[Neunundneunzig] - Generalprobe

Mit seiner Anwesenheit hat keiner gerechnet und auch Amber hat uns bis eben verschwiegen, mit Benji in Kontakt zu stehen.
Ihre Gründe dafür sind nachvollziehbar, trotzdem weiß ich nicht, ob Jolene und Morgan das so einfach hinnehmen werden. Zumal beide bisher nicht gewillt waren, seine Annäherungsversuche zu erwidern.
Millys Reaktion ist da undeutlicher. Es scheint, als wäre sie zwiegespalten und überfordert mit diesem Aufeinandertreffen. Zwar weiß sie von seiner Existenz, stand ihm bisher aber nicht persönlich gegenüber.
Wie soll man auch reagieren, wenn nach über 30 Jahren plötzlich ein erwachsener Mensch vor einem steht, der das heimliche Kind des Ehepartners ist, das auch noch unter tragischen Ereignissen entstanden ist?

Und Benji? Er schweigt und bewegt sich nicht. Sein Blick aber wandert zwischen Jolene und Morgan hin und her. In seinen Augen erkenne ich ein zartes Funkeln der Hoffnung und Freude, endlich die Möglichkeit zu haben, mit seinen Schwestern zu reden. Aber auch er weiß sich zu kontrollieren und bewahrt seine Haltung; zeigt damit Respekt und Rücksichtnahme.
Dann wandert sein Blick zu mir und sofort bildet sich ein Lächeln, das mir nicht unbekannt ist. Seine Augen und Lippen malen einen Ausdruck in sein Gesicht, der bei mir für Herzrasen sorgt.
Offensichtlich das dominanteste Gen der Reids.
Für mich ist es, als würde ich in Jolenes oder Morgans Gesicht sehen - nur mit Bartstoppeln. Diese grünen Augen, die Nase und dieses Lächeln ... Dieser Ausdruck.
Er sieht besser aus, als damals. Seine Augen machen einen frischeren und gesünderen Eindruck, sein Gesicht ist nicht mehr ganz so eingefallen und auch seine Statur hat sich wohl von den ganzen Missständen in seinem Leben erholt. Er hat zugenommen, ist nicht mehr so dürr und kaputt.
Ein stattlicher Mann, der von der Statur her seinem Vater in nichts nachsteht, aber deutlich weniger bedrohlich wirkt, weil er im Gesamten ein viel sanfteres Auftreten hat.
Vermutlich ist der Mann neben ihm für diese positive und gesunde Wandlung verantwortlich. Sein Bewährungshelfer, den er vor drei Jahren an die Seite gestellt bekommen hat, als er damals verurteilt und seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Jolene schnaubt hörbar und ist die erste, die sich in Bewegung setzt. Da sie sonst keine Konfrontation scheut, tut sie es auch jetzt nicht. Ohne Benji aus ihrem Fokus zu lassen, setzt sie sich ihm gegenüber an den Tisch.
Erst dann folgen Johnny und Morgan und setzen sich ebenfalls.
Obwohl Benji von uns allen angesehen und von den anderen dreien sogar regelrecht mit den Blicken durchbohrt wird, lässt er sich davon nicht einschüchtern.
Stattdessen sieht er unentwegt mich an und verliert dabei sein Lächeln nicht. Mir fällt es ehrlich gesagt schwer, dieses Lächeln nicht zu erwidern. Mein Herz verlangt, das zu tun, aber mein Verstand redet dazwischen und erinnert mich daran, was Benji getan hat. Dass Johnny wegen ihm zwei Jahre im Gefängnis saß und so weder die Geburt noch die ersten Jahre seines Sohnes erleben konnte; dass er wegen ihm seine Existenz verlor und alles neu aufbauen musste.
Mein Herz aber sieht etwas anderes. Es sieht Jolene, es sieht Morgan, und es sieht all das, wofür ich Jolene und Morgan liebe. Benji strahlt etwas aus, das mich bereits zu den beiden Frauen hingezogen hat.
Er hat eine, mir bekannte, Wirkung auf mich und das gefällt mir überhaupt nicht.
Um dem zu entkommen schließe ich meine Augen, atme tief durch und verschränke meine Finger mit Jolenes, während ich zu ihr aufsehe.
Auch sie sieht mich an - mild und verständnisvoll. Sie legt ihre Hand auf meine Wange und küsst mich kurz.
»Wir können auch gehen«, flüstert sie mir zu und bietet mir damit die Möglichkeit zu fliehen.
Natürlich hat sie begriffen, was hier gerade passiert ist und will mich dem nicht länger aussetzen.
Ich aber schüttle den Kopf. »Das hier ist wichtig.«
Und zwar wichtiger, als dämliche Gefühle und Gedanken, oder mein Unwohlsein.
Amber erklärt es richtig. Es gibt nur zwei Seiten in dieser Angelegenheit. Die Anklage und die Verteidigung. Für jede Seite sind Zeugen wichtig, und da Benji nicht auf der Seite der Verteidigung steht, gehört er auf die Seite der Anklage. Und das sind nunmal wir.
Er ist nicht nur ein Täter, sondern auch selbst ein Opfer; sogar mehr Opfer, als Täter. Dieser Prozess kann auch ihm die Gerechtigkeit zukommen lassen, die ihm seit dem Tag seiner Geburt verwehrt blieb.
Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass wir für den Rest unseres Lebens Frieden erfahren. Und gemeinsam können wir auch die hinterlistigen Fragen der Verteidigung meistern.

Mit Terance haben wir einen erfahrenen Staatsanwalt an unserer Seite, der bereits schon viele Strafverfahren geführt hat und deshalb weiß, wie so manche Fragen der Anwälte lauten könnten. Und wir haben Amber, die schon gegen die verrücktesten Anwälte angetreten ist.
Sie beide wissen also genau, wie man einen Zeugen so auseinander nehmen muss, damit dessen Aussage zum eigenen Gunsten gewertet wird; entsprechend wissen sie auch, wie man sich dem entgegenstellt - und genau das wollen sie heute mit uns üben.
Amber spielt dabei die gegnerischen Anwälte und stellt uns wirklich fiese Fragen, auf die wir kaum richtig antworten können.
Wie auch schon bei der Kautionsverhandlung wird Milly unser schwächstes Glied sein. Sie ist aufgrund ihrer langjährigen Ehe mit dem Admiral voreingenommen und zudem noch sehr beeinflussbar. Hinzu kommt die Macht, die er über sie hatte und vermutlich sogar noch haben wird.
Uns allen, aber insbesondere ihr, wird eingebläut, auf alle Fragen konkret, direkt und ohne Umschweife zu antworten.
Am schwierigsten werden Fragen sein, die uns verunsichern oder aus dem Konzept bringen können, und da wird die Verteidigung ansetzen und uns die Worte im Mund herumdrehen.
Wobei Amber amüsiert anmerkt, dass sich die Verteidigung viel mehr vor mir in acht nehmen sollte, weil ich das ebenfalls gut beherrsche.
»Sei einfach du selbst«, sagt sie zu mir.
Morgan und Jolene hingegen rät sie, ihren Zynismus zu Hause zu lassen. Vor allem dann, wenn sie Fragen über deren Kindheit gestellt bekommen - was durchaus vorkommen kann, um das Ausmaß der Taten vom Admiral bestimmen oder gar abmildern zu können.
Amber sagt, die Anwälte vom Admiral werden vermutlich sogar da ansetzen. Sie werden aufzeigen, dass weder Jolene, Morgan noch Milly je Gewalt erlebt haben, die von ihm ausging. Sie werden Chester erwähnen, und welch ein fürsorglicher und liebevoller Großvater der Admiral für ihn ist; werden verdeutlichen, dass er nur gute Absichten hatte und sich nur ein gesichertes, stabiles Leben für seinen Enkel wünschte.
Sie werden aufzeigen, dass er sogar seiner Tochter half, als sie wegen ihres Cyberangriffes auf das Pentagon erwischt wurde. Und an dem Punkt werden sie mit dem Finger auf Jolene zeigen, und fragen, welche Glaubwürdigkeit sie mitbringt, wenn sie selbst zu kriminellen Handlungen fähig ist; sie diese Fähigkeiten dazu genutzt hat, um Beweise gegen den Admiral zu finden. Vielleicht, so sagt Amber, sind sie mutig genug, Jolene sogar gefälschte Beweise vorzuwerfen, um damit den gesamten Prozess hinauszuzögern, weil dagegen erst ermittelt werden muss.
Wir raunen alle einheitlich, als wir das hören, weil wir genau das jetzt erwarten.
Vielleicht also doch noch kein Urteil, sondern weitere Monate oder Jahre, bis sie herausfinden, nix herausfinden zu können.
Aber Amber kann uns beruhigen. Für den Fall, dass diese Behauptung in den Raum geworfen wird, gibt es Heather. Sie und Mr. Seymour werden die Echtheit und Legalität der Beweise bestätigen und auch, dass alles rechtlich korrekt vonstatten ging.

Diese Vorbereitung auf den Prozess dauert Stunden. Und mit jeder Stunde, die es dauert, werde ich müder und deshalb auch gereizter; da hilft dann auch die längere Pause mit Pizza und süßen Getränken wenig. Aber ich reiße mich zusammen, weil ich die Notwendigkeit darin sehe.
Immer, wenn Benji von Amber ins 'Kreuzverhör' genommen wird, beobachte ich Jolene und Morgan, um zu sehen, wie sie darauf reagieren, wenn er über seine Beteiligung spricht, aber auch Fragen zu seinen Familienverhältnissen beantwortet.
Beide Frauen sehen ihn an und hören ihm zu, aber obwohl sie unbekümmert wirken wollen, erkenne ich, dass es sie aber gar nicht so kalt lässt, wie sie es vorzutäuschen versuchen.
Benji meidet den Blick zu ihnen und sieht immer nur mich an. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich gut zu der Beziehung beiträgt, die er sich mit Jolene und Morgan wünscht.

Nach sechs Stunden dürfen wir endlich gehen. Ob uns diese Vorbereitung wirklich hilft, werden wir sehen, wenn wir von den verteidigenden Anwälten befragt werden.
Vollkommen erschöpft falle ich ins Bett, als wir endlich zu Hause sind. Das Duschen verschiebe ich auf morgen früh, weil ich dazu jetzt keine Kraft mehr habe. Auch, wenn es bedeutet eine Stunde früher aufstehen zu müssen.
Jolene tut es mir gleich und legt sich ebenfalls direkt ins Bett. Sofort schmiege ich mich an sie und genieße, wie sie ihren Arm um mich legt und mich sanft streichelt.
Ich spüre förmlich, wie die Anstrengung des Tages aus meinen Knochen zieht und atme tief durch.

Eine Sache aber beschäftigt mich noch, die ich dann anspreche, wenngleich ich damit bei Jolene vielleicht auf ein Minenfeld spaziere.
Benji.
Es war deutlich zu sehen, wie sehr er sich darüber gefreut hat, seine Schwestern zu sehen und wie wichtig es ihm war, irgendwie mit ihnen in Kontakt zu treten.
Morgan und Jolene hingegen behielten ihre Gedanken dazu für sich. Ich kann selbst jetzt nicht einschätzen, wie sie zu ihm stehen oder stehen werden. Deshalb frage ich sie ganz direkt, was sie über ihn denkt.
Jolene sieht mich kurz an, drückt ihre Lippen gegen meine Stirn und seufzt.
»Wenn ich ihn ansehe, sehe ich meinen Vater. Er sieht aus wie er.«
»Ich finde nicht, dass er wie dein Vater aussieht«, widerspreche ich. Natürlich hat Benji äußere Merkmale, die alle Reids haben. Aber es ist die Wirkung, die ihn für mich ganz anders aussehen lässt. Der Admiral hat einen starren, eiskalten und bedrohlichen Blick. Seine Körperhaltung ist gerade, hart und unnachgiebig. Seine Lippen bilden unter seinem dichten Bart stets eine gerade Linie, ohne jegliche Freundlichkeit in ihnen.
Benji aber kann lächeln und er tut es auch; mit seinen Lippen und mit seinen Augen, die einen viel sanfter ansehen; und er lächelt mit dem Herzen.
Jolene raunt nur unzufrieden wegen meiner Widerworte.
»Ich finde, er sieht aus, wie du«, sage ich. »Wie Morgan«, füge ich hinzu und lächle sie an. »Und in keinem von euch sehe ich den Admiral.«
Aus diesem Grund denke ich, ist Benji seinen Schwestern ähnlicher, als seinem Vater. Und wenn sich Jolene und Morgan so gut verstehen, glaube ich, werden sie das auch mit Benji hinbekommen.
Ich bin mir sogar sicher, sie wären heute ein unzertrennliches Trio, wären sie zusammen aufgewachsen.

Jolene sieht mich abschätzig an. »Du bist subjektiv«, sagt sie. »Und zu sehr von unser Ausstrahlung geblendet«, fügt sie scherzhaft hinzu.
»Stimmt«, gebe ich ihr recht. »Denn ihr habt eine Ausstrahlung; der Admiral aber nicht«, beginne ich zu erklären. »Wenn ich den Admiral sehe, geht es mir nicht gut. Ich fühle mich bedroht und unwohl. Wenn ich dich oder Morgan sehe, geht es mir aber gut. Dann fühle ich mich sicher und geborgen. Und als ich vorhin Benji sah, da ... fühlte ich so, wie bei dir und Morgan. Nicht, wie beim Admiral.«
Jolenes Mundwinkel zucken.
»Ich weiß«, sagt sie, zieht mich näher zu sich und drückt ihre Lippen in mein Haar. »Wenn er nur Johnnys Namen auf diese Liste gesetzt hätte, wäre es vermutlich leichter. Aber all das davor ... er hat nicht nur mit den Drogen gehandelt, sondern sie auch konsumiert, Cait. Er hat mit Waffen gehandelt und sie genutzt. Er hat etliche Straftaten begangen. Einen Menschen mit dieser Vergangenheit will ich nicht so ohne Weiteres in der Nähe meiner Frau und meiner Kinder haben«, führt sie auf und streichelt mir sanft über die Wange, während sie mir direkt in die Augen sieht. »Wir brauchen einfach etwas Zeit. Er muss sich zuerst beweisen.«
Verständnisvoll nicke ich, schließe meine Augen und genieße ihre Nähe und sanften Berührungen, die einer der Gründe sind, wieso ich mich bei Jolene so sicher und geborgen fühle.
Wenn ich in ihren Arme liege, kann die Welt um uns herum einstürzen, wie sie will. Sie weiß mit Problemen umzugehen und sie zu lösen, als wäre das ganz einfach.
Und mit Benji wird es ebenso sein. Wenn er ein Problem ist, wird sie es lösen können. Sie wird sehr schnell erkennen, ob er es ernst meint, oder lügt.
Letztlich liegt es ganz alleine an ihm, ob er Teil unseres Lebens sein darf, oder nicht.
Ich vertraue ihr und bin mir sicher, sie wird die richtige Entscheidung treffen.

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