[Siebenundsiebzig] - Rollende Köpfe 1
Bei BNS ist bereits reges treiben, als wir ankommen. Einige Angestellte von Jolene bereiten den Saal in der untersten Etage auf die große Versammlung vor.
Tische und Stühle werden entsprechend ihrer Anweisung gestellt und mit Gläsern und Getränken bestückt.
An der Wand neben dem Eingang entlang wird ein langer Tisch aufgebaut, auf dem große Kaffeekannen und Tassen gestellt werden, um die Gesellschaft mit Koffein zu versorgen.
Ich bin überrascht, wie viele Sitzplätze vorbereitet werden. Mir ist durchaus bekannt, dass Jolene einundzwanzig Unternehmen unter ihrem Schirm hat, aber hier werden gerade mindestens doppelt so viele Plätze vorbereitet.
»Ein Glück hat Jolene unser Netzwerk persönlich eingerichtet«, höre ich Naddy sagen, die plötzlich neben mir steht. »Das rettet uns das Leben«, fügt sie hinzu und drückt mir mein Tablet in die Hand, das sie mir aus meinem Büro bei CaddySign mitgebracht hat. »Ich habe sie eben gesehen. Ihr Blick ist so tödlich, wie damals, als sie Dwayne klein gefaltet hat, nachdem er dir gekündigt hatte; wenn nicht sogar tödlicher.«
»Eher tödlicher«, antworte ich mit einem schwachen Schmunzeln. »Dwayne hat damals wenigstens eine Schonfrist bekommen. Heute wird sie nicht so gnädig sein.«
»Du sitzt an der Quelle. Was wird passieren?«, fragt sie neugierig.
Ahnungslos zucke ich mit den Schultern. Die Frage kann ich ihr nicht im Detail beantworten, weil ich es selbst nicht weiß; lediglich, dass Jolene stinksauer ist und es nach ihrer Aussage heute für einige unschön werden wird. Wie dieses unschön aussehen wird kann ich mir nicht mal im Ansatz erdenken, da ich noch nie eine High-Level-Reid erlebt habe.
Aber selbst Ian und Cormack tragen einen äußerst ernsten Ausdruck in ihrem Gesicht. In ihren Anzügen sehen sie sogar wie ernstzunehmende Geschäftsmänner aus, mit denen man sich heute nicht anlegen möchte. Cormack ist in den letzten Tagen sogar Bart gewachsen, dem er für den heutigen Tag einen äußerst gepflegten Schnitt verpasst hat. Dadurch sieht er nochmal ehrfürchtiger aus.
Jolenes Platz wird an der Spitze der großen Tafelrunde aufgebaut, neben ihr die drei Plätze für Ian, Cormack und Brandon, die als Geschäftsführer von BNS natürlich ebenfalls präsent sein müssen.
Auf der anderen Seite von Jolenes Tisch fünf weitere Plätze.
Wie sich später herausstellt für Amber und ihre drei Geschäftspartner, die als Rechtsbeistand vertreten sind und ein Platz für Morgan als Finanzmanagement.
Die Riege der hohen Damen und Herren vom BNS-Imperium wächst und der Saal füllt sich hörbar.
In einigen Gesichtern kann ich Angst erkennen, in anderen absolute Ahnungslosigkeit, und doch ist jedem die Furcht deutlich anzusehen. Furcht, weil es wohl diese Art von Versammlung so noch nie gab und deshalb nichts Gutes zu bedeuten hat.
Vielleicht haben einige auch schon Jolene mit ihrem Todesblick irgendwo entdeckt und wissen ganz genau, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat.
Als Jolene den Saal betritt und zu ihrem Platz geht, verstummen die chaotischen Gespräche. Das Gedränge beginnt, weil sich jeder einen Platz sucht. Um darin nicht erdrückt zu werden, warte ich, bis die Masse sitzt, ehe auch ich mich in Bewegung setze.
Jetzt, da sich alle sortiert haben, kann ich meinen Blick über jedem einzelnen wandern lassen und die Gesellschaft zählen.
Mit Naddy und mir zähle ich 39 Personen plus die acht, die vorne bei Jolene sind. Sie hat also die Macht über 47 Geschäftsführer ihrer 22 Unternehmen. Eine beachtliche und beeindruckende Zahl. Darüber die Hand zu halten ist eine ordentliche Leistung, wie ich finde; und das als so junge Frau.
Jolene hebt ihren Blick und lässt diesen durch den Saal wandern. Jedem einzelnen sieht sie dabei in die Augen und bewirkt damit absolute Stille.
Irgendeiner klickt mit seinem Kugelschreiber, der sofort damit aufhört, als ihn Jolenes Blick erreicht.
Hier und da hört man, wie Tassen vorsichtig auf die Untersetzer gestellt werden.
Es ist so leise, dass man sogar den Staub fliegen hören kann. Es traut sich auch niemand zu flüstern, weil man selbst das sehr deutlich hören würde.
Hinter Jolene auf dem riesigen Board an der Wand taucht plötzlich eine Tabelle auf, die alle Tochter- und Subunternehmen von BNS aufzeigt. Inklusive der Zahlen von Angestellten, Finanzstärke und aktuellem Marktwert.
Jolene erhebt sich, stellt sich vor ihren Tisch und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen diesen.
Ein Mann ganz vorne hebt seine Hand und möchte etwas sagen, aber Jolene unterbindet es direkt.
»Es werden heute nur meine Fragen beantwortet«, stellt sie direkt klar. »Es wird auch nicht diskutiert. Ich rede, ihr hört zu. Es gibt auch keinen Zeitplan. Wie lange wir hier heute alle sitzen, hängt also davon ab, wie oft ihr mir ins Wort fallt. Ich rate dazu, es nicht ein einziges Mal zu tun.«
Von einigen hört man ein unzufriedenes Raunen, das bei Jolenes Blick aber ebenfalls direkt wieder verebbt.
»Heute wird es Umstrukturierungen in einzelnen Unternehmen geben«, kündigt sie an und deutet auf die Tabelle hinter sich.
Vier ihrer acht Tochtergesellschaften sind rot markiert. Was das bedeutet weiß ich auch nur, weil ich es die letzten beiden Tage mitbekommen habe. Das sind dann die Unternehmen, die heute einen Führungswechsel zu erwarten haben.
Aber auch von den Subunternehmen sind einige markiert; insgesamt fünf von dreizehn sind Orange gefärbt. Darunter auch CaddySign und Ambers Kanzlei.
Naddy sieht mich fragend an, aber ich kann ihr keine Antwort geben, weil ich selbst überfragt bin, was das zu bedeuten hat. Jolene hat mir gegenüber nichts geäußert, entsprechend bin ich selbst mehr als überrascht.
In meinem Hals wächst ein Kloß in der Größe eines Tennisballs, weil ich nicht weiß, was Jolene mit uns vor hat.
Als wir CaddySign vor vier Jahren gegründet haben, hat sie sehr deutlich gemacht, wie sie mit uns rein geschäftlich umgehen wird. Sie wird in uns investieren, aber wenn wir Mist bauen, uns auch auf die Straße setzen; ganz gleich, ob ich ihre Frau bin und Naddy unsere beste Freundin. Dem sind wir uns bewusst und haben dem auch wohl wissend zugestimmt.
»Wir schreiben doch grüne Zahlen, oder?«, flüstere ich zu Naddy; viel mehr eine rhetorische Frage, da ich die Zahlen kenne.
»Verdammt grüne Zahlen«, antwortet sie ebenso.
»Gibt es irgendwas anderes, das uns diese Markierung beschert?«, frage ich weiter.
»Du bist von uns beiden diejenige, die jede Nacht mit BNS ins Bett geht. Wenn du es also nicht weißt, weiß ich es gleich drei Mal nicht.«
Ich schnaufe einmal durch und sehe wieder nach vorne, wo Jolene erstmal noch über Bilanzen redet.
»Ganz egal, wofür diese Markierungen stehen, jeder Einzelne in dieser Runde wird hier heute kastriert«, mischt sich eine männliche Stimme ins Gespräch ein. Erschrocken drehe ich mich nach links und sehe einem kräftigen, vollbärtigen Mann mit finsterer Miene entgegen. Einen Aufschrei kann ich gerade noch so unterdrücken.
Sein Blick wandert zu meinem Bauch und zurück in meinen Augen. »Sie inbegriffen. Reid hat nämlich auch keine Gnade für Schwangere; auch dann nicht, wenn einer ihrer Jungs dort oben der Glückliche ist.« Nochmals geht sein Blick kurz zu meinem Bauch.
Noch immer sehe ich ihm geschockt entgegen. Zum einen, weil ich nicht mitbekommen habe, was für ein Bär neben mir sitzt; sein Gesicht wird durch den dunkelbraunen und vollen Bart verdeckt. Seine breiten Augenbrauen werfen einen Schatten über seine ohnehin dunklen Augen. Seine Hände können wahrlich als Pranken bezeichnet werden.
Zum anderen bin ich so geschockt, weil er Naddys Worte deutlich verstanden, wenn auch ein wenig fehlinterpretiert hat, denn keiner ihrer Jungs ist für meine Schwangerschaft verantwortlich. Aber er weiß jetzt quasi wer ich bin, und ich weiß nicht, ob das so gut ist.
»Keine Angst, junge Dame«, sagt er mit leiser aber auch dunkler Stimme, und durch seinen dicken Bart kann ich nur schwach das Lächeln erkennen, »die gruselig aussehenden Männer sind meist die harmlosen.«
»Das sehe ich nicht so«, entgegne ich.
Verwundert sieht er mich an. »Ich bin trotzdem harmlos«, verspricht er.
»Sie sehen ja auch nicht gruselig aus.«
Jetzt ist er überrascht. »Wie sieht denn für Sie ein gruseliger Mann aus?«, fragt er neugierig und beugt sich leicht zu mir, damit er so leise wie möglich ist, um Jolenes Rede nicht zu stören.
»Wie der da«, sage ich und nicke kaum merklich zu einem Mann auf der anderen Seite. Ein noch recht junger Mann, wenn ich schätzen müsste. Fast schwarze gestutzte Haare, die aussehen, als hätte er sie sich selbst geschnitten. Eine große, lange Nase und auffällige Ohren; von hagerer Statur mit langen knochigen Fingern. Auf der einen Seite wirkt er, als würde er noch immer von seiner Mutter das Zimmer aufgeräumt bekommen und doch quillt ihm pure Arroganz aus dem Gesicht. Seit wir hier sitzen sieht er mich ununterbrochen an und grinst mir auf eine widerliche Art entgegen, wegen der ich mich mehr als unwohl fühle. »Wenn mir nachts auf der Straße so jemand entgegen kommt, würde ich ohne zu zögern zu fünf von Ihnen ins Auto steigen.«
Plötzlich lacht der Mann erheitert auf, verstummt aber sofort, als sich alle Blicke auf ihn richten; inklusive der tödliche Blick von Jolene.
Auch ich räuspere mich und senke meinen Blick, um die Schamesröte zu verbergen.
»Das ist Logan Goldman«, erklärt er mir leise, als wir nicht mehr im Mittelpunkt stehen. »Hat vor einem Jahr die Führung von LineUp von seinem Vater übernommen.«
Ich erinnere mich an den Namen. Und innerlich muss ich sogar schmunzeln, weil ihm Jolene heute diese widerliche Arroganz aus dem Gesicht schlagen wird. Denn LineUp gehört zu den Unternehmen, die dort rot markiert sind und somit auf Jolenes Abschussliste stehen.
»Mick Goldman hat das Unternehmen 1978 gegründet und war Inhaber, bis es dann 2017 von Reid verschluckt wurde. So wie die meisten hier«, fügt der Fremde erklärend hinzu.
Naddy schlägt mir unauffällig aber bedeutend gegen mein Bein und erlangt so meine Aufmerksamkeit. Da bemerke ich Jolenes bedrohlichen Blick, der wieder auf mich gerichtet ist; ihre Ansprache unterbricht sie aber nicht. Erst als sie sich sicher ist, dass ich mich nicht wieder von dem Mann ablenken lasse und vollends bei ihr bin, wandert ihr Blick weiter, bis sie ihre Rede schließlich beendet.
Sie übergibt das Wort an Cormack, der sich von seinem Platz erhebt und nach vorne tritt. Während er mit einer ungewohnt dominanten Präsenz von den Ereignissen der letzten Wochen berichtet und erklärt, wieso BNS die Netzwerke jedes einzelnen Unternehmens durchleutet hat, stellt sich Jolene zu Amber und scheint mit ihr noch ein paar kleine Dinge zu klären, die hier heute ebenfalls von Relevanz sein werden.
Cormack erklärt schließlich auch, welche Bedeutung die orangene Markierung in der Tabelle mit den Unternehmen zu bedeuten hat: Sie alle haben entweder ein vermeintlich verlockendes Angebot von Bilson & Son erhalten, oder gehören zu jenen, bei denen Morgan ein auffällig hohes Interesse an Firmenanteilen bemerkt hat; von Unternehmen, die sie ebenfalls Bilson und & Son zuordnen konnte.
Erleichtert atmen Naddy und ich auf. Wir haben also nichts angestellt, weshalb wir ins Visier von Reid geraten sind und uns deshalb das Aus gedroht hätte.
Es hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert, wenn mich Jolene so im Dunklen gelassen und mir dann böse vors Knie getreten hätte.
Zweifelsohne hätte sie keine Skrupel, CaddySign rauszukatapultieren, wenn es notwendig wäre, aber sie würde mit mir wenigstens vorher darüber reden. Ganz sicher.
Cormack berichtet weiter, dass zum aktuellen Zeitpunkt keine Firmenanteile verkauft werden; dass grundsätzlich keinerlei Angebote von irgendwem angenommen werden.
»BNS verkauft nichts«, gibt er deutlich zu verstehen und unterbindet umgehend mit einem eindringlichen Blick jegliche Äußerung von irgendwem in diesem Saal.
Ich hätte diesem Kindskopf wirklich nie zugetraut, solch eine Ausstrahlung zu haben, die nicht weit von Reid entfernt ist. Aber bei solchen Angelegenheiten muss man wohl so auftreten, um überhaupt ernst genommen zu werden.
Als Jolene die Dokumente in die Hand nimmt, die sie all die Zeit mit Amber noch besprochen hat, übergibt Cormack ihr wieder das Wort und setzt sich auf seinen Platz zurück.
Bevor sie jedoch spricht, lässt sie sich auch von Ian ein Schriftstück geben. Erst dann wendet sie sich wieder der Gesellschaft zu.
Sie ruft neun Namen auf und neun Männer erheben sich, so wie sie es mit lediglich einer Geste verlangt. Es sind die Geschäftsführer ihrer vier Tochterunternehmen, bei denen man den Trojaner fand.
Von jedem einzelnen verlangt sie eine Erklärung, wie es möglich war, dass der Trojaner in deren Netzwerke gelangte; teilweise von eigenen Rechnern aus installiert.
Sie alle sind davon überrumpelt und können es sich auf die Schnelle nicht erklären und Jolene somit keine Antwort geben.
Und das wiederum gefällt Jolene überhaupt nicht, die ihnen nochmals eine Chance gibt, darüber nachzudenken.
»Es ist unmöglich«, behauptet dieser Logan Goldman. »Kein Trojaner kann es in unser Netzwerk schaffen. Unsere Firewall ist die sicherste in ganz Amerika!«
Mit dieser Aussage huscht für einen Bruchteil einer Sekunde ein spöttisches Schmunzeln auf Jolenes Lippen.
»Mit Überheblichkeit ist es wie mit Diamanten, Mr. Goldman. Man sollte sie nur tragen, wenn man sie sich leisten kann.« Mit einer Geste befiehlt sie ihn und einen weiteren Mann zu sich. »Und Überheblichkeit können Sie sich bei Weitem noch nicht leisten. Schon gar nicht, solange Sie noch die Eierschalen hinterm Ohr haben.« Mit einer weiteren Geste verlangt sie die Herausgabe seiner Chipkarte, die ihn dazu legitimiert, sich in seinem Unternehmen frei bewegen zu können. Diese überreicht sie Ian, dessen Monitor wir auf dem großen Board zu sehen bekommen und so dabei zusehen können, wie er diese Karte deaktiviert.
Jolene erklärt, was das zu bedeuten hat: Logan Goldman, der Geschäftsführer von LineUp, ist ab sofort kein Geschäftsführer mehr.
»Das können Sie nicht machen!«, protestiert Goldman sofort und lautstark. »Das ist mein Unternehmen!«
Jolene sieht ihm direkt in die Augen. Ihr Blick beängstigend starr und durchdringend. »Es war nie Ihr Unternehmen.«
»Mein Vater ist der Gründer!«
»Und er wusste, was er tat.«
»Ich werde Sie verklagen!«, droht Goldman.
Genervt verdreht Jolene die Augen zu ihm. »Tun Sie's. Sie haben ja jetzt ausreichend Zeit, die Sie verschwenden können.«
*****
Guten Abend zusammen,
zur Feier des Tages (es ist schon wieder der 3. März. Mensch, wo ist die Zeit hin?) wollte ich aus jeder Geschichte ein Kapitel online stellen.
Ob mir das aber gelingt, weiß ich nicht, da ich doch recht spät von der Arbeit nach Hause kam und nicht weiß, ob ich das Kapitel von Morgan noch fertig kriege (viel ist es nicht mehr), aber ich gebe mir mühe!
Dieses Kapitel hier hingegen ist so lang geworden, dass ich es splitten musste. Deshalb erstmal nur den ersten Teil, später folgt auch noch der zweite - versprochen :)
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