[Neunundachtzig] - Harte Entscheidung
Morgan steckt ihr Handy wieder weg und nimmt einen tiefen Atemzug, ehe sie uns der Reihe nach ansieht.
»Ich hätte nicht gedacht, diesen Schritt je gehen zu müssen«, sagt sie, geht zur Treppe und ruft nach ihrem Sohn.
Dieser kommt umgehend heruntergepoltert und springt seiner Mutter freudig in die Arme. Sie hebt ihn hoch und drückt ihn fest an sich, während sie ihm sagt, wie sehr sie ihn liebt und vermisst hat.
»Er hat sich die Schlinge selbst um den Hals gelegt«, spricht Jolene und hält ihr das Tablet wieder entgegen; bedeutet ihr, dieses an sich zu nehmen. »Und durch seine Handlungen zieht er sie selbst immer weiter zu.«
Morgan setzt Kyle wieder auf den Boden ab und kommt zu uns zurück, um das Tablet zu nehmen.
»Was habt ihr vor?«, frage ich irritiert, weil ich derem Gespräch gerade nicht folgen kann.
»Ich werde ein paar Gefallen einfordern müssen«, erklärt mir Morgan mit einem eher zurückhaltenden Schmunzeln.
»Gefallen einfordern? Von wem?«
»Politiker, Richter, Staatsanwälte«, zählt sie auf. »Und zwar nicht die kleinen, sondern die großen. Und die wird es brennend interessieren, wer für ihre eingefrorenen Konten verantwortlich ist. Und vor allem wird sie das hier interessieren.« Sinnbildlich hält sie das Tablet mit all den Informationen nach oben.
»Wenn du schon dabei bist ...«, beginnt Ian, tippt in Jolenes Computer herum und deutet dann auf das Tablet in ihrer Hand, »kannst du ihnen auch gleich den Richter und den Staatsanwalt vorstellen, die für eure Verhaftung, die Steuerfahndung und deine gesperrte Lizenz verantwortlich sind.«
Morgan entsperrt das Display und sieht sich an, was ihr Ian da geschickt hat.
»Aufzeichnungen, die beweisen, dass sie für Bilson gearbeitet haben. Der Richter war vor zwanzig Jahren - wie der Zufall es will - auch bei der Navy, und der Staatsanwalt möchte ebenfalls eine Karriere in der Politik einschlagen. Bilson hat ein nettes Sümmchen für dessen Kampagne locker gemacht.«
»Wofür brauchen wir dann noch Heather?«, frage ich etwas belustigt.
»Heather ist das Bindeglied, zwischen dem Kapitol und dem Pentagon, und Morgans Klienten haben teilweise ihren Sitz im Kapitol als Senatoren oder Kongressmitglieder. Und manche haben sogar einen Draht zum Präsidenten«, erklärt mir Jolene, die wohl den Zynismus in meiner Frage nicht mitbekommen hat. »Sie kann also im Pentagon auf politischer Ebene agieren und so die Navy zum Handeln zwingen.«
»Wow«, gebe ich beeindruckt von mir und begreife, mit welch mächtiger Frau ich da wirklich verheiratet bin. Wobei ich gerade glaube, dass Morgan sogar noch einiges mächtiger ist, wenn ich daran denke, bei wem diese mal eben 'einen Gefallen einfordern' kann.
»Wie auch immer«, sagt Morgan und sieht auf ihre Uhr am rechten Handgelenk. »Wird Zeit ein paar wichtige Gespräche führen.« Sie beugt sich zu mir und will sich, wie sonst üblich, mit einem Kuss von mir verabschieden.
Ich aber weiche zurück und hindere sie daran.
Morgan sieht mich deshalb irritiert an.
»Wir werden das künftig lassen«, erkläre ich.
Jetzt schieben sich ihre Augenbrauen zusammen, während sie mir direkt in die Augen sieht, um meine Ernsthaftigkeit zu prüfen.
»Wir reden darüber, wenn ich wieder aus New York zurück bin. Ich habe dafür jetzt keinen Nerv«, sagt sie, ohne ihren eindringlichen Blick von mir zu nehmen. Ich muss meine Begründung also gar nicht aussprechen, weil sie den Zusammenhang offensichtlich direkt begreift.
»Wir beide werden über gar nichts reden. Aber du wirst mit Amber reden - deiner Freundin, falls du das vergessen hast«, gebe ich streng von mir. »Und am besten noch, bevor du nach New York fliegst.«
»Ich hatte bereits eine kurze Unterhaltung mit ihr und bin über den Vorfall zwischen euch beiden informiert. Aber ich lasse nicht zu, dass ihre Probleme auch unsere werden. Und erst recht nicht jetzt.«
»Ihre Probleme sind aber unsere Schuld, Morgan«, entgegne ich und halte ihrem, immer noch durchdringenden, Blick stand.
»Das sehe ich anders«, wehrt sie ab.
»Dann siehst du alleine das anders, denn ich sehe es genauso, wie sie.« Ich atme tief durch, ehe ich weiterspreche. »Jede Minute, die du mit mir verbringst, fehlt euch beiden. Und das sind nicht gerade wenige Minuten.«
Morgans Mundwinkel heben sich zu ihrem typisch frechen Schmunzeln. »Soll ich dir das wirklich gegenrechnen? Die Zeit, die wir miteinander verbringen, steht nicht mal annähernd im Verhältnis zu der Zeit, die ich mit Amber verbringe. Ich beziffere es dir auch gerne in Prozent.«
»Aber wie wir unsere Zeit miteinander verbringen, steht nicht annähernd im Verhältnis, wie du sie mit ihr verbringst«, kontere ich.
»Stimmt«, gibt mir Morgan recht. »Denn mit Amber habe ich Sex. Mit dir nicht.«
Ich höre, wie Jolene den Ansatz macht, sich in diese Debatte einzumischen, aber ich blocke ihren Versuch direkt ab und bedeute ihr, sich aus der Diskussion zwischen Morgan und mir herauszuhalten.
Morgan schmunzelt kurz zynisch, bevor dieses gänzlich aus ihrem Gesicht verschwindet. »Du ziehst das also wirklich durch, ja?«
»Wenn es sein muss, damit du klarer siehst, dann ja«, antworte ich.
»Ich sehe verdammt klar, Cait«, knurrt sie und nähert sich mir auf eine ungewohnt bedrohliche Art. »Du stellst mich hier vor eine Wahl, in der es immer nur einen Verlierer geben wird.«
»Das ist die logische Konsequenz, die wir alle zu verantworten haben.«
Wieder schmunzelt Morgan humorlos. »Das ist eine Konsequenz, die ich zur Abwechslung mal nicht akzeptieren werde.«
»Wirst du aber müssen«, bleibe ich stur und verschränke meine Arme vor der Brust.
»Wenn du mich wirklich zu einer solchen Entscheidung zwingst, wird mir diese nicht sonderlich schwer fallen, wenn es darum geht, dich nicht zu verlieren.«
»Du wirst mich nicht verlieren, wenn du bei Amber bleibst. Nur das mit uns muss sich ändern.«
»Wenn sich das mit uns ändert, ist dieses uns, was uns ausmacht, nicht mehr da. Also doch, ja, es bedeutet, ich würde dich verlieren.« Sie distanziert sich wieder von mir und hält ihrem Sohn die Hand entgegen, die er direkt ergreift. »Und dich verlieren will ich ganz sicher nicht«, fügt sie hinzu und bittet anschließend Jolene darum, sie zum Flughafen zu bringen.
Diese schnauft hörbar, nickt aber.
»Morgan ...«, seufze ich und will sie davon abhalten, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen und Amber einfach so zurückzulassen; zumal ich genau das verhindern wollte.
»Ich habe dich darum gebeten, dieses Gespräch zu führen, wenn ich wieder zurück bin, aber es musste ja unbedingt jetzt noch sein. Akzeptiere auch du jetzt die logische Konsequenz daraus.«
Verzweifelt reibe ich mir durchs Gesicht und seufze. Dann spüre ich ihre Lippen an meinem Ohr.
»Und führe nie wieder eine solche Unterhaltung mit mir, wenn wir nicht alleine sind«, spricht sie warnend, gibt mir dennoch einen Kuss auf die Stirn, ehe sie sich von mir abwendet und das Haus verlässt.
Ich halte meine Augen geschlossen, um die Tränen der Verzweiflung daran zu hindern, über meine Wangen zu fließen. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht und Amber wird mir das ganz sicher nicht verzeihen, weil ich mich nicht - so wie sie mich darum gebeten hat - aus deren Beziehung herausgehalten habe.
»Babe«, höre ich Jolenes milde Stimme. Sie nimmt mich in den Arm und drückt ihre Lippen gegen meine Stirn. »Wenn ich zurück bin, nehmen wir uns Zeit für uns und ich helfe dir, auf andere Gedanken zu kommen«, verspricht sie, hebt mein Kinn, damit ich ihr in die Augen sehe. »Mach' dir keine Sorgen darüber.« Sie lächelt aufmunternd und beugt sich für einen Kuss zu mir.
Zwar beruhigen mich ihre Worte, aber sie ändern nichts an dem, was eben passiert ist. Ich weiß, die Wogen glätten sich wieder, wenn all der andere Mist vorbei ist und wir alle wieder durchatmen können. Die aktuelle Situation zermürbt uns alle, trotzdem hatte ich die kleine Hoffnung, Morgan würde mal kurz an sich und Amber denken, und nicht einfach das wegwerfen, was ihr Stabilität gibt, nur um ihren Weg stur weiterzuverfolgen.
Ian verabschiedet sich ebenfalls und folgt Jolene nach draußen, während sich Cormack dazu entschließt, bei mir zu bleiben, weil er mich nicht alleine lassen möchte.
Aber ich lächle ihn so gut es geht an und lehne seine Hilfsbereitschaft ab. Die letzten Tage war es eindeutig zu voll in diesem Haus gewesen und ich möchte jetzt einfach nur Ruhe haben und alleine sein.
Nur unwillig akzeptiert er meine Entscheidung und verabschiedet sich auch; nicht aber, ohne mir zu versprechen, dass sich alles wieder einrenken wird.
»Kommt Mama wieder?«, fragt mich Chester mit seiner so unschuldig hellen Stimme und steht verunsichert am Treppenabsatz.
»Sie bringt nur Kyle und Tante Morgan zum Flughafen, dann kommt sie zurück«, versichere ich ihm und lege mein bestmöglichstes Lächeln auf. »Wollen wir für Mama einen 'Willkommen zurück'-Kuchen backen?«, frage ich aufmunternd und kann damit ein freudiges Strahlen in Chesters Gesicht zaubern.
»Ja! Schokolade!«, stimmt er direkt zu und kommt eilig zu mir, um mit mir gemeinsam in die Küche zu gehen.
Nicht nur ihn wird das von den letzten Tagen etwas ablenken, sondern auch mich.
Aus dem geplanten Kuchen sind dann allerdings nur sechs Muffins geworden, weil wir so viel Teig genascht haben, dass es sich für einen Kuchen nicht mehr gelohnt hätte. Was muss roher Kuchenteig aber auch so unglaublich lecker schmecken?
Als Jolene dann nach etwa einer Stunde zurück kommt, spricht sie direkt den tollen Duft der Muffins an, die ich gerade aus dem Ofen hole.
Sie begrüßt mich mit einem Kuss, aber ihr Blick wandert durch die Küche umher, über all das Chaos, das Chester und ich verursacht und noch nicht weggeräumt haben.
»Habt ihr mir etwa nichts zum Naschen übrig gelassen?«, fragt sie gespielt empört und sieht mich mit treuherzigen Augen an.
»Du kannst nachher von mir naschen«, schießt es unkontrolliert aus mir heraus und treibt mir sofort die Röte ins Gesicht, als mir bewusst, wird, was ich da grad von mir gegeben habe.
Jolene lacht auf und zieht mich in ihre Arme. »Das hatte ich sowieso vor«, flüstert sie mir frech ins Ohr.
Ich räuspere meine Scham beiseite und löse mich aus ihrer Nähe.
»Hast du sie wirklich zum Flughafen gebracht?«, frage ich und wechsle zu einem ernsteren Thema.
»Habe ich.«
»Also ist sie wirklich nicht zu Amber zurück ...«
Schweigend schüttelt Jolene den Kopf.
»Habt ihr geredet?«
»Nein«, antwortet sie und legt ihren Kopf schief. »Das hast du ja bereits getan und alles darüber hinaus ist Morgans Sache.«
Seufzend nicke ich.
»Babe.« Sanft streicht sie mir eine Strähne hinters Ohr. »Wenn du möchtest, werde ich mit ihr darüber reden und eine klare Grenze ziehen. Wenn sie deine nicht respektiert, dann ganz sicher meine.«
»Nein«, lehne ich ihr Angebot ab und schüttle den Kopf. »Ich bin ja nicht unschuldig an diesem Dilemma.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du dich zwischen die Fronten ziehen lässt. Du magst vielleicht ein Grund sein, aber die Schuld trägst du ganz sicher nicht.«
Wieder seufze ich und schmiege mich an sie.
Sofort legt sie ihre Arme um mich und haucht mir einen sanften Kuss ins Haar.
»Was ist überhaupt zwischen dir und Amber vorgefallen?«
»Sie hat mir lediglich ihr Herz ausgeschüttet.«
»Und das führt dazu, dass du dich mit Morgan streitest und die Verbindung zwischen euch kappst?«
»Weil mir dadurch etwas klar geworden ist: Die Situation zwischen diesen beiden kann sich nur beruhigen, wenn Morgan und ich auf Abstand gehen.«
Jolene sieht mich skeptisch an. »Was hat Amber gesagt, dass du das denkst?«, fragt sie mit eindringlicher Stimme.
»Ich bin nicht sauer auf Amber, also sei du es bitte auch nicht.«
»Wenn du mir nicht sagst, was sie von sich gegeben hat, dann gehe ich vom Schlimmsten aus, und doch, dann bin ich sauer.«
Ich stoße ein unzufriedenes Raunen aus und löse mich aus ihrer Nähe, um mit dem Aufräumen unserer Back-Aktion zu beginnen. »Sie denkt, solange ich Morgan weiterhin so nahe stehe, kann sich das zwischen ihnen nicht festigen«, erzähle ich schließlich unwillig. »Und ich gebe ihr recht.«
»Das ist Unsinn«, widerspricht sie.
»Das ist Fakt«, halte ich dagegen. »Ich hoffe einfach nur, dass sich Morgan nochmal mit ihr zusammensetzt, sobald sie wieder zurückkommt ... ich will wirklich nicht für deren Trennung verantwortlich sein.«
»Das bist du so oder so nicht«, sagt sie. »Amber hat von dir Abstand zu Morgan gefordert, du hast ihr den Gefallen getan und Morgan hat die Konsequenz daraus gezogen. Wenn Amber also jemandem die Schuld geben sollte, dann sich selbst.«
Für ihre Worte lächle ich sie an und streichle ihre Wange, während ich sie ansehe. Sie hat recht, auch wenn das an meinen Gefühlen nichts ändert.
Dennoch hoffe ich, Morgan ist wieder empfänglicher für ein Gespräch, wenn all die anderen Probleme gelöst sind.
»Mama, Mom! Guckt mal!«, ruft Chester aufgeregt nach unserer Aufmerksamkeit und zeigt auf den Fernseher, wo bis eben noch der Cartoon lief, den er gesehen hat. Dieser wird gerade durch eine wichtige Eilmeldung unterbrochen.
Um zu erkennen, worum es dort geht, gehen wir zu ihm und sehen wie gebannt auf den Fernseher.
Helikopteraufnahmen zeigen ein Trümmerfeld mitten im Meer. Rettungsdienste, Polizei und Feuerwehr sind bereits fleißig im Einsatz. Ein Brand wird bekämpft und Rettungsboote treiben in sicherem Abstand, von denen sich die Taucher ins Wasser fallen lassen.
Im ersten Moment ist für mich nicht klar zu erkennen, was genau dort passiert ist, aber alles in mir gefriert, als auf eine Reporterin umgeschaltet wird, die die Situation beim Namen nennt.
Mein Herz bleibt stehen, meine Atmung setzt aus, die Tränen steigen rapide in meine Augen und ich bin unfähig, mich zu bewegen. Nur mit aller Kraft schaffe ich es, mir die zitternde Hand auf den Mund zu legen, um einen lauten Schrei zu unterdrücken.
Ein Flugzeug, auf dem Weg von Miami nach New York, ist in Höhe von Jacksonville, 110 Kilometer von der Küste entfernt, mit einem anderen Flugzeug kollidiert und beide sind ins Meer gestürzt. An Bord der beiden Maschinen befanden sich insgesamt 224 Passagiere, dreizehn Crewmitglieder und vier Piloten.
Und bisher keine Überlebenden.
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Eigentlich ist es etwas unangebracht, hiernach noch eigene Worte hinzuschmieren.
Aber ich möchte euch auch wissen lassen, dass mit diesem Kapitel dann auch die "Osterkörbe" leer sind und es erst in ein paar Tagen mit dieser Geschichte weitergeht. Nicht, dass ihr hoffnungsvoll auf ein weiteres wartet und enttäuscht wird ... ^^
Habt trotzdem noch einen schönen Ostertag!
(Und hasst mich bitte nicht zu sehr für das Ende dieses Kapitels ...)
Eure
Bo.
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