Dezember NE 225 - Kapitel 2
Die letzten Tage des dritten Semesters waren plötzlich viel zu schnell vergangen, doch ich hatte trotzdem tapfer meine Tasche für die Reise nach Russland gepackt. Als Vasili mir die Lage seines Dorfes auf der Landkarte gezeigt hatte, war mir sofort ins Auge gesprungen, dass die Stadt Perm, in der meine Mutter aufgewachsen war, nicht allzu weit entfernt lag. Zumindest für russische Maßstäbe. Und so hatte ich ihn dazu überredet, auf der Hinfahrt dort einen Zwischenstopp einzulegen.
Die Aussicht auf den Besuch von Perm hatte mich schließlich mit dem Gedanken versöhnt, das Risiko auf mich zu nehmen und seine wiederholte Beteuerungen, dass mein Besuch geheim bleiben würde, hatten meine Nerven endgültig beruhigt. Als Bonus gab es noch weitere Nächte mit Vasili, wie konnte ich da nein sagen?
Ich hatte an der Uni allen erzählt, dass ich meine Eltern in Petersburg besuchen würde und war wie geplant am ersten Tag der Semesterferien gemeinsam mit ihm abgereist. Von Petersburg nach Nürnberg war ich schon eine gefühlte Ewigkeit unterwegs gewesen. Doch diese Fahrt dauerte nochmal um einiges länger. Trotz der langen Strecken, auf denen wir in Magnetbahnen mit irrsinnigen Geschwindigkeiten befördert wurden, waren wir bereits zwei Tage unterwegs, als wir um 11 Uhr Ortszeit in Perm am Bahnhof ausstiegen.
Wir waren nun immerhin in der gleichen Zeitzone wie Vasilis Heimatdorf, vier Stunden weiter als Nürnberg. Nach zwei Nächten im Liegewagen fühlte ich mich wie gerädert und bereute es schon fast, ihn zu diesem Umweg überredet zu haben. Er ertrug es mit stoischer Ruhe und ich gab mir alle Mühe, mich zusammenzureißen.
„Wie gesagt wohnt von meiner Familie niemand mehr hier", erinnerte ich ihn, „Ich möchte mich einfach nur umsehen, um mir einen Eindruck zu verschaffen."
Wir schlossen unser Gepäck am Bahnhof ein und gingen die Hauptstraße entlang. „Perm war vor der Großen Katastrophe eine Millionenstadt, ist aber von einem der ersten großen Meteoriten getroffen worden, der auf Russland niederging. Von der Stadt ist deshalb nicht mehr viel übrig. Das heutige Perm ist genau genommen ein Vorort, den man wieder aufgebaut hat", dozierte ich, „Auf dem ehemaligen Stadtgebiet tun noch heute Regenerations-Roboter ihre Arbeit, um den Schutt aufzusammeln und zu recyceln."
Schließlich hatten wir die Innenstadt erreicht. Es war mit -12 Grad zum Glück nicht ganz so kalt wie befürchtet und die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Der Schnee war zu großen Haufen zusammengeschoben worden, an denen sich der Dreck der Straße sammelte. Die Gebäude waren offensichtlich bald nach der Großen Katastrophe in einfacher Bauweise errichtet worden und die Stadt hatte kein Flair. Sie wirkte einfach trist und grau.
„Das ist echt enttäuschend", gab ich kleinlaut zu, als wir uns die besseren Gebäude rund um den Marktplatz ansahen, „Meine Mutter hat Perm immer in den schönsten Farben beschrieben, aber die Stadt ist nichts Besonderes."
Er brummte zustimmend. Er hatte erwartungsvoll seine Kamera mitgenommen, aber bisher noch kein Foto gemacht.
„Vielleicht ist das der Grund, warum meine Mutter nie mit meinem Bruder und mir hierhergekommen ist?", überlegte ich laut.
Immerhin brauchte ich nun keine Entschuldigung, um auch noch den ehemaligen Sitz der Grundbesitzer-Familie aus der Nähe anzusehen. Dort war meine Mutter schließlich aufgewachsen und deshalb interessierte mich das mehr, als die Kleinstadt Perm. Ich steuerte die nächste Bushaltestelle an und wir fuhren an den Stadtrand.
Zum Glück stellten sich die Erzählungen meiner Mutter über ihr Elternhaus als wahr heraus. Der ehemalige Sitz meiner Familie mütterlicherseits war ein schmuckes, traditionelles russisches Landhaus mit aufwändigen Verzierungen. Das imposante Holzhaus und die dazu gehörenden Wirtschaftsgebäude lagen in einem kleinen Park.
Überall lag der Schnee 30 cm hoch und glitzerte in der Sonne, nur die Wege waren geräumt. Vasili packte sofort seinen Fotoapparat aus. Während ich einen Spaziergang durch die Parkanlage unternahm und mir die Gebäude aus der Nähe ansah, seilte er sich immer wieder ab, um auf Motivsuche zu gehen.
„Dieses Gebiet gehört auch zum Besitz der Arbeitgeber deiner Eltern?", fragte er. Wir stapften händchenhaltend durch den Schnee auf einer Freifläche im Park, selbstverständlich nur, damit wir nicht ausrutschten und stürzten.
„Ja, die Familie Petuchow hat das Gebiet vor Jahrzehnten übernommen. Das Haus der Grundbesitzer wird von dem Verwalter und anderen höheren Angestellten bewohnt."
Meine Großeltern hatten nach der Heirat meiner Eltern aufgehört zu arbeiten und waren stattdessen auf einen Altersruhesitz in Schweden gezogen. Meine Urgroßmutter war Schwedin gewesen und meine Großeltern hatten dort oft Urlaub gemacht.
Als wir erschöpft im Zug saßen, um endlich zu Vasilis Heimatdorf zu reisen, war ich durchgefroren, jedoch zufrieden mit unserem Abstecher. Vasili war glücklich über viele schöne Fotos und schwärmte von der Komposition der bunten Verzierungen, dem weißen Schnee und dem strahlend blauen Himmel.
✩
„Willkommen daheim, mein Sohn", begrüßte uns eine kleine, mollige Frau freudestrahlend und zog Vasili in eine Umarmung, wobei sie ihm den Kopf gerade mal an die Brust legen konnte. „Und das ist also deine hübsche Freundin", sagte sie freundlich lächelnd und umarmte mich genauso herzlich wie ihren Sohn.
„Lass uns erst mal rein in die Wärme", brummte Vasili und ich folgte ihm in ein gemütliches Wohnzimmer. Dort begrüßte uns ein Mann, der Vasili so ähnlichsah, dass klar war, dass es sein Vater sein musste. Wir setzten uns zu ihm vor den großen Holzofen, in dem ein Feuer flackerte.
Draußen war es jetzt, am frühen Abend, nicht nur stockdunkel, sondern auch empfindlich kalt. Meine in Deutschland gekaufte Winterjacke war dem russischen Winter nicht gewachsen und so hatte ich darunter drei Lagen Pullover angezogen. Trotzdem war ich durchgefroren.
Nun, vor dem warmen Ofen, entledigte ich mich erst mal von mehreren Schichten Kleidung. Dann holte ich das Gastgeschenk aus meiner Tasche: eine große Packung Nürnberger Lebkuchen. Diese Spezialität war eigentlich etwas für Grundbesitzer und die Packung hatte doppelt so viel gekostet wie das Zugticket, aber das war mir egal. Ich würde hier ein paar Wochen wohnen und wollte mich nicht lumpen lassen. Vasilis Mutter freute sich sehr, als ich ihr die Lebkuchen überreichte und drückte mich nochmal herzlich an sich. Dann setzte sie sich zu uns.
„Vasili hat viel von dir erzählt, zumindest viel für seine Verhältnisse", sagte sie lächelnd und schenkte uns allen Tee ein.
„Du weißt also noch nichts über mich", stellte ich schmunzelnd fest.
Vasilis Eltern lachten und das Eis war endgültig gebrochen. Ich erzählte schweren Herzens die Lüge, dass ich die Tochter von Verwaltern der Familie Petuchow war. Zum Glück drehte sich das weitere Gespräch vor allem um das Studium und da musste ich nichts verstecken.
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