[Fünfundneunzig] - Angriff ist die beste Verteidigung

Heute ist der Tag, an dem Jolene ihr Versprechen einlöst, mich einmal mit auf eine dieser Galen zu nehmen, auf denen sie sich in den letzten Wochen sehr viel getummelt hat, um gegen Bilsons Intrigen zu halten.
Vermutlich hat sie recht, wenn sie sagt, solche Veranstaltungen wären für mich zu langweilig, weil sie sowieso nur geschäftliche Gespräche führt, bei denen ich ohnehin nicht mitreden kann, aber ich habe das Gefühl, dass es heute interessant werden könnte.

Morgan und Amber sind erst gestern Abend aus New York zurückgekommen.
Sie sind die ganze Strecke wirklich mit dem Auto gefahren. Insgesamt saßen sie 40 Stunden hinter dem Steuer, nur um für ein paar Stunden mit irgendwelchen Leuten zu reden und vor Ort ein paar Unterlagen zu sichten. Natürlich kann ich diese Entscheidung nachvollziehen, denn auch ich wäre nach dieser Tragödie ganz sicher in kein Flugzeug gestiegen, aber ohne ausreichend Schlaf eine solche Strecke zu fahren, halte ich nicht für weniger gefährlich.
Aber alles ging gut, sie sind wohlbehalten - wenn auch übermüdet - zurückgekehrt. An Schlaf war für sie trotzdem nicht zu denken, als wir über die Medien erfuhren, was die Blackbox des Flugzeuges, in dem Morgan hätte sitzen sollen, an Daten ausgespuckt hat.
Die Flughöhe von Morgans Flugzeug wurde manipuliert, weshalb es zu diesem schrecklichen Zusammenstoß kam. Aktuell laufen die Ermittlungen, wie es zu dieser Manipulation kommen konnte. Ein Hackerangriff wird vermutet, ebenso aber auch menschliches Versagen des Piloten; entsprechend wird untersucht, was dieser die letzten 48 Stunden getan hat. Ob er alle Vorschriften beachtet hat, ob er betrunken war, oder andere Mittel zu sich genommen hat, ob er übermüdet war, oder ein medizinisches Problem vorlag.
Da sie den Piloten und seinen Co-Piloten bisher nicht finden konnten, müssen sie sich auf Aussagen, Überwachungskameras, Dokumente und die Tonbandaufzeichnung der Blackbox verlassen.
Als aber nur das Wort Hackerangriff in diesem Kontext in den Raum geworfen wurde, sind sowohl Jolene, als auch Morgan hellhörig geworden.
Sie wollen nicht paranoid sein, aber doch kann man ihnen aufgrund der letzten Ereignisse nicht vorhalten, darauf zu reagieren und es in Betracht zu ziehen. Aber würde Bilson wirklich so weit gehen?
Jolene traut es ihm zu, nachdem, was sie über den Tod von Morgans Vater herausgefunden hat. Offensichtlich schreckt dieser vor nichts zurück.
Aber sie will da nicht vorschnell urteilen, ehe keine triftigen Beweise dazu existieren. Entsprechend war auch sie die letzten Tage wieder vollkommen in den tiefen Sphären der Einser und Nullen verschwunden, und somit nur mittelmäßig ansprechbar.
Nebenbei hat sie mit Heather, dem General und dem NCIS Gespräche geführt und alles für Tag X besprochen. Die vorhandenen Beweise wurden säuberlich vorbereitet, damit es bloß keine Lücken gibt. Weder bei den Ermittlungen, den Beweisen, noch bei der Anklage.
Details zu deren Fortschritt hat sie mir aber noch keine verraten, weil sie erst alle Fakten zusammentragen und einen Plan schmieden will.
Auch jetzt verrät sie mir nicht, was heute passieren wird, aber ihr schelmisches Grinsen ist irgendwie Antwort genug. Zudem ist voller Enthusiasmus und Zuversicht.
Heute holen sie und Morgan zum Gegenschlag aus - und der wird vermutlich zu einem K.O. bei Bilson führen.

In nur drei Tagen ein Kleid zu besorgen, das sowohl dem Abend entspricht, als auch an meinen Körper passt - immerhin ist mein Bauch weiter gewachsen - war eine Herausforderung.
Außerdem hoffe ich, den Abend gut zu überstehen, da meine Energie eine mangelnde Ressource ist und ich mich schnell müde und erschöpft fühle.
Jolene sagt, es würde nur etwa drei Stunden dauern, aber sie hofft, nicht so viel Zeit dort verbringen zu müssen.
Aus Rücksicht zu mir, hat sie mir auch das Angebot gemacht, früher nach Hause zu fahren, wenn es mich zu sehr anstrengt. Aber das will ich nicht. Jolene soll nicht bei dem unterbrochen werden, was sie sich für heute vorgenommen hat.
Dass mir der Rücken bereits nach zwanzig Minuten weh tut, weil ich vor dem Spiegel stehe und mir eine hübsche Frisur herrichte, verrate ich ihr besser auch nicht, sonst wirft sie wieder nur alle Pläne um, und das will ich vermeiden.

Jetzt, als wir uns so gegenüber stehen, und jede für die heutige Gala aufgehübscht ist, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich eine so gute Idee war.
Jolene sieht unglaublich sexy aus und ich verspüre das Bedürfnis, ihr alles wieder vom Leib zu reißen, und den Abend mit ihr im Bett zu verbringen. Nackt.
Und wenn ich ihren lüsternen Blick richtig deute, geht es ihr da ähnlich.
Ich erinnere mich an ihre Worte, dass sie sich nur schwer konzentrieren kann, wenn ich in ihrer Nähe bin. Heute ist aber ein wichtiger Tag und da kann sie sich keine Ablenkung leisten.
Sie trägt ein figurbetontes, langes, bordeauxrotes Kleid mit einem Beinschlitz auf der rechten Seite. Dazu die passenden Absatzschuhe in gleicher Farbe. Auch ihr Schmuck - Armreifen, Halskette und Ohrringe - sind im selben Rot gehalten.
Make-Up ist - wie immer - nur dezent. Kaum zu erkennen, dass sie einen Lippenstift trägt, aber ihre Lippen sind für mich erkennbar dunkler; immer noch rosig, aber sie wirken, als wären sie stärker durchblutet. Eindeutig will sie damit - und auch mit ihrem Parfüm - die Sinne der Männer anregen. Ganz sicher wird ihr das auch gelingen.
Ich hingegen trage ein weißes, luftiges Abendkleid mit einem großen V-Ausschnitt und einem Beinschlitz, der erst ab dem Knie beginnt und das Kleid bis zum Saum spaltet, ein schwarz-weißes Stickmuster unterhalb meiner Brüste einmal um mich herum, und hebt so meinen Babybauch deutlich hervor. Dazu trage ich goldenen Schmuck; Armreifen, Ohrringe und Halskette und dazu passende Sandaletten in gleicher, goldener Farbe.

Es war gar nicht einfach, ein Kleid zu finden, das nicht nur mir passt, sondern auch gut zu Jolenes Kleid, damit es sich farblich nicht zu sehr beißt, wenn wir nebeneinander stehen.
Ein weißes Kleid zu finden, das nicht wie ein Hochzeitskleid aussieht, war ebenfalls nicht einfach.
Aber jetzt bin ich zufrieden, wenngleich aber auch unsagbar nervös, weil ich noch nie auf solch einer Veranstaltung war und gar nicht weiß, was mich da überhaupt erwartet.
Jene, die ich bisher im Namen von CaddySign besucht habe, sind mit dem heutigen Ereignis nicht zu vergleichen.

»Gehen wir«, gibt Jolene räuspernd von sich, als unser intensiver Blickkontakt durch ein Hupen von draußen unterbrochen wird. Trotzdem schenkt sie mir einen sanften Kuss, ehe sie mit mir gemeinsam unser Zimmer verlässt und nach unten geht.
»Eine Limousine?«, frage ich überrascht, als ich das weiße Prachtstück auf der Straße vor unserem Haus stehen sehe. Natürlich ein Hummer, der viel zu lang ist, um unsere Einfahrt zu befahren. Der Chauffeur lässt die Flügeltür in der Mitte aufgleiten, um uns hereinzulassen.
»Standesgemäß«, antwortet Jolene schmunzelnd und nimmt meine Hand in ihre, während wir auf dieses Monstrum zugehen.
»Hast du das organisiert?«
»Nein«, sagt sie, »vermutlich eine der Damen, die bereits da drinne sitzen.« Sie nickt zur geöffneten Tür und hilft mir dann dabei, einzusteigen, ohne zu stolpern, oder mir den Kopf zu stoßen.
Bekannte Gesichter grinsen mir direkt entgegen. Amber und Morgan heben zur Begrüßung ihre Gläser, die sie sich auf dem Weg von Amber zu uns gefüllt haben.
Ich bin vollkommen überwältigt von diesem pompösen Innenraum. Diese Größe und Ausstattung traut man nicht zu, wenn man die Limousine von außen sieht. Natürlich habe ich auf Fotos und in Filmen schon gesehen, wie es im Inneren so aussieht, aber noch nicht mit eigenen Augen.
Auf der einen Seite schlängelt sich eine Sitzreihe entlang und macht eine Biegung am vorderen Ende. Auf der anderen Seite ist eine Bar mit diversen Getränken und ausreichend Eis für jene ausgestattet. Die gesamte Einrichtung wird durch das neonfarbige Licht in ein besonderes Ambiente gelegt, an der Decke leuchten viele weiße Punkte und imitieren den Sternenhimmel.
Wenn Jolene das hier nicht organisiert hat, kann es nur Morgan gewesen sein. Amber ist viel zu pragmatisch, um sowas zu machen. Morgan hingegen ähnelt da ihrer Cousine, die gerne zur Übertreibung neigt.
Wobei mir durchaus bewusst ist, dass sich die meisten zu besonderen Anlässen und Galen gerne von einem solchen Service chauffieren lassen.
Erst dann wandert mein Blick über Morgan und Amber. Beide tragen sie ihren Verlobungsring, fällt wegen der Aufmachung und dem anderen Schmuck aber kaum auf.
Morgan ist, wie immer, schwarz gekleidet. Ich glaube, es ist sogar das gleiche Kleid, das sie an jenem Abend trug, an dem sie sich dann aber für einen Abend mit mir und den Kindern entschieden hat, weil ich durch den Streit mit Jolene so aufgewühlt war.
Amber trägt ein dunkelblaues Kleid. Ein Glück habe ich mich doch für Weiß entschieden, denn Blau war meine erste Vorstellung gewesen, weil es gut zu meinen Augen gepasst hätte.
So aber bilden wir dann doch ein farblich gut aufeinander abgestimmtes Quartett.

Morgan nimmt ein Whiskeyglas und drückt es mir mit einem Grinsen in die Hand. Meine rechte Augenbraue hebt sich skeptisch, bis sie nach einer kleinen Apfelsaftflasche greift und davon etwas in mein Glas kippt.
»Sieht zumindest wie Whiskey aus«, scherzt sie und fordert dann uns alle dazu auf, miteinander anzustoßen, mit der Bemerkung, heute einen grandiosen Abend zu haben.
»Was genau habt ihr denn geplant?«, hake ich nach, da mir Jolene diese Information immer noch nicht gegeben hat.
»Wir werden Bilson dazu bringen, sein eigenes Grab zu schaufeln«, beantwortet Morgan, während mir Jolene ihr Handy hinhält und mir den Chat mit Heather zeigt.
Darin vereinbaren sie den Ablauf des heutigen Abends.
Heather, General Harvey und die Offiziere des NCIS stehen bereit und warten auf das 'Go' von Amber. Ich lese sogar den Namen von Ambers Ex-Mann, der irgendwie daran beteiligt sein wird und bin überrascht davon.
Jolene schenkt mir dazu nur ein freches Schmunzeln. »Ich habe gesagt, ich regle das«, beantwortet sie das schlicht.
»Wie?«, frage ich nach, weil mir diese Aussage nicht wirklich eine Antwort liefert.
»Der NCIS kann nur militärisch eingreifen, nicht aber Zivil. Das, was Bilson mit Morgans Vater zu tun hatte, ist ein militärisches Verfahren; was er mit uns tat, ein ziviles. Terance bekommt seine Kampagne, aber ohne BNS.«
»Wow«, stoße ich beeindruckt aus und sehe dann Morgan an. »Und was hast du auf die Beine gestellt, als du in New York warst?«
Zunächst schmunzelt Morgan nur und macht nicht den Ansatz, mir das zu verraten, aber dann neigt sie ihren Kopf und sieht mich an. »Bilson hat einigen Personen ziemlich böse auf die Füße getreten, als er dafür gesorgt hat, dass meine Bank auf Eis gelegt wird - und vor allem, mit welchen Mitteln. Sie fanden es auch nicht sehr witzig, dass ein Richter diesen Beschluss erlassen hat, ohne Beweise zu haben, die Bilsons Behauptung unterstützen - und dann noch ein Richter aus einem anderen Bundesstaat. Das hat insbesondere die Gouverneurin sehr verärgert.«
»Die Gouverneurin?«, frage ich sie mit geweiteten Augen. »Die Gouverneurin von New York?«
Morgan schweigt wieder schmunzelnd und legt sich den Zeigefinger auf ihre Lippen, um mir damit zu signalisieren, diese Information für mich zu behalten.
Ich wusste ja, welche Art Menschen zu ihren Kunden zählen, Namen aber hat sie aus Diskretion nie genannt.

Wie mir Jolene dann aber noch ein wenig näher erklärt, hat Bilson mit seiner Aktion den Unmut von Leuten auf sich gezogen, mit denen er sich nicht unbedingt anlegen sollte. Das Karma wird also ordentlich zurückschlagen. Nicht härter, als wäre es ein anderes Konstrukt, aber deutlich schneller, weil Persönlichkeiten betroffen sind, die deutlich kürzere Wege gehen können - und das haben sie augenscheinlich getan, wenn ich lese, was Heather an Jolene so geschrieben hat.
»Wird die Gouverneurin auch da sein?«, frage ich ehrfürchtig.
»Nein«, antwortet Morgan und schüttelt den Kopf. »Sie hat wichtigere Dinge zu tun, als sich mit so einem Käse abzugeben. Aber einige ihrer Wuffis sind da, und tarnen sich als Gurus großer Unternehmen. Bilson soll noch ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, ehe wir ihm vor allen Anwesenden die Hosen runterziehen.«
Ein 'Wow' reicht hierbei gar nicht mehr aus, um zu zeigen, wie beeindruckt ich bin.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass Morgan, Amber und Jolene heute einen wirklich großen Rundumschlag machen werden.
Bilson hat absolut keine Ahnung, was ihm blüht; dass sein Leben heute vermutlich endet und er zum letzten Mal die Luft der Freiheit atmen wird.
Aber auch in Texas wird es heute nicht ruhig bleiben, wenn ich Heathers Worte lese. Der NCIS hat auch dort ein Einsatzteam positioniert, um den Admiral wieder nach Washington zu bringen, sollte Bilson das bestätigen, was Jolene aufgrund ihrer Recherchen vermutet.
Ermittlungen sind ohnehin eingeleitet, denn Mord verjährt nie. Aber der Zugriff soll zur gleichen Zeit stattfinden, um keine schlafenden Hunde zu wecken.
Ich bin fasziniert davon, wie akkurat alles geplant und terminiert ist; was Jolene und Morgan hier auf die Beine gestellt haben, und das in unmenschlich kurzer Zeit.

Nach etwa fünfzehn Minuten Fahrt kommen wir an unserem Ziel in Miami Beach an. Ein rein weißes Gebäude mit nur acht Stockwerken, aber hochwertig designed. Von außen elegant, schlägt einem im Inneren der pure Luxus entgegen. Im Bar-Bereich fühlt man sich in die 50er Jahre zurückversetzt, der Eventbereich hingegen ist penibel säuberlich mit Designermöbeln bestückt und bildet eine gelungene Mischung aus alter und neuer Zeit. Aber ich sehe auch viele spirituelle, buddhistisch wirkende Elemente.
Ein Zimmer in diesem Hotel fängt bei 700 Dollar die Nacht an, da will ich gar nicht wissen, was der Veranstalter an diesem Abend für die Halle, die Bar, das Catering und den Service blechen muss.

Jolene lächelt mich liebevoll an, als sie meine Hand nimmt und unsere Finger miteinander verknotet, ehe sie mit mir gemeinsam durch den Eingang schreitet - wie so viele andere Gäste des heutigen Abends.

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