August NE 226 - Kapitel 1
An einem regnerischen Tag Anfang August reisten Vasili und ich in die Stadt Nischni Tagil. Als wir an der Villa der Familie Lenevka im Taxi vorfuhren, kam sofort ein Bediensteter zu uns, um uns zu begrüßen. Dann führte er uns die imposante Steintreppe zum Hauseingang hoch. Ich betrachtete beeindruckt das Jugendstil-Gebäude. Die geschwungenen Fensterbögen, Balustraden und Fassadenelemente mit in Stein gehauenen floralen Ornamenten gefielen mir. An ein paar Details konnte man aber ausmachen, dass das Haus doch erst später erbaut worden war. Es handelte sich also um Novaj Art Nouveau*.
* Eigenkreation: Art Nouveau = Jugendstil, Novaj = neu (Esperanto)
Im Inneren wurde der Stil leider nicht konsequent eingehalten. Hier fand sich neben modernen Edelstahloberflächen ein Sammelsurium an Möbeln aus verschiedenen Epochen. Wir wurden in einen Salon geführt, in dem vier Personen in Sesseln beisammensaßen.
Niocovat Lenevka begrüßte mich mit formell aneinander gelegten Handflächen, was ich erwiderte. Danach stellte er mich seiner Frau und seinem zwanzigjährigen Sohn vor, bei denen sich das Begrüßungsritual wiederholte. Vasili wartete geduldig in einigem Abstand hinter mir, bis man für ihn, den eigentlich eingeladenen Gast, Zeit finden würde.
Meine Anwesenheit, als Grundbesitzerin mit einem Vermögen, welches das der Lenevkas um ein Vielfaches übertraf, ließ alle den Grundlosen vergessen. Amüsiert beobachtete ich, wie sie sich um ihr bestes Benehmen bemühten und sorgfältig alle Etikette erfüllten.
Nur die vierte Person meisterte den Tanz auf dem gesellschaftlichen Parkett mühelos. Der Mann trat auf mich zu und nahm meine Hand zu einem formvollendeten Handkuss. „Dieto Rosenblatt", stellte er sich vor, „Es freut mich außerordentlich, die Tochter der Familie Petuchow kennen zu lernen." Er unterschied sich so grundlegend von der Familie Lenevka, dass es mich nicht wunderte, dass er einen anderen Familiennamen trug.
Das Auffallendste an Dieto war der maßgeschneiderte Seidenanzug in einem leuchtenden Türkis. Extravagant. Er war schätzungsweise etwas älter als Niocovat und ein ganzes Stück kleiner als ich. Die Art wie er beim Sprechen seine Worte durch elegante Gesten unterstrich faszinierten mich. Und wie er sprach! Er sprühte vor Charisma und war automatisch der Mittelpunkt unserer kleinen Gesellschaft. Sein geschliffenes Esperanto hinterließ den Eindruck eines Mannes, der bei der High Society aus und ein ging.
„Nun wollen wir aber unseren zweiten Gast begrüßen", meldet sich da Niocovat zu Wort und ich stellte fest, dass Dieto einen solchen Eindruck auf mich gemacht hatte, dass ich Vasili für einen kurzen Moment vergessen hatte. Schuldbewusst drehte ich mich zu ihm um.
Es folgte eine kleine Ansprache von Niocovat in der er den Anwesenden erklärte, warum Vasili eingeladen worden war, ihm lobend die Hand schüttelte und danach tatsächlich genauso wie mir einen Sessel anbot. Wir machten es uns gemütlich. Ich kam neben Niocovat zu sitzen, Vasili saß zwischen mir und Dieto.
„Dieto, darf ich fragen, woher deine Familie stammt?", fragte ich ihn, nachdem wir es uns gemütlich gemacht hatten. Vermutlich war die Familie Rosenblatt nicht aus Russland. Doch an der Spitze war es einsam, von den reichsten Familien Europas hatte ich in der Regel zumindest mal gehört. Rosenblatt war mir aber nicht bekannt.
„Meine Familie ist gegenüber deiner völlig unbedeutend", sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung, die ich niemals so elegant hinbekommen hätte, „Mein Mann und ich wohnen in Karlsruhe, in Süddeutschland. Meine Familie, vielmehr mein Bruder, baut Wein und Tabak an. Die Familie meines Mannes hat einen Großhandel und ich habe beide Geschäftszweige miteinander verbunden. Ich besuche derzeit in Russland einige gute Kunden wie Niocovat, die Freunde geworden sind."
„Du hast uns den Genuss einer Zigarre der neuen Ernte versprochen", meldete sich Niocovat zu Wort.
Dieto winkte daraufhin einem der Bediensteten, der ihm eine Zigarre auf einem Silbertablett reichte. „Marke Kaiser, selbstverständlich handgerollt, aus Tabak vom Kaiserstuhl bei Freiburg", sagte er. Es war faszinierend, Dietos fließende, elegante Bewegungen zu beobachten, wie er das Werkzeug zum Anschneiden benutzte und die Zigarre schließlich anzündete.
Seit einigen Jahren war das Rauchen von Zigarren in den gehobenen Kreisen angesagt. Wer Kaffeekränzchen und Saufgelage satt hatte, traf sich mit Freunden auf eine Zigarre. Diese wurde ähnlich einer Friedenspfeife im Kreis herumgereicht und gepafft. Ist den Anwesenden klar, dass auch Vasili nun mitraucht?, fragte ich mich und mir war etwas unwohl. Er hatte sicher noch nie geraucht, wollten sie ihn als den dummen Grundlosen vorführen?
Als die Zigarre richtig brannte, reichte Dieto sie an den Sohn der Familie weiter, der paffte und den Rauch nach oben blies. „Natürlich haben wir alle den Artikel gelesen, den du als Abschlussarbeit verfasst hast", begann Niocovat ein Gespräch mit mir. Es folgten die üblichen Fragen und ich erklärte, dass Vasili als jahrgangsbester Fotograf die geeignete Wahl für mich gewesen war und dass ich mir nun eine kleine Auszeit nahm, bevor ich dann als freie Journalistin arbeiten wollte.
Währenddessen war die Zigarre zu mir gewandert. Ich paffte ebenfalls und musste sie dann unweigerlich an Vasili weiterreichen. „Ich danke Ihnen, Frau Petuchow", sagte er und warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. Doch ich wusste nicht, wie ich ihm hätte helfen sollen, ohne die Etikette zu missachten.
Da sprang unerwartet Dieto ein. Während ich mich weiterhin mich mit Niocovat unterhielt, erhielt Vasili eine kurze, freundliche Unterweisung und paffte kurz darauf ebenfalls die Zigarre. Dann nahm Dieto sie ihm ab und setzte die Runde fort. Er hatte Vasili nicht von oben herab behandelt. Dadurch war er in meiner Achtung weiter gestiegen.
Nachdem ich mich mit Niocovat eine Weile über das an sein Gebiet angrenzende Stammgebiet meiner Familie mütterlicherseits unterhalten hatte, beschloss ich, einen Vorstoß zu wagen. „Mit welchen Gütern macht deine Familie Geschäfte?", erkundigte ich mich bei ihm. Er zählte einige Rohstoffe für die Chemieindustrie auf, die er durch Weiterverarbeitung aus den auf seinen Feldern angebauten Pflanzen gewann. Nichts, was meinen Verdacht erregte.
„Hast du internationale Kontakte oder verkaufst du nur an die Chemieindustrie in Russland?", bohrte ich weiter.
„Die meisten Produkte verkaufe ich tatsächlich in Russland, unser Land ist groß", sagte er, „Ich habe aber auch einen Abnehmer in Frankfurt am Main, in Deutschland."
Was mir das jetzt bei meinen Recherchen bringen sollte, wusste ich zwar auch noch nicht, aber ich hoffte, dass es wenigstens unauffällig war, wenn ich planlos Fragen stellte. „Reist du dann öfter nach Frankfurt?", fragte ich und erzählte von meinem eigenen Besuch der Stadt vor einem Jahr. Es stellte sich heraus, dass Niocovat tatsächlich einmal im Quartal nach Frankfurt reiste und wir tauschten uns eine Weile über die Highlights dieser Stadt aus.
Nachdem die Zigarre viele Runden herumgegangen war fühlte ich mich high. Der Genuss war ungewohnt für mich gewesen und ich hoffte, dass man mir nichts anmerkte. Vasili war Zigarren noch weniger gewohnt und sah nicht so gut aus. Deshalb verabschiedete ich mich und beschloss, den Rest des Tages meinen Rausch auszuschlafen.
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