grundlose, aber dafür hatte man die Sicherheit, dass sie nicht irgendwann Hungerleider sein würden, denen man dann helfen musste, weil man sich dazu verpflichtet fühlte.
* m / w / d - Für mehr Gleichberechtigung im Jahre NE 14 eingeführte Form.
Für meine Bewerbung als Journalistin hatte ich ein paar Schulaufsätze aufbereitet. Das ohnehin gefälschte Zeugnis war nicht ausschlaggebend, man musste ein gewisses Talent fürs Schreiben vorweisen, um angenommen zu werden. Ich war da ganz zuversichtlich, denn auf die Idee, Journalistin zu werden, hatte mich ursprünglich mein Lehrer für Esperanto und Politik gebracht. Ich weiß, Ihr Lebensweg steht bereits aufgrund Ihrer Herkunft fest, aber Sie hätten Talent für den Journalismus, hatte er gesagt. Auch in den anderen Fächern waren meine Referate immer sehr gut bewertet worden. Nach und nach hatte mir diese Idee immer besser gefallen.
In einem Aufsatz aus meiner rebellischen Phase mit 16 hatte ich für ein Schulprojekt die körperlichen Unterschiede zwischen Grundbesitzern und Grundlosen ausgearbeitet. Allerdings hatte ich angezweifelt, dass die extrem niedrigere Entlohnung und die daraus resultierende niedrige gesellschaftliche Stellung wirklich dadurch gerechtfertigt werden konnte.
Der Lehrer hatte getobt. Der Rektor hatte getobt. Mein Vater hatte mehr als nur getobt und ihm war zum ersten und einzigen Mal die Hand ausgerutscht. In meiner Familie durfte man so einiges, aber auf keinen Fall die Weltordnung anzweifeln!
Die Gründe für die Weltordnung mit den reichen Grundbesitzern und den armen Grundlosen waren bereits von vielen hochbezahlten Wissenschaftlern erörtert worden. Wobei ich gerade wegen dem hochbezahlt die Ergebnisse anzweifelte.
Ein unschlagbares Argument war natürlich, dass nie alle Menschen gleich viel besitzen konnten. Es wird immer Menschen geben, die mehr besitzen als andere. Grundbesitzer achteten stets darauf, dass Grundlose keine Chance hatten, Land zu kaufen. Zum einen würden sie niemals genug verdienen, um es kaufen zu können. Zum anderen heirateten Grundbesitzer nur untereinander. Eine Beziehung zu einem Grundlosen war undenkbar, außer vielleicht als Bettgespiele ohne weitere Bedeutung.
Manche Wissenschaftler sprachen von einer natürlichen Ordnung und begründeten diese damit, dass sich Grundlose und Grundbesitzer auch körperlich voneinander unterscheiden. Grundlose waren im Durchschnitt 10 cm kleiner als Grundbesitzer. Allerdings gab es Gerüchte, dass Grundbesitzer bei ihren Kindern gerne mit Wachstumshormonen nachhalfen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Eltern bei meinem Bruder und mir nicht etwas nachgeholfen hatten, damit wir eine stattliche Körpergröße erreichten.
Auch die Lebenserwartung von Grundbesitzern war deutlich höher als die der Grundlosen. Doch wenn man betrachtete, was man sich als Grundbesitzer so alles an medizinischen Finessen leisten konnte, war dies auch nicht weiter verwunderlich.
Zuletzt war da noch das Ding mit der Fruchtbarkeit. Während Grundlose damit offensichtlich keine Probleme hatten, starben manche Grundbesitzer-Familien aus, weil keine Nachkommen gezeugt werden konnten.
Der augenscheinlichste Unterschied war der Kleidungsstil. Grundbesitzer ließen sich möglichst teure, maßgeschneiderte Roben aus erlesenen Stoffen schneidern. Alle paar Jahre war ein anderer antiker Modestil en vogue und in Russland musste es dann natürlich immer noch ein bisschen übertriebener und mit mehr Rüschen sein als im Rest der Welt. Grundlose hingegen trugen schlichte Hosen, Röcke, Shirts und Pullis aus einfachen Stoffen, die zeitlos waren und meistens getragen wurden, bis sie Löcher bekamen. Jedes Jahr ein neues Outfit war bei deren niedrigen Gehältern eben nicht drin.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top