Februar NE 224 - Kapitel 1

„Wieso kannst du nicht so sein wie dein Bruder und einfach mal machen, was ich dir sage?", schrie mein Vater.

„Weil ich eben nicht wie meine Mutter bin!", brüllte ich, „Sondern mehr wie mein Vater!"

Seine Mundwinkel zuckten leicht und kurz meinte ich, Vaterstolz in seinen Augen zu sehen. Doch dann verfinsterte sich seine Miene wieder. Er lehnte sich betont langsam in seinem Chefsessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Hinter dem ausladenden Schreibtisch aus der Zarenzeit sah das durchaus eindrucksvoll aus.

Mir wurde mulmig. Solange wir uns anbrüllten war alles halb so wild. So stritten wir uns nun mal. Aber wenn er ganz ruhig wurde, wurde es gefährlich.

„Ich unterstütze deine Pläne nicht, Anastasia. Und ich bin es leid, ständig wieder von dir damit genervt zu werden. Deshalb bekommst du erst wieder Geld, wenn du zur Vernunft gekommen bist."

Ich trat einen Schritt näher an seinen Schreibtisch heran und bemühte mich um einen sachlichen Verhandlungston. „Du kannst mir mein Geld nicht wegnehmen, ich bin 20 Jahre alt und damit eindeutig erwachsen. Wir leben im Jahr 224 der Neuen Epoche und nicht mehr im Mittelalter."

„Wenn ich es wollte, würde ich auch erreichen, dass du nicht mehr an dein Erspartes kommst. Das weißt du. Aber ich denke es reicht völlig aus, dir dein monatliches Taschengeld zu streichen."

Ich schluckte. Dieses Taschengeld, mein Gehalt, für das ich allerdings nicht arbeiten musste, war eine stattliche Summe. Schließlich gehörten wir zu den reichsten Familien Russlands.

„Du kannst machen was du willst. Doch sobald du hier weggehst, um ein Journalismus-Studium zu beginnen, erhältst du von mir keinen Cent mehr." Mein Vater wandte sich demonstrativ seinem Bildschirm zu, das Gespräch war beendet.

Frustriert über die endgültige Niederlage warf ich meine langen, feuerrot gefärbten Haare zurück, stürmte aus dem Zimmer und knallte die schwere Eichentür hinter mir zu. Dank seinem Faible für die Zarenzeit war die Tür zum Büro meines Vaters zum Glück keine automatische Schiebetür. Denn Türenknallen hatte etwas ungemein Befriedigendes für mich.

Ich wusste, dass mein Vater es hasste, wenn ich mich undamenhaft verhielt. Meine kleine Rache! Ich stürmte durch den mit weiteren antiken Möbeln dekorierten Flur, auf dem sich neben dem Büro meines Vaters und dem seiner drei Assistenten nur Besprechungszimmer befanden. Als ein Saugroboter nicht schnell genug das Weite suchen konnte, kickte ich ihn kurzentschlossen beiseite. Er blieb auf dem Rücken liegen und piepte mitleiderregend. Nun etwas ruhiger, ging ich einfach weiter meines Weges. Sollte sich doch einer unserer vielen Bediensteten darum kümmern, den Roboter wieder in Gang zu bringen.

Hoffentlich würde die Mode bald wieder weniger ausladend werden. Der aktuelle Stil war stark an den Barock angelehnt. Der Rock meines Kleides bestand aus unzähligen Lagen Stoff in verschiedenen Blautönen und war mit Spitze und Goldstickereien verziert. Wenn einem so ein kleiner, niedriger Saugroboter im Weg stand, kam man mit dem bodenlangen Ungetüm fast nicht daran vorbei.

Ich stürmte ins Treppenhaus und zwei Stockwerke tiefer in einen Gang, der den Flügel mit den Büros mit dem Familienflügel verband. Alles bei meiner Familie musste pompös sein. Ein Wohnhaus war nicht gut genug, wir wohnten in einem Palast, etwas außerhalb von Petersburg.

Mit langen Schritten eilte ich weiter durch die Gänge und eine Treppe hinauf. Oben angekommen atmete ich erst einmal tief durch und hielt mich am Geländer fest. Durch meine Wut war ich viel zu schnell nach oben gegangen und es machte sich bemerkbar, dass das Kleid, das ich heute gewählt hatte, gute 6 kg wog.

So ein durch Unterröcke aufgebauschter Rock kam schnell auf eine Breite von über einem Meter. Als ich zu einem Torbogen kam, musste ich genau die Mitte treffen, um nicht unvorteilhaft hängen zu bleiben. Mein Kleid hatte enganliegende, glatte Ärmel aus hellblauer Seide, mit Spitzenmanschetten. Das ins Kleid integrierte Mieder betonte meine schlanke Taille. Was mich aber total nervte: mein ohnehin schon kleiner Busen wurde plattgedrückt, so dass ich aussah wie ein Brett!

Nach einem Fußmarsch von geschlagenen fünf Minuten kam ich endlich in meinem Zimmer im Familienflügel an. Sobald sich die mit feinen Goldarbeiten verzierte Schiebetür hinter mir wieder geschlossen hatte, warf ich mich frustriert in die Kissen meines Bettes.

Die Nachmittagssonne schien durch die bodentiefen Fenster auf das Parkett, die hellgelben Stofftapeten und die Eichenmöbel aus einer Manufaktur. Zwei Türen führten zu meinem Ankleidezimmer und meinem Bad. Zu einer Suite fehlte nur noch ein Zimmer, in dem ich Gäste empfangen könnte, doch repräsentative Räume gab es im Palast genug.

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte wütend die Stuckdecke an. Wie sollte ich nur gegen den Willen meines Vaters ankommen? Er war der Patriarch unserer Familie, der keine Widerworte duldete. Hatte er einmal einen Entschluss gefasst, war dieser in Stein gemeißelt und er würde sich schon aus Prinzip nicht mehr umstimmen lassen.

Auf jeden Fall erst mal Nervennahrung! Am besten meinen Lieblingskuchen. Ich klatschte zweimal in die Hände und rief: „Service!" Dann gab ich dem Zentralrechner meine Bestellung durch: „Zwei große Stücke Schokoladenkuchen mit Sahne." Durch den aus Südamerika importierten Kakao war Schokoladenkuchen mit 3 Teuro* pro Stück recht teuer, aber einfach der Beste. Für ein Frustessen einfach genau das Richtige!

* im Jahre NE 178 in den Duden aufgenommene Bezeichnung für eintausend Euro, wird im Gegensatz zum buchhalterischen TEUR im Schriftverkehr verwendet.

Ich hatte der Küche extra Anweisung gegeben, stets etwas Schokoladenkuchen vorrätig zu haben, damit ich jederzeit davon essen konnte. Die Lieferung sollte also nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Nach Ablenkung suchend griff ich zu meinem Niki*. Schon wieder Vater verärgert? Die Bediensteten haben den Zarenflügel fluchtartig verlassen!, hatte mein Bruder Aleksandr geschrieben. Wir nannten den Flügel, in dem unser Vater seine Geschäfte steuerte, den Zarenflügel. Wladislaw Petuchow war ein großer Fan dieser Zeit und hätte gegen den Titel Zar sicher nichts einzuwenden gehabt.

* von komuniki, Esperanto für kommunizieren. Im Jahre NE 89 in den Duden aufgenommene umgangssprachliche Bezeichnung für ein Kommunikations- und Bedienungs-Multitool, das über Gedanken gesteuert wird.

Ich schilderte meinem Bruder kurz den Entschluss unseres Vaters, mir kein Geld mehr zu geben, falls ich meinen Traum vom Journalismus-Studium wahr machte. Entschuldige mich bei Mutter, ich werde heute nicht zum Dinner erscheinen, schrieb ich ihm noch, dann legte ich das Niki weg. Zum Abendessen wollte ich meinem Vater nicht schon wieder begegnen, da ließ ich es lieber ausfallen.

Da klopfte es an meine Zimmertür. Ich rief die Bedienstete herein und wies sie an, den Kuchen auf mein Bett zu stellen. Nachdem diese vorsichtig das Tablett auf der Bettdecke abgestellt hatte verabschiedete sie sich mit der für Grundlose üblichen, kleinen Verbeugung und huschte dann schnell davon. Das Personal wusste, dass man mir besser aus dem Weg ging, wenn ich mir Schokoladenkuchen aufs Zimmer bringen ließ.

Ich schob mir erst einmal die erste Ladung Kuchen in den Mund und stopfte mir dann einige Kissen in den Rücken. Manchmal wäre es angenehmer, sich von Robotern bedienen zu lassen. Ich hatte das meinen Eltern auch schon vorgeschlagen. Aber wer richtig viel Geld hatte, konnte sich eben Personal aus Fleisch und Blut leisten, da ging es meinem Vater um die Reputation der Familie Petuchow. So war auch dieser Vorschlag auf taube Ohren gestoßen.

Ich lag die halbe Nacht wach und grübelte, was ich jetzt tun sollte. Als Mitglied der Familie Petuchow war mein Weg eigentlich klar vorgegeben. Der Hauptgeschäftszweig meiner Familie war die Entwicklung und Fertigung von Robotern für Tätigkeiten, die nur eine künstliche Intelligenz der Stufe 1 und 2 erforderten. Also alles, was ohne emotionale Kommunikation mit Menschen auskam. In unseren Werken außerhalb von Moskau liefen täglich tausende Roboter für die Ernte, Reinigung und Essenszubereitung vom Band. Mein Bruder und ich würden in die Geschäfte unseres Vaters einsteigen und das Unternehmen mit ihm gemeinsam leiten. Mein drei Jahre älterer Bruder studierte dafür auch brav Wirtschaft an der besten Universität für Grundbesitzer in Moskau.

Doch ich hatte andere Pläne. Ich wollte die Welt sehen, und das nicht nur im Urlaub. Ich wollte Journalistin werden! Das passte meinem Vater nicht. Journalisten gab es durchaus auch unter Grundbesitzern, allerdings nur aus den ärmeren Familien, in denen jedes Familienmitglied Geld verdienen musste. Mein Vater fürchtete um unser gesellschaftliches Ansehen, wenn ich einen richtigen Beruf ausüben würde.

Und nicht nur das. Als Sprössling einer Grundbesitzer-Familie war es auch meine Aufgabe, für den Fortbestand der Familie zu sorgen. Doch wie so viele war auch ich von der steigenden Unfruchtbarkeit der Grundbesitzeral* betroffen. Meine Werte bei der Untersuchung waren so schlecht, dass ich Kinder eigentlich abschreiben konnte. Das war auch ein Grund dafür, dass ich wenigstens einen Beruf erlernen wollte, der mir Spaß macht. Denn das hochgejubelte Mutterglück würde mir wohl versagt bleiben. Ich hatte aber nicht das Gefühl, mir würde da irgendwas entgehen.

* m / w / d - Für mehr Gleichberechtigung im Jahre NE 14 eingeführte Form.

Unter vorgehaltener Hand lästerten die Grundlosen, dass jahrzehntelanger Inzest der Grundbesitzer zu der Unfruchtbarkeit geführt hatte. Da war durchaus etwas dran und das war eines der Themen, die ich gerne recherchieren würde, um darüber einen Artikel zu schreiben.

Der Wunsch nach Kindern war vielleicht der Grund, warum mein Vater meine Mutter erwählt hatte. Sie stammte aus einer kleinen Stadt westlich des Ural-Gebirges. Mein Vater hatte sie im Urlaub kennen gelernt und sie hatten sich verliebt, ohne dass meine Mutter wusste, wer er war. Selbstverständlich wusste sie, dass er ein Grundbesitzer war, genauso wie sie. Doch als er ihr eröffnete, dass er als Erbe der Familie Petuchow zu den reichsten Männern in Russland gehörte, war er ihr vorgekommen wie ein Märchenprinz.

Irgendwann nach Mitternacht kam mir eine Idee, wie ich doch noch Journalismus studieren konnte. Es war verrückt, aber die Idee hatte sich in meinem Gehirn festgesetzt und nahm langsam Form an.

Ich würde kein Gehalt mehr bekommen, konnte aber auf mein Erspartes zurückgreifen. Damit würde ich kein einziges Semester als Grundbesitzerin auf einer Universität auskommen. Aber die meisten Journalisten waren Grundlose. Und die Universitäten für diese waren spottbillig. Grundlose verdienten ja auch kaum etwas.

Also würde ich mich als Grundlose ausgeben und inkognito studieren. Am besten im Ausland. Kurzentschlossen kramte ich mein Niki hervor und suchte europaweit nach Universitäten, die auch internationale Studenten zuließen.

Hallo du! Kommst du gut in meine Welt rein? Natürlich folgen in den nächsten Kapiteln noch weitere Details dazu.

Ich habe dieses Buch bei den Wattys 2020 angemeldet und werde es erst nach dem Wettbewerb weiter überarbeiten. Konstruktive Kritik und allgemeines Feedback zu meiner Geschichte sind aber weiterhin stets willkommen.

Deine Sonja

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