[Neunzig] - Zu viel Schicksal

Mit zitternden und panik-nassen Händen nehme ich mein Handy und wähle Morgans Name aus der Kontaktliste, um sie anzurufen.
Ich will und kann nicht glauben, was ich da gerade im Fernseher sehe. Noch habe ich jede Hoffnung, dass es nicht das Flugzeug ist, in dem Morgan und Kyle gesessen haben.
Die Hoffnung stirbt aber recht schnell wieder, als direkt die Mailbox rangeht und ich dabei ihre Stimme höre.
Tränen fluten meine Wangen, während ich voller Verzweiflung Jolene ansehe, der ebenfalls sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen ist.
Trotzdem bleibt sie für mich stark und legt ihre Arme fest um mich. Ich höre den wilden Herzschlag in ihrer Brust hämmern und spüre, wie auch ihre Hände zittern.
Chester sieht uns irritiert an und versteht nicht, warum wir gerade so reagieren.

Jolene drückt mich sanft auf die Couch nieder und kniet sich vor mich. Mit beiden Händen umfasst sie mein Gesicht und wischt mir all die Tränen weg. Aber es sind einfach zu viele.
Ihre Stimme zittert und klingt ungewöhnlich, während sie versucht, Chester in aller Ruhe darüber zu informieren, wer in diesem Flugzeug gesessen hat.
Sofort drückt sich dieser fest an mich und beginnt ebenfalls zu weinen. Eigentlich sollte jetzt mein Mutterinstinkt greifen, der dafür sorgt, für ihn da zu sein; für ihn stark zu sein, aber ich kann einfach nicht aufhören zu weinen.
Nur Jolene schafft es, ein wenig Haltung zu bewahren, aber ich kann hören, wie angestrengt sie Schluckt.
Dann nimmt sie ihr Handy und ruft die Nummer an, die in den Nachrichten eingeblendet wird, damit sich Angehörige der Opfer melden können.
Ungeduldig läuft Jolene im Raum auf und ab, und wartet darauf, endlich jemanden ans Telefon zu bekommen. Entsprechend harsch ist ihr Ton, als sich jemand endlich meldet.
Sofort gibt sie Daten und Beschreibung von Morgan und Kyle heraus.
Mein Herz bricht ein zweites Mal, als ihr bestätigt wird, dass eine Morgan-Arizona Reid-Evans mit ihrem Sohn Kyle eingecheckt hat.
Außerdem wird Jolene darauf vorbereitet, vielleicht mehrere Opfer zur Identifizierung beschauen zu müssen, vor allem, da die Beschreibung von Kyle nicht so individuell wie die seiner Mutter ist.
Als mir das Jolene so weitergibt, bricht alles in mir zusammen.

Alleine die Vorstellung, diese beiden nicht lebendig zu sehen erzeugt ein unbeschreibliches Horror-Szenario in meinem Kopf. Ich könnte das nicht. Ich würde das auch gar nicht wollen. Ich will Morgan nicht so in meiner Erinnerung behalten.
Ich will ihr typisch freches Schmunzeln nicht vergessen, ihren Ausdruck, ihren Blick.
Wie geht es da Jolene? Sie ist mit Morgan aufgewachsen und steht in einem ebenso engen Verhältnis mit ihr. Diese beiden waren wie Zwillinge, und Zwillinge kann man nicht trennen.
Und Kyle ... Kyle ist doch erst sechs Jahre alt. Sein Leben hat noch nicht richtig begonnen, da wird es ihm schon wieder entrissen. Dieser kleine Junge, mit derselben Cleverness und demselben frechen Grinsen seiner Mutter.
Alles in mir zerreißt bei dem Gedanken daran, keinen von ihnen je wieder zu sehen. Nicht so, wie ich sie kennen und lieben gelernt habe.

Jolene reißt sich weiterhin am Riemen, obwohl es auch ihr alles andere als gut geht.
»Mailbox«, knurrt sie unzufrieden und wirft ihr Handy auf den Wohnzimmertisch, nachdem sie versucht hat, auch Amber zu erreichen.
Wieder läuft sie unruhig im Raum auf und ab.
Sie ist hilflos. Zum ersten Mal erlebe ich Jolene so hilflos, so machtlos, so verzweifelt. Aber ihr Kopf arbeitet. Sie macht sich Gedanken, wie sie an Informationen kommt, um uns allen Gewissheit zu verschaffen.
Sie ruft sämtliche Leute an. Ian, Brandon und Cormack, meinen Stiefvater, der ja immerhin am Flughafen arbeitet, sogar Heather ruft sie an, aber niemand kann ihr sofort helfen, denn der Unfall ist viel zu frisch und die Analyse und Erfassung sämtlicher Daten steckt noch am Anfang. Dennoch werden sie alles versuchen, um irgendwie an Informationen zu kommen. Und Jolene hat gerade keinen Kopf, um selbst nachzuforschen.
Es herrscht Chaos, keiner kann irgendwelche Auskünfte geben.
Die Rettungseinsätze sind noch dabei, die Opfer zu suchen und zu bergen - und das sind bisher nicht viele.
Das Meer ist an dieser Stelle zu tief, der Radius der Unfallstelle zu groß. Durch den Zusammenstoß wurden die Passagiere teilweise herausgeschleudert, andere sind mit Teilen des Wracks untergegangen - und diese zu bergen, wird nicht einfach sein.

Böse Gedanken und schwere Selbstvorwürfe überrollen mich plötzlich, als mir bewusst wird, wie Morgan und ich auseinander gegangen sind.
Wir haben uns gestritten. Das schlimmste Szenario überhaupt.
Ich frage mich, ob Morgan je in dieses Flugzeug gestiegen wäre, wenn ich sie nicht so unter Druck gesetzt hätte? Was, wenn ich ihrer Bitte gefolgt wäre? Was, wenn ich das Gespräch anders angegangen wäre? Friedlicher und nicht so abweisend und konsequent.
Vielleicht wäre sie wirklich erst zu Amber, wenn ich sie ganz lieb darum gebeten hätte?
Ich war ihr gegenüber einfach zu forsch, dabei hätte ich wissen müssen, wie sie darauf reagieren wird. Wenn man die Reids in eine Ecke drängt, erreicht man doch immer nur das Gegenteil. Vor allem bei Morgan, die Entscheidungen gerne selbst trifft und sich nicht sagen lässt, was sie zu tun hat.

Meine Gedanken drehen sich weiter.
Dass sich Amber und Morgan überhaupt gestritten haben, ist meine Schuld. Ich habe mir ein Urteil über deren Beziehung gebildet, obwohl ich dazu gar nicht berechtigt war.
Wie kam ich denn nur auf die Idee, Amber klarmachen zu wollen, wie sehr Morgan sie liebt, ohne überhaupt zu wissen, wie es zwischen ihnen wirklich läuft? Ich kann doch nur darüber urteilen, was ich sehe. Und nur, weil nach Außen hin alles schön und gut aussieht, muss es ja dann nicht wirklich so sein. Gerade ich sollte das doch nach fünf Jahren Beziehung mit Martin am besten wissen.
Ich habe Ambers Bedenken einfach nicht ernst genommen, weshalb sie überhaupt so wütend geworden ist. Und wenn eine schlechtgelaunte Morgan zu ihrer frustrierten Freundin geht, ist es doch nur naheliegend, dass es zwischen ihnen knallt.
Und dann kommt Morgan zu uns, und darf sich von mir auch direkt was anhören.
Ich hätte es anders angehen müssen. Ich hätte es verhindern können.

Diese Erkenntnis bringt alles in mir zum Erliegen.
Allein der Gedanke daran, Morgan nie wieder zu sehen, bringt mich schon um, und dann noch die Selbstvorwürfe, weil ich es hätte verhindern können; der Gedanke, ihr nicht doch genehmigt zu haben, sich von mir zu verabschieden.
Ich kann kaum noch atmen, weil sich meine Lunge zusammenzieht und verkrampft. Mein Herz hat längst keinen richtigen Rhythmus mehr und schmerzt auf unbeschreibliche Weise; als läge ein Gewicht von mehreren Tonnen auf meiner Brust.
Das starke Schluchzen verursacht mir Schmerzen unter meinen Rippen und im Rücken, und mein Kopf droht zu explodieren.
Er fühlt sich so prall und geschwollen an.
Ich bekomme meine Augen nicht mehr auf; aber selbst wenn, würde ich ohnehin nichts sehen, weil zu viele Tränen in ihnen stehen.

Jegliche Versuche von Jolene, mich zu beruhigen, langsam und konzentriert zu Atmen dringen nicht zu mir durch. Ihre Berührungen und sanften Worte, ihre Küsse - all das erreicht mich kaum.
Ich versuche, mich zu beherrschen und die Kontrolle über mich selbst wieder zu erlangen, aber meine Gedanken blockieren mich.
Jedes Mal, wenn ich glaube, wieder atmen zu können, sehe ich Morgan vor mir.
Wie sie mich anschmunzelt, mit ihren Augenbrauen zuckt, mir tief in die Augen sieht; spüre ihre Hand auf meiner Wange und höre ihre Stimme, wie sie mir mit frechen Worten die Röte ins Gesicht treibt.
Die Erinnerung an den Kuss auf meiner Hochzeit springt durch meinen Kopf. Wie sie mich im Arm hält, wie sich ihr Körper anfühlt.
Ihre ganzen Flirts und frechen Anspielungen, aber auch ihre ernsten Momente.
Wie wir uns kennenlernten. Meine Gefühle, als ich sie das erste Mal sah und wie sie mich begrüßt hat. So offen und ungeniert, als hätten wir uns schon längst gekannt.
Ihre Offensive, damit sie die Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle übernehmen kann. Ihr Atem auf meinen Lippen.
Ihr zärtliches Flüstern in meinen Ohren.

Meine Gedanken und Erinnerungen an sie scheinen endlos. Es gibt so vieles, das sie ausmacht und das ich an ihr liebe.
Meine Gefühle, wenn sie bei mir war. Nur an ihrer Seite konnte ich mich so sicher, geborgen und geliebt fühlen, wie bei Jolene.

Sie ist nicht weg, weil wir uns dazu entschlossen haben, getrennte Wege zu gehen, oder weil der Kontakt einfach abgebrochen ist. Sie ist weg, weil sie aus ihrem Leben gerissen wurde.
Uns allen wurde sie aus dem Leben gerissen. Und Kyle auch.
Wieso?
Wieso ausgerechnet sie? Als hätte Morgan nicht sowieso schon ein schweres Schicksal in ihrem Leben gehabt. Bei einer Mutter aufgewachsen, die nicht mal in der Lage dazu war, sich um sich selbst zu kümmern. Bei einer Mutter, die in diesen Zustand geraten ist, weil sie vom eigenen Bruder missbraucht und dafür noch von der eigenen Familie verurteilt wurde.
Aufgewachsen ohne Vater, weil er vor ihrer Geburt gestorben ist - und das, so wie sich jetzt herausstellte, nicht mal, weil er in einem Einsatz gefallen ist, sondern vermutlich durch den eigenen Schwager zu Tode kam. Ermordet.
Und dann wuchs sie in einer Familie auf, in der sie immer als Abtrünnige behandelt wurde. Als das schwarze Schaf. Die, die immer nur Ärger machte.
Durfte sich anhören, eine Säuferin wie ihre Mutter zu sein.
Aber all das hat sie stark gemacht. Und dafür habe ich sie so sehr bewundert.
Wieso also spielt ihr das Schicksal so übel mit? Reicht all das nicht schon? Musste sie jetzt auch noch auf diese Art und Weise unsere Welt verlassen? Uns verlassen?
Sie und ihr sechsjähriger Sohn?

Meine Gedanken und Gefühle überrollen mich gnadenlos.
Die Luft wird dünner, mein Herz ist wie zerdrückt.
Das Schluchzen erstickt mich und schmerzt in meiner Kehle.
Mein Bauch schmerzt und krampft.
Nur schwach höre ich Jolenes Stimme und spüre ihre Hände auf meinen Wangen. Ich kann sie rufen hören, als wäre sie ganz weit weg; höre Chester, wie er nach mir ruft und mich berührt. Ganz weit weg.
All das, bevor alles um mich herum schwarz wird.

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