Dezember NE 225 - Kapitel 1
„Wenn wir Vasili und Anna verkuppeln wollen, müssen wir sie vorher aber umstylen", sagte Mona gerade. Ich hatte mich auf mein Abendessen konzentriert und war dem Gespräch bisher nicht gefolgt. Doch nun hatten die Zwillinge, Giusi und Jana meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Wer sagt hier, dass ich verkuppelt werden möchte?", warf ich entsetzt ein.
„Jetzt komm schon, ihr zwei würdet total gut zusammenpassen", verkündete Mauerblümchen fachmännisch.
Die Nacht mit Vasili lag nun eine Woche zurück und es war unbemerkt geblieben. Der Klatsch auf dem Campus drehte sich ausschließlich um Luis und Klaus. Das bekannteste Pärchen der Uni hatte sich tagelang lautstark gestritten, zeitweise hatte einer der beiden sogar ausziehen müssen. Doch sie hatten sich gestern unter Tränen versöhnt und waren seitdem wieder ein Herz und eine Seele. Ich war kurz davor, den beiden für ihre filmreife Vorstellung Blumen zu schicken.
„Was hast du nur gegen eine Fachberatung beim Shoppen?", rätselte Lisa.
Es hatte im Sommer angefangen. Zuerst hatten die drei ständig etwas an Jana auszusetzen gehabt. Dann waren sie ein paar Mal mit ihr einkaufen gegangen und hatten ihr eine neue Garderobe verpasst. Jetzt war ich ihr neues Opfer. Aber bei diesen schlecht sitzenden Kleidungsstücken der Grundlosen war es meiner Meinung nach völlig egal, was man anhatte. Es sah immer wie ein Sack aus! Nun saßen die vier bestens gelaunt mit mir am Tisch und unterhielten sich darüber, dass Gerüchten zufolge neue Klamotten angeliefert worden waren. Als ob diese Kleiderausgabestelle der Uni eine Boutique wäre!
Es war Anfang Dezember, unser drittes Semester war in zwei Wochen vorbei und das hieß nun Endspurt bei den Projekten und beim Lernen auf die letzten Prüfungen. Da hatte ich absolut keinen Bock auf ein Makeover! Zumal die Tage, an denen ich noch Grundlosen-Kleidung tragen musste, gezählt waren. Vasili war mein Kleidungsstil ohnehin egal.
Durch den Prüfungsstress war es ein Leichtes gewesen, einem Gespräch mit Vasili aus dem Weg zu gehen und wir waren vorerst zu unserer lockeren Freundschaft zurückgekehrt. Je mehr Zeit verging, desto mehr scheute ich mich davor, mit ihm darüber sprechen zu müssen, was genau wir denn jetzt waren. Freunde mit einem One-Night-Stand? Oder dachte er womöglich, wir wären jetzt irgendwie ein Paar? Vielleicht war es das Beste, einfach gar nicht darüber zu sprechen.
„Also, komm jetzt!", forderte mich Giusi übermütig auf. Sie nahm meinen leer gegessenen Teller und ich konnte gerade noch mein Glas leer trinken, bevor sie beides zur Geschirrrückgabe brachte.
Mona packte mich am Arm und zog mich hoch. Ich sah hilfesuchend zu Jana, doch hier konnte ich keine Unterstützung erwarten. Etwas musste man den drei Beraterinnen lassen: die neue Garderobe hatte bei meiner Zimmernachbarin einen weiteren Schub an Selbstvertrauen ausgelöst und man konnte sie nun endgültig nicht mehr als graue Maus bezeichnen.
Seufzend ergab ich mich in mein Schicksal. Die Zwillinge nahmen mich in die Mitte und ich verließ mit den vier Mädels die Mensa in Richtung Kleiderausgabestelle. Bevor es kalt wurde brauchte ich tatsächlich noch einen warmen Pulli und in den Semesterferien war die Kleiderausgabe geschlossen.
✩
Gefühlte Stunden später hatte ich dank Giusi einen warmen Pulli gefunden, der mir einigermaßen stand. Die anderen hatten sich schneller entscheiden können und trugen jeweils einen ganzen Beutel mit neuen Sachen.
Wir schlenderten gerade zu unserem Wohnblock, als Giusi sich zu mir drehte. „Schade, dass du den Pulli nicht gleich angelassen hast."
„Echt jetzt? Ich bin beim Durchprobieren der Wollpullis vor Hitze fast umgekommen", erwiderte ich. Dann verstand ich, worauf sie hinauswollte: Vasili kam auf uns zu. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. „Du bist unmöglich."
Doch sie kicherte nur, nahm mir die Tüte mit dem Pulli ab und zog die anderen drei mit sich mit. Vasili kam tatsächlich zu mir und grüßte.
„Gehst du nachher auch auf die Party?", fragte ich ihn.
„Ja, aber ich bleibe nicht lange. Ich muss morgen auf Prüfung lernen und nicht an jedem geht Alkoholkonsum so spurlos vorüber wie an dir", antwortete er.
„Ich bin schließlich Russin, das muss ja auch für irgendwas gut sein." Ich schmunzelte. Ein Prosit auf die Anti-Kater-Tabletten!
Den meisten Studenten schienen die letzten ausstehenden Prüfungen des Semesters kein Hindernis zu sein, sie feierten trotzdem ausgiebig. Zum Glück war Vasili eine hohe Punktzahl genauso wichtig wie mir. „Lass uns doch einfach jetzt gleich dorthin gehen", schlug ich vor. Er willigte ein und wir gingen in die Katakomben, wo die Party stattfand.
Der Gang und die drei Partyräume wurden vom flackernden Schein der unzähligen Kerzen notdürftig erhellt und es war drückend warm. Was vielleicht beabsichtigt war, auch Vasili und ich zogen sofort die warmen Pullis aus. Einige der Jungs meinten, Oberkörperfrei herumlaufen zu müssen. Vasili, bei dem das definitiv besser ausgesehen hätte, behielt sein Shirt aber zum Glück an. Im Hintergrund dudelten irgendwelche aktuellen Popsongs und es roch verdächtig nach verschüttetem Bier.
Als wir im Hauptraum mit dem malerischen Gewölbe ankamen setzten sich die ersten im Kreis hin. „Hoffentlich nicht schon wieder so ein peinliches Trinkspiel", sagte ich und seufzte.
„Wahrheit oder Pflicht!", rief einer der Partygäste ausgelassen.
Ich verdrehte die Augen. Das spielte ich absolut nicht gerne, da ich nie Wahrheit nehmen konnte und die Pflicht manchmal wirklich unmöglich war.
Doch Vasili zog mich kurzerhand neben sich auf den Boden, irgendjemand drückte uns Becher mit Bier in die Hand und schon waren wir dabei. Eines der Mädchen drehte die Flasche und sie blieb auf Finn stehen, den ich jetzt erst entdeckte. Er wählte Wahrheit und musste preisgeben, dass er seinen ersten Kuss mit zwölf von einem drei Jahre älteren Mädchen erhalten hatte.
Es ging eine ganze Weile so weiter und ich war bereits beim zweiten Becher Bier, als die Flasche auf Vasili stehen blieb. Er wählte Pflicht und musste Schokosoße vom Dekolletee eines Mädchens aus dem ersten Semester lecken. Vasili machte daraus eine Show und es war eigentlich völlig harmlos, aber es störte mich irgendwie und ich war froh, als das Mädchen sich verpisst hatte.
Kurz darauf war das Spiel zum Glück allen langweilig geworden und ich nutze die Gelegenheit, mich zu verdrücken. Vasili verabschiedete sich noch kurz von Finn, dann holte er mich ein.
Er begleitete mich wortlos bis vor meinen Wohnblock. Als wir vor der Haustür standen fragte er: „Bleibst du in den Semesterferien wieder hier?"
Ich bekam einen Kloß im Hals. Bitte frag nicht, warum!, flehte ich innerlich. Ich hasste es, ihn anlügen zu müssen.
Doch er wollte auf etwas anderes hinaus. Überrascht registrierte ich, dass er nervös sein Gewicht auf sein anderes Bein verlagerte. „Ich fahre wieder nach Hause, meine Eltern besuchen. Hast du Lust, mitzukommen?"
Eine Welle der Erleichterung überspülte mich. Mitkommen stand jedoch außer Frage. „Wie willst du das anstellen, ohne dass es jemand mitbekommt?", antwortete ich. Eigentlich war für mich damit die Sache vom Tisch.
Doch seine Augen leuchteten. „Meine Sippe ist verschwiegen, mach dir da keine Gedanken. Am ersten Tag der Semesterferien fahren wir los. Pack die Koffer!" Mit diesen Worten drehte er sich um und eilte davon.
Er hatte mich völlig überrumpelt. Kurz öffnete ich den Mund, um ihm hinterherzurufen und alles richtig zu stellen. Doch ich hatte zu lange gezögert, er war schon außer Hörweite. Wie war das denn jetzt passiert!
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