[Vierundzwanzig] - Kinder, Kinder, Kinder
Die ganze Fahrt über plappert Chester aufgeregt, und sinniert, was er alles in der neuen Schule lernen will und wo er überall mitmachen möchte.
Ich habe noch nicht richtig eingeparkt, da will er schon die Tür aufreißen und rausspringen. Zwar habe ich die Kindersicherung drin, die ihn daran hindert, dennoch weise ich ihn zurecht, dass er gefälligst zu warten hat, bis ich den Motor ausschalte.
»Wir kommen zu spät!«, drängelt er und verschränkt bockig die Arme vor der Brust.
»Kommen wir nicht«, stelle ich klar und zeige auf die Uhr. Wir haben noch nicht mal acht. »Wir müssen sowieso auf deine Lehrerin warten.«
Ungeduldig stöhnt er und ist alles andere als glücklich damit. Ihm kann es einfach nicht schnell genug gehen heute.
Nachdem ich ihn aus dem Auto gelassen habe, stürzt er auf den Eingang zu und wartet dort zappelnd auf mich und sieht sich parallel um.
Dabei entdeckt er Linn; ein Mädchen, das er letzte Woche bei seinem Besuch hier kennengelernt hat. Erneut muss ich ihn zurückpfeifen, als er auf sie zu rennen will.
Raunend reibe ich mir durchs Gesicht, und hoffe, seine Bockigkeit, die er wegen all meinen Maßregelungen hat, bleibt nicht bestehen und treibt die Lehrer nicht schon an seinem ersten Tag in die Verzweiflung.
Zum Glück aber lässt man uns nicht lange warten. Eine Frau, die sich als Mrs. Hastings und Chesters Lehrerin vorstellt, begrüßt uns freudig lächelnd. Sogleich bittet sie ihn, mit ihr zu kommen - sehr zur Freude von Chester, der nun endlich die Schule betreten darf.
Trotz seiner Euphorie vergisst er aber nicht, sich von mir mit einem Kuss zu verabschieden.
»Rufen Sie mich an, wenn irgendwas ist«, bitte ich sie. »Und nicht erst in ein paar Wochen«, füge ich unterschwellig hinzu.
»Wir werden ganz sicher nicht anrufen müssen«, lächelt sie zwinkernd.
Ihr Wort in Gottes Ohr, seufze ich innerlich. Noch will ich das Kreuzchen nicht setzen. Vielleicht in dreizehn Jahren, wenn Chester seinen Highschool Abschluss macht, ohne je Ärger gemacht zu haben.
Ich warte, bis der kleine Junge mit seinem bunten Dino-Rucksack die gläserne Tür des riesigen Gebäudes durchschreitet und in der Masse der anderen Kinder untergeht.
Naddy und ich sind den Vormittag damit beschäftigt, all die Bewerbungen durchzusehen, die uns mittlerweile erreicht haben, nachdem wir die Stellenanzeige letzte Woche aufgegeben haben, als Jolene das Gebäude für uns klargemacht hat.
Wir sind überwältigt und sogar ein klein wenig überfordert mit der Anzahl. Dennoch sind wir uns einig, uns jede einzelne Bewerbung anzusehen. Jene für die Marketingabteilung fischen wir heraus und legen sie auf einen separaten Stapel. Die muss sich Jolene selbst ansehen, weil sie schließlich weiß, welche Profile in ihre Anforderungen passen. Darüber möchten weder Naddy noch ich entscheiden wollen.
Mein vibrierendes Handy macht auf sich aufmerksam. Mit Absicht habe ich es auf den Tisch gelegt, damit ich mitbekomme, wenn ich einen Anruf bekomme. Denn obwohl Mrs. Hastings zuversichtlich klang, habe ich noch immer meine Bedenken. Nach allem, was auf Chesters alten Schule vorgefallen ist, bin ich doch ein wenig geschädigt.
Winnie (10:22 am): »Kannst du bitte bitte Ellie im Kindergarten abholen?? Ich habe gleich meine vierstündige Einstellungsprüfung für die Medizinschule und ich kriege Dennis einfach nicht erreicht! Aber sie weint unaufhörlich und lässt sich nicht beruhigen.«
Die Verzweiflung ist deutlich zu herauszulesen.
Cait (10:22 am): »Ich hole sie und kümmere mich um sie. Mach' dir keine Sorgen und konzentriere dich auf deine Prüfung. Viel Glück!«
Nachfolgend einen Kuss-Smiley um ihr die Sorge zu nehmen. Immerhin ist diese Prüfung wichtig und entscheidet über ihre Zukunft als Ärztin. Natürlich kommt da ein Kleinkind, das in diesem Moment nach seiner Mama schreit mehr als ungelegen.
Naddy verspreche ich, von zuhause aus den Stapel an Bewerbungen durchzugehen, wobei diese nur abwinkt und mir sagt, ich solle mich bloß nicht stressen.
Am Kindergarten angekommen, kann ich Ellies Geschrei schon durch die Gänge hören und weiß somit, wo ich hin muss. In einer Ecke, abseits der anderen Kinder sitzt eine der Erzieherinnen mit dem kleinen Mädchen auf dem Schoß. Dieses versteift und verbiegt sich, weil es nicht festgehalten werden will. Es strampelt, schreit und weint.
»Ellie, Schatz«, spreche ich sie sanft an. Kurz verstummt sie, um mich anzusehen, fängt dann aber wieder an und streckt mir ihre kleinen Arme entgegen.
»Cat!«
»Ist ja gut«, spreche ich besänftigend, drücke sie fest an mich und streichle ihr über den Rücken. Währenddessen erklärt mir die Erzieherin, dass es vor etwa einer Stunde angefangen hat; berichtet auch, dass sich Ellie immer ihr rechtes Ohr zuhält und sie deshalb Ohrenschmerzen vermutet.
Auch mir zeigt Ellie, dass sie Schmerzen hat, weil sie auf Nachfrage auf ihr Ohr deutet.
»Ich werde mit ihr zum Arzt fahren«, versichere ich der Erzieherin und verlasse mit Ellie den Kindergarten.
Den Weg zum Kinderarzt wimmert Ellie nur noch leise vor sich hin und beschäftigt sich etwas müde mit Chesters Spielsachen, die sie zu greifen bekommt. Zwischendurch versucht sie mir was zu erzählen, ist aber zu leise und zu verschluchzt, als dass ich sie verstehen könnte.
Der Arzt bestätigt unsere Vermutung und diagnostiziert eine Mittelohrentzündung. Ursache kann so vieles sein, weshalb wir darüber nicht weiter spekulieren. Aber die Untersuchung hat Ellie tapfer über sich ergehen lassen und auch den Medizinsaft ohne Genörgel genommen.
Der Saft scheint schnell zu wirken, denn noch auf der Heimfahrt schläft Ellie im Sitz ein und wird auch dann nicht wach, als ich sie aus diesem befreie und in meine Arme hebe.
Ich steuere direkt auf Chesters Zimmer zu, wo ich sie in sein Bett lege und auch das kleine Nachtlicht anschalte, damit es nicht ganz so dunkel ist, sollte sie aufwachen.
Aus dem Schrank im Wohnzimmer krame ich das Babyphone heraus, das ich ebenfalls bei ihr im Zimmer aufstelle, damit ich sie höre, sollte sie erwachen.
Für den Fall, dass Winnie zwischendurch die Zeit hat, auf ihr Handy zu gucken, schreibe ich ihr eine Nachricht, in der ich sie auf den neuesten Stand bringe, und damit sie ihre Tochter gut versorgt weiß.
Direkt nach ihrer Prüfung kommt Winnie zu mir, um ihre Tochter abzuholen. Da Ellie aber erstaunlicherweise immer noch schläft, lassen wir sie noch in Ruhe und nutzen die Zeit, um uns ein wenig zu unterhalten.
»Ich hab' bestimmt verkackt.« Wimmernd vergräbt sie ihr Gesicht in ihren Händen. »Mein Kopf war total blockiert.«
»Wegen Ellie?«
»Ach«, schnaubt sie, »wegen Ellie, wegen dem Druck, wegen meinen Eltern ...«, zählt sie auf. »Ich kann froh sein, wenn ich später die Karteikarten im Krankenhaus ausfüllen darf.«
»Ich glaube nicht, dass du so schlecht abschneiden wirst«, versuche ich sie zu ermutigen. Immerhin weiß ich, wie intensiv sie lernt und es ihr absoluter Traum ist, Chirurgin zu werden. Ich glaube kaum, dass sie einfach alles vergessen hat - zumal sie nicht unter Prüfungsangst leidet, sondern sich eher wie eine Besessene darauf vorbereitet und es kaum erwarten kann, die Prüfung hinter sich zu bringen. Aber vermutlich liegt es daran, weil diese Prüfung diesmal entscheidet, ob sie Studentin der Medizinschule wird und damit endlich den Schritt zur Ärztin näher kommt. Denn dann beginnt erst die eigentliche Ausbildung zur Ärztin für weitere vier Jahre. Und im Anschluss muss sie sich etwa sieben Jahre auf ihre Fachrichtung spezialisieren, ehe sie sich dann Chirurgin nennen darf.
Winnie weiß, was sie sich da vorgenommen hat, alleine deshalb hat sie alles versucht, um es nicht zu vermasseln. Deshalb bezweifle ich, dass sie den Test verhauen hat.
»Ich bereite mich seelisch und moralisch trotzdem darauf vor, ihn zu wiederholen, wenn ich nicht die Höchstpunktzahl erreicht habe. Cait, ich muss den Platz an der Schule bekommen, denn wenn nicht ... ich habe keinen Plan B für mein Leben!« Erneut vergräbt sie ihr Gesicht in ihren Händen und greift sich dann brummend ins Haar.
»Winnie«, sage ich mit ruhiger Stimme und lege ihr meine Hand auf die Schulter, »du hast von Anbeginn des Colleges für diesen Test gebüffelt. Das wird nicht umsonst gewesen sein.«
Winnie nimmt einen tiefen Atemzug, um sich wieder zu entspannen. »Ich weiß«, stimmt sie mir zu, »aber ich hatte heute einen echt beschissenen Tag und war alles andere als konzentriert.«
»Was ist passiert?«, will ich wissen.
»Ellie war heute morgen schon so quengelig, aber ich dachte, meine Nervosität überträgt sich auf sie und sie ist deshalb so.« Stöhnend wirft sie ihren Kopf in den Nacken und macht sich deshalb selbst Vorwürfe. »Ich hätte das erkennen müssen, Cait!«, schimpft sie. »Ich will Ärztin werden! Kinderärztin sogar! Und dann erkenne ich bei meinem eigenen Kind nicht, dass es krank ist!«
»Hat sie dir gesagt, dass sie Schmerzen hat?«, frage ich sie, obwohl ich mir der Antwort bereits sicher bin.
»Nein, aber ich hätte es trotzdem erkennen müssen.«
»Weder angehende noch ausgebildete Ärzte können hellsehen«, beschwichtige ich sie.
Winnie sackt ein wenig in sich zusammen und brummt nur missmutig vor sich her.
Abwartend sehe ich sie an, weil ich weiß, dass das noch nicht alles war. Um sie zu ermutigen, ergreife ich ihre Hand und erlange so deren Aufmerksamkeit.
»Meine Eltern nerven mich«, fährt sie dann endlich fort. »Seit ich mit Ellie schwanger war, haben sie den Kontakt aufs Minimum reduziert.«
»Ich weiß«, nicke ich, weil das seit gut drei Jahren ein Thema ist, das sie belastet.
»Sie haben noch kein einziges Mal ihre Enkeltochter gesehen und weigern sich, es zu tun.«
Wieder nicke ich nur, weil auch das nichts Neues ist.
»Ellie ist für sie ein uneheliches Kind, weshalb sie sie nicht akzeptieren wollen. Und mich ebenfalls, weil sie dadurch begriffen haben, dass ich vorehelichen Sex habe.«
Unwillkürlich blase ich die Backen auf. Das sind so Momente, bei denen ich denke, dass es manchmal doch nicht so schlimm war, irgendwie gar keine Eltern gehabt zu haben, beziehungsweise einen Vater und Großeltern, denen es einfach egal war, was ich getan habe und wie es mir ging.
»Ich habe heute morgen mit meiner Mutter telefoniert«, kommt sie endlich zum Eigentlichen. »Ich habe gehofft, sie würde mir Mut für die Prüfung zusprechen und mir Glück wünschen.« Erneut pausiert sie, um einen tiefen Atemzug zu nehmen. »Stattdessen fragte sie mich, wann ich endlich den Vater meines Kindes heiraten werde und gab mir unvermittelt zu verstehen, es schnell zu tun.« Dann fängt sie plötzlich an zu lachen, wobei es weniger von Humor begleitet wird. »Sie hat mir mit Enterben gedroht, wenn ich nicht endlich wieder auf den richtigen Weg finde. Dennis heiraten, das Studium zur Seite legen und mich um Kind, Haushalt und Mann zu kümmern.« Erneut lacht sie hämisch. »Enterben!« Echauffiert wirft sie ihre Arme in die Luft. »Meine Eltern sind alles andere als wohlhabend und vermögend. Noch dazu bin ich das jüngste von sechs Kindern! Was würde da schon für mich übrig bleiben?« Ihr Lachen wird zu einem Grunzen, bei dem selbst ich nicht mehr ernst bleiben kann und darauf eingehe. »Ob ich nichts kriege, oder nichts kriege«, gackert sie. »Ich hab' sie ausgelacht; fand sie nicht witzig. Jetzt hasst sie mich und hat mir gesagt, ich solle mich nicht mehr bei ihr melden, ehe ich vom Vater meines Kindes einen Ring an den Finger kriege.« Ihre Heiterkeit verebbt und ihre Schultern heben und senken sich nach ihrem tiefem Atemzug. Gequält lächelt sie mich an. »Geiler Start in den Tag.«
»Du bist ihre Jüngste«, versuche ich die Reaktion ihrer Mutter irgendwie zu rechtfertigen. »Und ihr einziges Mädchen«, füge ich hinzu. Denn damit glaube ich es erklären zu können. Winnie hat fünf große Brüder, und als ihre Mutter nicht mehr mit einem Mädchen gerechnet hatte, kam Winnie und war ihr ganzer Stolz. Zumindest ist es das, was ich aus all den Erzählungen von Winnie herausgehört habe. Bevor sie nach Miami kam, um ein Studium in der Medizin zu beginnen, war ihre Mutter der wichtigste Mensch in ihrem Leben und ihre beste Freundin.
Mit der Entscheidung, studieren zu gehen, war ihre Mutter nicht einverstanden, weshalb es zum ersten richtigen Bruch kam. Und weil ihre Eltern ebenfalls sehr gläubig sind, haben sie einen anderen Lebensstil von ihrer Tochter erwartet. »Egal was sie dir sagt, sie wird dich nie hassen können«, lächle ich und versuche Winnie aufzumuntern und zu ermutigen.
Diese aber brummt wieder nur und stützt ihr Kinn auf ihrem Handballen an, während sie mich unzufrieden und sogar ein wenig genervt ansieht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top