Einzelkämpfer
Daryl's Perspektive
(Zwei Tage zuvor in Alexandria)
Nachdem Glenn endlich vor meiner Haustür verschwunden war, schnappte ich mir meine Armbrust und verließ zügig zu Fuß Alexandria. Ich musste hier raus. Ich musste hier weg. Ich hatte das Gefühl, ich bekam hier keine Luft mehr. Alles engte mich ein. Alles regte mich auf. Weg. Ich wollte nur weg. Weit weg. Völlig egal, wohin mich meine Füße tragen werden.
Ich lief und lief. Immer weiter und weiter. Immer tiefer in den Wald hinein. Stundenlang. Ohne Rast und Ruh. Beißer röchelten hinter mir. Liefen mir wie Hunde hinterher, die am verhungern waren. Ich hörte ihre Schritte. Laut und deutlich. Schlürfend raschelten sie über den trockenen Waldboden. Zogen dabei ihre Füße hinterher und hinterließen Schleifspuren. Sichtbar, doch nicht für jeden. Niemand würde mir folgen können. Niemand würde wissen, wo ich bin. Niemand würde meine Spuren erkennen. Ich bin unsichtbar. Für jeden. Wie immer. Nichts hat sich geändert. Absolut gar nichts.
Es war falsch. Sie bildet sich alles nur ein. Sie hat keine Gefühle für mich. Das hat sie nicht! Niemals! Für mich darf man keine Gefühle haben. Niemand darf das. Ich bin schlecht. Ich bin nicht gut. Nicht gut genug für sie. Ich werde es nie sein. Ich bin nur ein niemand. Doch sie ist alles. Sie ist so unglaublich schön. Wenn sie lacht, erreicht jedes Lachen ihre Augen. Diese strahlen mit der Sonne um die Wette. Sie hat für jeden ein offenes Ohr. Sie ist so unglaublich geduldig und liebevoll. Sie ist so wahnsinnig offen und schonungslos ehrlich. Sie ist perfekt. Perfekt für irgendjemanden. Doch nicht für mich.
Schneller. Immer schneller tragen mich meine Füße. Tiefer in den Wald hinein, als ich je in ihm war. Weiter weg von den anderen. Noch weiter weg von ihr. Sie muss mich vergessen. Sie wird mich vergessen. Sehr schnell wird sie dies. Dessen bin ich mir sicher. Ich darf nicht mehr zurück. Ich werde nicht mehr zurückgehen. Sie wird mich nie wiedersehen. Die anderen werden mich nie wiedersehen. Ich werde sie nie wiedersehen. Soweit hätte ich es nie kommen lassen dürfen. Es war ein Fehler. Ein sehr großer Fehler. Nun würde ich ihn wieder gut machen. Ich war immer ein Einzelgänger. Ich bin ein Einzelgänger. Ich werde immer ein Einzelgänger bleiben.
Flashback
Genervt schmiss ich den Wecker von meinem Nachttisch, als er mich, wie jeden Morgen, viel zu früh aus dem Schlaf riss. Als das nervtötende Klingeln verstummte, schloss ich wieder meine Augen und es dauerte nicht lange, bis ich wieder eingeschlafen bin.
Nur wenige Stunden später bequemte ich mich doch aus dem Bett und zog mir eine schwarze, abgetragene Jeans und ein schwarzes Shirt an. Meinen Rucksack schulterte ich nur über eine Schulter und entschloss mich, mich heute doch mal in der Schule blicken zu lassen. Mein Rucksack war leicht. Viel zu leicht. Schulutensilien hatte ich nicht wirklich bei. Der Scheiß interessierte mich eh nicht.
Die vierte Unterrichtsstunde war schon voll im Gange, als ich, ohne anzuklopfen, den Raum betrat. 22 Augenpaare musterten mich und deutlich war ihr Augenverdrehen zu erkennen. Deutlich genug für mich.
„Beehrt uns Mister Dixon auch mal wieder mit seiner Anwesenheit?" vernahm ich die Stimme vom Lehrer, doch ich wusste seinen Namen nicht. Ich wusste nicht einmal, welches Fach wir gerade hatten.
„War gerade in der Nähe" knurrte ich leise und ließ mich auf meinen Stuhl in der letzten Reihe fallen. Die Füße legte ich, verschränkt übereinander, auf das Fensterbrett direkt neben meinem Pult und schmiss den Rucksack auf den Tisch. Ein Blick auf die Tafel verrät mir, dass wir wohl gerade Mathe haben. Mathe war noch nie mein Fall. Alles, was wir hier lernen, würden wir vermutlich nie wieder in unserem Leben brauchen.
Ich ließ meinen Blick durch die Klasse wandern, als sich nach einem leisen Klopfen die Tür erneut öffnete. Ein zierliches Mädchen betrat schüchtern den Raum. Sie hatte schulterlanges, hellbraunes Haar, welches sie offen trug. Ihre Haut schimmerte trotz des grellen Lichts im Raum braungebrannt. Sie hielt den Blick gesenkt und reichte dem Lehrer einen Zettel. Dieser las ihn sich aufmerksam durch und schaute dann uns an.
„Dies ist eure neue Mitschülerin" sein Blick wanderte nun zu dem Mädchen, „Stellst du dich bitte einmal kurz selber vor". Deutlich sah ich, wie sie schluckte und nur zögerlich den Blick etwas hob.
„Mein Name ist Abigail Swan. Ich bin 15 Jahre alt und wir sind vor ein paar Tagen aus Florida hergezogen" erklärte sie leise. So leise, dass ich genau hinhören musste, um etwas zu verstehen. Doch der schöne Klang ihrer Stimme entging mir nicht.
„Setze dich bitte hin und versuche dem Unterricht zu folgen. Bei Fragen helfen dir deine Mitschüler sicher gerne weiter" erklärte nun der Lehrer und zeigte auf den einzig freien Platz neben meinem Pult. Flink schlich sie durch die Reihen und setzte sich auf den Stuhl nur wenige Schritte von meinem entfernt. Ungeniert betrachtete ich sie nun aus der Nähe. Sie hatte blaue Augen und lange schwarze Wimpern. Eine kleine Stupsnase, die voll von Sommersprossen war. Sie war hübsch, dass musste ich mir eingestehen. Und es gab etwas, dass sie von den anderen Weibern in dieser Klasse unterschied. Sie trug kein Make Up und ihr Körper kleidete eine weite Jeans, ein einfaches Top und weiße Sneakers. Sie war anders. Und sie kannte mich nicht. Kannte meinen Ruf nicht. Wusste überhaupt nichts von mir. Und das war gut! Leicht beugte ich mich zu ihr herüber.
„Hey. Ich bin Daryl" flüsterte ich leise. Erschrocken sah sie auf.
„Hey. Ich bin Abigail, aber du kannst Abi sagen" lächelte sie mich schüchtern an. Schnell kamen wir ins Gespräch und sie schien überhaupt nichts gegen mich zu haben. Es stellte sich heraus, dass wir die meisten Kurse zusammen hatten. In den nächsten Tagen ging ich regelmäßig zur Schule. War in den Tagen öfter und länger in der Schule, als das gesamte Schuljahr. Passte manchmal sogar im Unterricht auf. Sie schrieb immer wieder für mich mit und übergab mir nach der Stunde ihre Mitschriften. Gab mir manchmal sogar Nachhilfe. Oft trafen wir uns auch nach der Schule und hingen zusammen ab. So ganz langsam fand ich Gefallen an der Schule. Aber das lag hauptsächlich an Abi. Ganz einfach daran, dass ich nicht mehr alleine war.
Doch nach wenigen Wochen veränderte sie sich langsam. Langsam, aber sichtbar für mich. Mit Mascara fing es an. Ein paar Tage später kam Lidschatten dazu. Bis ihre niedlichen Sommersprossen unter Make Up verschwunden waren. Sie tat es mit einem Achselzucken ab, doch ich wusste, es war mehr. Es war etwas anderes, als ich ihr zu geben vermochte. Sie war nicht mehr sie selbst. Sie wurde zu einer von ihnen. Und es tat weh.
Nach der letzten Unterrichtsstunde, sie hatte ein anderes Fach als ich, wartete ich vor dem Schulgebäude auf sie. Wir wollten, wie jeden Tag, ein Stück zusammengehen. Doch sie kam nicht alleine. Die „coolsten" der Klasse waren bei ihr. Verächtlich schnaufte ich leise aus. Hoffte, sie würde zu mir kommen und das tat sie auch. Ein kleines Lächeln konnte ich nicht unterdrücken.
„Es tut mir leid Daryl. Ich kann heute nicht mit dir gehen. Wir wollen noch in die Stadt gehen..." flüsterte sie leise und sah mich schuldbewusst an, „Komm doch mit. Ich würde mich freuen. Wenn du dich nur...".
„Ich soll mich verstellen, um ihnen zu gefallen? Um ihren Ansprüchen gerecht zu werden? Verlangst du das gerade wirklich von mir?" unterbrach ich sie leise, aber barsch. Sie wusste, dass würde niemals passieren und doch nickte sie. Sah mich aus ihren blauen Augen an. Hoffnung schimmerte in ihnen. Sollte ich vielleicht doch? Ich wusste, es würde nicht gut gehen. Es würde eskalieren. Irgendwas würde passieren. Nein, das konnte und wollte ich nicht. Ich gehörte nicht zu ihnen. Das würde ich nie. „Sorry, aber nein. Ich kann das nicht" erklärte ich leise und aus ihrer Hoffnung wurde Enttäuschung.
„Abi, komm endlich. Lass den Looser stehen, wir wollen los" ertönte da die laute Stimme von Taylor, einem Footballspieler.
„Halt die Klappe Taylor" rief ihm Abi erbost zu und schaute nun wieder mich an, „Dann sehen wir uns morgen..." verabschiedete sie sich nun leise und drückte mich, wie immer, kurz. Ich erwiderte die Umarmung, wohlwissend, dass es die letzte sein könnte. Dann sah ich ihr nach, wie sie zu den anderen ging, während mein Herz schwer wurde. Ich hätte es ahnen müssen. Es war wie immer. Wieder war ich allein. Wieder war ich der Arsch. Wieder war ich der Looser.
„Halt dich doch von dem Pisser fern. Der zieht dich nur runter" hörte ich Taylor zu Abi sagen.
„Rede nicht so von ihm. Du kennst ihn nicht" erwiderte Abi aufgebracht, dann waren sie um die Ecke verschwunden. Es erfüllte mich mit Stolz und Freude, dass sie mich vor ihm verteidigte. Das sie mich in Schutz nahm. Doch es kam, wie es kommen musste. In den folgenden Tagen sprachen wir immer weniger miteinander. In den folgenden Tagen, sahen wir uns immer weniger. In den folgenden Tagen unternahmen wir immer weniger. Bis sie mich nur kurz danach nicht einmal mehr grüßte. Einfach so tat, als würde sie mich nicht kennen. Als hätte ich in ihrem Leben nie existiert.
Plötzlich war alles wieder so wie immer. Ich schwänzte die Schule und glänzte nur durch Abwesenheit. Die Schule ging mir am Arsch vorbei. Genauso, wie die Menschen in ihnen. Genauso, wie ich ihnen am Arsch vorbeiging. Ich war allein. Wie immer war ich alleine. Daryl Dixon gegen den Rest der Welt.
Flashback Ende
Ich war schon immer ein Einzelkämpfer und daran würde sich nie etwas ändern. Daran konnte niemand etwas ändern. Auch sie nicht.
Glenn hat doch keine Ahnung, wovon er sprach. Ich war nicht in Josie verliebt. Nein, dass war ich nicht. Das war absoluter Bullshit. Unmöglich. Nicht in diesem Leben und auch nicht in jedem weiteren Leben. Ja, ich wollte sie beschützen. Ja, ich will sie immer noch beschützen. Aber das kann ich nicht. Nicht, wenn ich in ihrer Nähe bin. Der einzige, vor dem sie beschützt werden muss, bin ich selber.
Und so ziehe ich weiter durch den Wald. Ignoriere die eintretende Dämmerung und ziehe weiter und weiter. Jeder Schritt bringt mich weiter weg von Josie. Josie, die immer an mich geglaubt hat. Josie, die sich von Anfang an in meiner Gegenwart wohl, geborgen und sicher gefühlt hat. Josie, die es immer wieder geschafft hat, mich kurz aus der Reserve zu locken. Josie, die es immer wieder geschafft hat, dass ich runterkomme, wenn ich aufgebracht war. Josie, die es immer wieder schafft, dass ich mich nach ihrem Lächeln sehne. Josie, die es schafft, ungeahnte Gefühle in mir zu wecken. Josie, die es geschafft hat, dass ich ihre Nähe gesucht habe. Josie, die mir unverblümt sagt, was sie über mich denkt und dabei so verdammt oft richtig liegt. Josie, die mir einfach sagt, was sie fühlt. Josie, die mir einfach sagt, was sie will. Josie, die mir einfach nicht aus dem Kopf gehen will.
Und doch... Nein, ich bin nicht in sie verliebt. Nein, ich habe keine Gefühle für sie. Ich muss es mir einfach nur weiter einreden. Solange, bis ich mir sicher bin. Sicher bin, dass es wirklich so ist. Auch wenn mein Herz bei jedem einzelnen meiner Gedanken schwerer wird. Schwer wie Blei liegt es in meiner Brust und schnürt mir die Luft zum Atmen ab.
Doch ich tue das richtige.
Ich muss gehen.
Und ich gehe weiter.
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