[Zehn] - Indiskutabel

Jolene kommt direkt aus dem Haus, als ich vor diesem zum Stehen komme, und öffnet den Kofferraum, um beim Tragen der Einkäufe zu helfen.
Nur flüchtig, aber doch liebevoll ist ihr Kuss, den sie mir zur Begrüßung gibt.
»Mama, guck mal, was mir Mom gekauft hat!«, präsentiert er seine Errungenschaft stolz.
Aber Jolene ignoriert das, umgreift sein Kinn und hebt seinen Kopf ein wenig an, um sich sein Gesicht anzusehen.
Chester ist davon alles andere als begeistert, lässt es aber widerwillig zu.
Sobald Jolene ihn aus ihrem Griff entlässt, stürzt er freudig ins Haus hinein, um sein neues Spielzeug auszupacken.
Bevor er es aber in die obere Etage schafft, pfeift Jolene ihn zurück, und befiehlt ihm, zu warten.
Genervt stöhnt er, verdreht die Augen und setzt sich trotzig an den Tisch.
Während ich die Einkäufe in die Schränke verteile, begutachtet Jolene ihren Sohn genauer. Insbesondere die Würgemale am Hals.
»Sein Oberkörper sieht nicht besser aus«, warne ich sie vor, weshalb sie ihm unter die Arme packt, auf den Stuhl stellt und sein Shirt auszieht.
Sie dreht ihn um die eigene Achse und mustert jeden Bluterguss mit strenger Miene.
Chester erklärt ihr währenddessen, wo er geboxt und wo getreten wurde, als auch, was genau passiert ist.
Jolene hört es sich geduldig an und streicht ihm unentwegt durchs Haar, um ihn zu beruhigen. Denn durch die Erinnerung wird er etwas emotionaler und verhaspelt sich in seinen Worten; beginnt zu stottern vor Aufregung.
Ich ergänze seine Erzählung um das Gespräch mit der Direktorin und die Diskussion, die ich mit ihr hatte.
»Hast du diesem Rambo in die Eier getreten?«, fragt sie ihren Sohn und Chester nickt.
Geschockt sehe ich ihn an und frage ihn, weshalb er mich belogen hat.
»Ich hab' dich nicht belogen!«, bestreitet er und berichtet, Rambo zwischen die Beine getreten zu haben, als dieser auf ihm saß und ihn gewürgt hat. Erst da wäre Rambo von ihm runter, und dann wären auch schon die Lehrer gekommen. Rambo hätte dann auch sofort angefangen zu weinen und behauptet, er wäre von Chester angegriffen worden.

Nochmals streicht Jolene durch seine braunen Locken und lobt ihn dafür, dem Jungen in seine Weichteile getreten zu haben. Das schockt mich so sehr, dass ich dagegen protestieren will, denn ein Kind zur Gewalt zu ermutigen geht gegen meine Prinzipien. Aber Jolene hebt ihre Hand und unterbricht mich nur schon bei meinem Atemzug.
Dann schickt sie Chester in sein Zimmer, wo er endlich mit seiner neuen Figur spielen kann. Dies lässt er sich nicht dreimal sagen und verschwindet, so schnell er nur kann.
»Ich finde es nicht gut, ihn dafür zu loben, einem anderen Jungen in die Eier getreten zu haben«, merke ich dann an, als wir alleine sind.
»Dieser Junge hat meinen Sohn gewürgt. Das ist für mich mehr als eine Sandkastenrauferei. Das war rohe Gewalt. Chester hatte das Recht dazu, sich zu wehren, und zwar mit allen Mitteln - das darf er ruhig wissen«, gibt sie mir im dunklen Ton zur Antwort und zeigt deutlich, da auch keinen Widerspruch zu akzeptieren.
Letztlich gebe ich ihr aber Recht. Denn ja, wenn sich zwei Jungs mal raufen, ist das nichts schlimmes, aber zu würgen und unablässig in den Bauch zu treten, ist eine andere Sache, die durchaus böse hätte enden können.

Anschließend berichte ich ihr vom Krankenhausbesuch und auch, dort Rambo und seiner Mutter begegnet zu sein; erzähle ihr von der Androhung, die diese Frau geäußert hat.
Jolene schmunzelt unbekümmert. »Brittney Miller, wohnhaft in Opa-Locka.«
»Du hast dich über sie schon schlau gemacht?«, frage ich überrascht.
»Nein, diese Informationen habe ich von der Schule.«
Erleichtert atme ich auf.
»Sie ist 38 Jahre alt, hat vier Söhne von vier verschiedenen Männern, ist alleinerziehend, wohnte in ihrer Kindheit und Jugend in Overtown und ist Mitte der 2000er nach Opa-Locka gezogen. Sie ist ...« Sie unterbricht sich selbst, als ich die Hände in meine Hüften stemme und sie mit gehobener Augenbraue ansehe. »Diese Informationen habe ich recherchiert, nachdem ich mir ihre Daten von der Schule hab geben lassen«, gesteht sie schmunzelnd.
Ich ergebe mich seufzend und schüttle nur den Kopf.
Als nächstes erzähle ich ihr, dass Mrs. Henson mit uns über Chester reden möchte, weil sie Probleme mit ihm haben.
Jetzt ist es Jolenes Augenbraue, die skeptisch in die Höhe schießt. »Die Schule läuft erst seit zwei Wochen«, äußert sie und stellt sich offensicht dieselbe Frage wie ich. Es spricht nicht gerade für die Schule, mit einem fünfjährigen nach so kurzer Zeit überfordert zu sein.
Es ist deutlich zu erkennen, wie bitter es Jolene aufstößt, das zu hören. Denn bei der Schule hat sie auf die Bewertungen anderer geachtet, sich reichlich informiert und insbesondere deren Schulpolitik unter die Lupe genommen. Deshalb war sie der Meinung, eine gute Entscheidung getroffen zu haben.
»Ich finde, wir sollten mit Chester reden, bevor wir einen Termin mit Mrs. Henson machen. Ich halte sie nicht wirklich für Objektiv«, gebe ich zweifelnd von mir und erhalte ein zustimmendes Nicken meiner Frau, während sie mit einem leichten Schmunzeln auf mich zugeht und ihre Arme um mich legt.
Sie hebt meinen Kopf und platziert ihre Lippen für einen langen und liebevollen Kuss auf meinen.
»Für was war das?«, frage ich verwundert, aber ebenfalls schmunzelnd.
»Ich bin stolz auf dich«, antwortet sie schlicht und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. »Die Sekretärin hat mir erzählt, wie das zwischen dir und der Direktorin gelaufen ist. Sie kann wirklich froh sein, dass ich nicht da gewesen bin.«
Ich muss deswegen lachen, zumal mir auch in Erinnerung kommt, was Chester hat fallen lassen und berichte Jolene von seinem Spruch mit dem 'guten Cop'. »Ich hätte ihm dafür am liebsten ein High-Five gegeben«, gestehe ich ihr kichernd.
Auch Jolene lacht und zieht mich für einen weiteren Kuss erneut zu sich. »Du bist eine verdammt gute Mom«, gibt sie sanft von sich und sieht mir dabei tief in die Augen. »Besonders für Chester.«

Meine Mundwinkel formen sich zu einem Lächeln, weil mich ihr Blick und die Art, wie sie das sagte, glücklich machen. Aber mir kommt da etwas in den Kopf, das mich vorhin schon beschäftigt hat, weshalb ich wieder ernst werde.
Zunächst berichte ich ihr, Martin im Supermarkt begegnet zu sein und erzähle ihr von dem Gespräch. Alleine schon seinen Namen in den Mund zu nehmen, sorgt dafür, dass Jolenes Haltung angespannter wird, als wolle sie sich dafür bereit machen, ihm einen Besuch abzustatten, wenn unsere Unterhaltung wieder dazu geführt hat, mir die Kraft zu rauben. Aber als ich ihr berichte, dass mich seine Art nicht berührt hat und ich ziemlich unbeeindruckt geblieben bin, entspannt sie sich wieder.
»Dann hat Chester etwas geäußert, das zunächst absurd klang, aber als ich darüber nachgedacht habe, war es gar nicht mal so absurd.«
Neugierig neigt sich ihr Kopf und mit ihrer Hand streicht sie mir sanft über die Wange; signalisiert mir so, mir zuzuhören.
»Chester glaubt, wir hätten seinen Vater zum Babymachen.«
Sofort stoppt sie ihre zärtliche Berührung und ihre Augenbrauen schieben sich zusammen. Diese Geste beunruhigt mich, weshalb ich mir ein wenig Mut zusprechen muss und tief durchatme. »Ich finde den Gedanken nicht schlecht.«
Jolene distanziert sich von mir und ihr Blick wird eisiger, aber auch abschätzend, als würde sie darüber nachdenken. »Kommt nicht in Frage«, lehnt sie aber letztlich ab und entfernt sich von mir.
»Jolene.« Ich greife nach ihrer Hand, um sie daran zu hindern, einfach zu gehen. »Wenn Johnny der Vater unseres Kindes wäre, wären es und Chester richtige Geschwister.«
»Nein!«, zischt sie wütend und befreit sich aus meinem Griff. »Wir werden weder darüber nachdenken noch darüber diskutieren!« Sie greift nach ihrem Schlüssel und gibt mir deutlich zu verstehen, dass das Thema hiermit beendet ist. »Ich werde jetzt dieser Mutter einen Besuch abstatten, und ihr deutlich machen, wer von uns in der Gosse landen wird, wenn sie es darauf anlegt«, erklärt sie mir und verlässt das Haus; die Tür fällt dabei hinter ihr laut ins Schloss.

Seufzend setze ich mich an die Kücheninsel und reibe mir durchs Gesicht. Tatsächlich bin ich von ihrer Reaktion überrascht, weil ich geglaubt habe, sie würde das ebenfalls für eine gute Idee halten. Immerhin wäre Johnny jemand, den wir kennen und ich dachte, spätestens das Argument, dieses Kind und Chester wären dann richtige Geschwister, würde ziehen.
Irgendwie stelle ich nun Naddys Aussage über Jolenes Wille, ein Kind zu bekommen, in Frage, weshalb sich weitere dunkle Gedanken zusammenbrauen und mir einreden wollen, dass Jolene vielleicht auch gar nicht mehr will.
Aber ich schüttle sie zur Seite und verbiete ihnen, mir das einzutrichtern.
Um mich davon abzulenken zücke ich mein Handy, um nachzusehen, ob ich Nachrichten von Naddy oder Morgan habe, die mir mitteilen, wie ihr Gespräch ausgegangen ist. Da ich aber von beiden nichts bekommen habe, gehe ich davon aus, dass sie noch darüber reden und rechnen.
Also entschließe ich mich dazu, wieder zu CaddySign zu fahren.
Natürlich nehme ich Chester mit, der sofort Feuer und Flamme ist, als ich ihm erlaube, dort an meinem Computer dann etwas zu malen oder zu spielen. Seine neue Actionfigur aber muss selbstverständlich mit.

Morgan wirft mir einen müden, fast schon verzweifelten Blick entgegen, als ich den Besprechungsraum betrete. Ihre Haare trägt sie mittlerweile offen und sehen zerzaust aus.
Auf Nachfrage, ob sie schon ein Ergebnis haben, bejaht sie es und reibt sich das Gesicht. Naddy hingegen erzählt mir in knappen Worten, worüber sie gesprochen und diskutiert haben.
»Du hättest mich vorwarnen können, dass diese Frau anstrengender sein kann, als du, wenn es um Entscheidungen geht«, brummt Morgan.
Ich muss deswegen lachen und diesmal bin es ich, die ihr aufmunternd durch ihre schwarze Mähne streicht; vielmehr aber, um sie wieder ein wenig zu richten. Im Gegensatz zu mir genießt sie das aber und lehnt sich in meine Berührung. Dafür zwicke ich ihr kurz in den Oberarm. Dennoch scheint sie wirklich erledigt zu sein, weshalb ich ihr diese Nähe noch ein wenig genehmige und den Kopf kraule.
»Wie habt ihr euch entschieden?«, will ich wissen.
»Wir kaufen«, antwortet Naddy. »Aber welche der drei Immobilien wir kaufen sollten, müssen wir dann noch besprechen. Sie haben alle ihre Vor- und Nachteile.«
»Ich hab' Naddy die Sache mit der Finanzierung eingebläut, den Rest überlasse ich Jolene«, gibt Morgan erschöpft von sich.
»Und wie sieht es mit der Finanzierung aus?«
»Das soll dir Naddy erklären. Ich hab' keinen Bock mehr. Diese Frau da hat fast all' meine Nervenzellen zerstört.« Genervt rollt Morgan mit den Augen und steht auf.
»Ich wollte nur alle Eventualitäten durchgehen und mögliche Fehlinvestitionen ausschließen«, verteidigt sich Naddy.
»Eine Kaffeemaschine trägt nicht zu einer Fehlinvestition bei!«, feuert Morgan zurück und lässt mich so erahnen, über welche Kleinigkeiten sie diskutiert haben. »Wie auch immer«, seufzt sie dann und dreht sich mir zu. »Die letzte Entscheidung liegt bei euch und BNS. Soll sich Jolene selbst darum kümmern. Ich jedenfalls mach' mich vom Acker.« Sie legt mir eine Hand auf die Wange und beugt sich zu mir, um ihre Lippen zum Abschied kurz auf meine zu drücken. »Diese Frau ist wirklich Reid-Immun«, raunt sie noch und wirft Naddy einen unzufriedenen Blick entgegen.
Diese verzieht neckisch das Gesicht.
»Wir sehen uns«, spricht sie noch und verlässt dann den Raum.

Mit hochgezogener Augenbraue sehe ich Naddy an, die mir nur schulterzuckend entgegen grinst, als wäre sie unschuldig.
Morgan in solch einen Zustand zu bringen, empfinde ich durchaus als ordentliche Leistung.
»Und? Was war mit Chester?«, fragt Naddy dann, steht ebenfalls auf und beginnt, all die Dokumente zusammenzulegen.

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