Dezember NE 225 - Kapitel 3

Als ich aufwachte und die Augen öffnete, wusste ich nicht, wo ich war. Ich richtete mich etwas auf und stellte fest, dass ich nur mit Shirt und Unterhose bekleidet in einem schmalen Bett lag. Das Zimmer wurde von einem Nachtlämpchen in Fußballform schwach beleuchtet. Mein Blick schweifte über ein Regal mit Stofftieren, einem Schaukelpferd in der Ecke und einer Kiste mit einer Holzeisenbahn. Meine letzte Erinnerung war, dass ich Vasilis nette Eltern kennen gelernt hatte. Doch wie war ich spärlich bekleidet im Zimmer eines Grundschülers gelandet?

Da ging die Tür auf und Vasili kam herein. „Ich wollte dich nicht wecken", entschuldigte er sich und drängte sich neben mich unter die Bettdecke.

Das Bett war nur für eine Person gedacht und als er sich neben mir breit machte, blieb mir nicht genug Platz, mich ebenfalls auf den Rücken hinzulegen. Mir wurde bewusst, wie komfortabel breit die Betten im Wohnblock der Uni waren. „Du bist eiskalt!", beschwerte ich mich und wich ihm Richtung Wand aus.

„Na, na! Wir hatten ausgemacht, kein Esperanto, solange wir in meinem im Dorf sind."

Er hatte recht, das war der Deal. Dass Esperanto für mich keine Fremdsprache und Russisch für mich anstrengender war, konnte er ja nicht ahnen.

„Was mach ich jetzt mit dir?", fragte er mit einem frechen Grinsen. Er drehte sich zu mir und streckte seine eisigen Füße an meine Waden.

Ich versuchte, ihn von mir wegzuschieben. Doch jetzt lag ich eingequetscht zwischen Vasili und der Wand. Keine Chance. Eingeklemmt wie ich war, hatte ich keine andere Wahl als zu hoffen, dass er sich schnell wieder aufgewärmt hatte. Ich schnaubte frustriert. „Und wo sind wir überhaupt?"

„In meinem Zimmer natürlich, gefällt es dir nicht?"

„Nun, es ist etwas unerwartet", antwortete ich diplomatisch. Er lachte leise. „Verarschst du mich?", herrschte ich ihn an.

„Nein, das ist tatsächlich mein Zimmer. Allerdings bin ich ja die meiste Zeit nicht da. Meine Eltern passen oft auf ihre Nichten und Neffen auf und nutzen dafür dieses Zimmer. Eigentlich werden wir beide im Gästehaus hier im Dorf übernachten. Nachdem du gestern Abend auf der Couch eingeschlafen bist, wollte ich dich nicht nochmal raus in die Kälte schleppen und hab dich einfach hier rein getragen."

Ich kam mir blöd vor. Was hatte ich gedacht – dass Vasili heimlich mit einer Holzeisenbahn spielt? Aber trotzdem war ich erleichtert, dass es eine einfache Erklärung gab. Zur Strafe kitzelte ich ihn durch, was in einer größeren Knutscherei endete.

Als wir uns zum Luftholen trennten, flüsterte er: „Wir müssen leider leise sein. Meine Eltern schlafen direkt auf der anderen Seite der Wand. Noch so ein Grund, warum wir unbedingt in das Gästehaus umziehen müssen."

Als wir erneut aufwachten, war es bereits später Vormittag. Nach einem kurzen Frühstück packten wir unsere Sachen zusammen und brachten sie ins Gästehaus. Es war ein normales Wohnhaus und wie ich erfreut feststellte, hatte es ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett. Wir richteten uns ein und gingen wieder nach draußen.

„Im Winter kann man leider nicht viel erkennen, aber hier um das Dorf herum befinden sich Felder. Wir haben auch viele Obstbäume und Sträucher. Mein Vater und zwei meiner Onkel bauen hier unsere eigenen Kartoffeln, Gemüse und Obst an. Dieses wird eingelagert, eingemacht oder eingefroren und so haben wir das ganze Jahr über echte Nahrungsmittel. Wir sind nicht auf die übliche Grundlosen-Nahrung angewiesen", erklärte Vasili stolz und wies auf die offene Fläche hinter dem Gästehaus.

„Das erlaubt euch die Grundbesitzer-Familie?", fragte ich erstaunt.

„Es gibt einen Grund, warum meine Sippe gerne hier lebt, in dieser Abgeschiedenheit. Wie du vermutlich weißt, wurde das ganze Uralgebirge zum Nationalpark ernannt. Hinter unserem Dorf kommt bis zum Kontinent Asien keine Siedlung mehr. Wir genießen hier viel mehr Freiheiten als die Grundlosen in den Städten."

Da es bei unserer Ankunft bereits dunkel gewesen war, sah ich das Dorf jetzt erst richtig. Die Mitte bildete ein Platz, an dem ein großes Gebäude lag, das laut Vasili für Versammlungen genutzt wurde. Um den restlichen Platz waren neun Wohnhäuser in zwei Reihen angeordnet, darunter auch das Gästehaus und das Haus von Vasilis Eltern. Alle Gebäude waren ausschließlich aus Holz errichtet worden.

Als wir den Dorfplatz betraten, kreuzten zwei Frauen unseren Weg, die uns freundlich grüßten. Aber ich konnte nur den sechsbeinigen Transportroboter anstarren, der ihnen folgte und mit einem toten Hirsch beladen war. „Was ist das?", fragte ich entsetzt. Einen Hirsch kannte ich nur aus Büchern oder als Gericht auf dem Teller.

„Meine Cousinen und das Abendessen", erklärte Vasili ungerührt, „Die Hälfte meiner Verwandten ist entweder Förster oder Wildhüter im Nationalpark. Sie kontrollieren den Bestand an Pflanzen und Wildtieren und gehen gegen Wilderei vor. Nun ja, und vor Feiertagen üben sie die Jagd, um in Form zu bleiben." Er zwinkerte mir zu und fuhr fort: „Wie gesagt, wir genießen hier ein paar Freiheiten. Was der Grundbesitzer nicht weiß, macht ihn nicht heiß." Ich schüttelte verblüfft den Kopf und folgte ihm in das Versammlungsgebäude hinein.

Dort wurde mir schnell klar, warum das Dorf so verlassen gewirkt hatte: offensichtlich hatten sich alle Bewohner hier versammelt. Noch etwas anderes wurde mir klar: was Vasili mit Feiertag gemeint hatte. Die ganze Sippe traf sich hier, um seine Rückkehr aus Deutschland zu feiern.

Vasili war der Mittelpunkt und wurde von jedem einzelnen freudig begrüßt. Ich umarmte und schüttelte Hände in einem fort und mir schwirrte bald der Kopf vor lauter Namen und Verwandtschaftsgraden. Wie konnten sich Grundlose nur all das merken? Neben den Großeltern zählte ich allein zwei Onkel und drei Tanten von Vasili nebst deren Partnern. Bei Cousinen und Cousins kam ich mit Zählen nicht mehr hinterher und dann gab es noch einen ganzen Schwung Nichten und Neffen, von denen auch schon einige in unserem Alter waren. So viel Familie war ich nicht gewohnt!

Wer nicht Tische aufstellte oder eindeckte, war mit den Vorbereitungen fürs Kochen beschäftigt. Ich war fasziniert. Essenszubereitung war etwas für Köche und ich hatte zuletzt als Kind dabei zugesehen.

Man setzte mich an einen Tisch und gab mir ein Schneidebrett und ein Messer. Ich sollte Karotten klein schneiden und schwitzte Blut und Wasser. So etwas hatte ich noch nie gemacht! Es würde mir gerade noch fehlen, wegen so etwas aufzufliegen. Ich beobachtete heimlich das kleine Mädchen neben mir und machte ihr alles so gut ich konnte nach. Zum Glück waren alle so beschäftigt mit Kochen und Reden, dass keinem auffiel, dass das kleine Mädchen vier Karotten klein geschnitten hatte, während ich gerade einmal eine geschafft hatte.

Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Die Gespräche drehten sich um das Wetter, das Naturschutzgebiet und das bevorstehende Fest der Liebe. Vasili wurde intensiv über sein Studium ausgefragt und gab bereitwillig Auskunft.

Es wurde gekocht als hätte Vasili seit seinem letzten Besuch nichts mehr gegessen und müsse nun alles nachholen. Wir aßen viel zu viel. Aber es schmeckte alles so gut! Nicht nur, dass hier erfahrene Köche am Werk gewesen waren, es war alles mit echten Zutaten zubereitet worden. Der Hirschbraten war auch nicht schlechter als im Restaurant in Petersburg. Kein Vergleich zum Mensaessen aus dem Chemiewerk, was es für mich in den letzten Monaten gegeben hatte. Zum Glück gab es genug Vodka aus eigener Herstellung, den wir regelmäßig zum Verteilen tranken.

Als wir am späten Abend erschöpft ins Bett fielen, waren wir nicht nur völlig überfressen, ich hatte auch einen vollen Überblick über den Klatsch und Tratsch der Region und das Wichtigste: Ich hatte von Vasilis Cousine Alina, einer der besten Jägeral des Dorfes, einen vollen Satz guter Winterkleidung ausgeliehen bekommen, in denen ich während der Ausflüge, die wir für unseren Urlaub geplant hatten, nicht frieren würde.

In der Abgeschiedenheit lebt man fast wie Grundbesitzer :-)

Deine Sonja

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