[EPILOG]

6 Jahre später ...

Der heutige Tag gehört bereits jetzt schon zu jenen Tagen, an denen ich drei Kreuze im Kalender mache, wenn sie vorbei sind. Und es ist gerade mal erst halb acht am Morgen. Ich habe also mindestens noch zwölf Stunden vor mir, bis ich verschnaufen kann.
Und der stressigste Teil kommt erst noch.

Nachdem ich den Wagen geparkt und den Motor gestoppt habe, drehe ich mich auf dem Fahrersitz herum und sehe nach hinten zur Rückbank. Dort sieht mir ein Augenpaar überglücklich entgegen. Wunderschöne Augen, die je nach Lichteinwirkung mehr grün, oder mehr blau leuchten. Als habe die Natur die Wünsche von Jolene und mir gleichermaßen erfüllt.
Riley hat bereits die Hand am Türgriff und kann es kaum erwarten aus dem Auto auszusteigen. Die Kindersicherung aber hindert sie daran, unbedacht die Tür zu öffnen.
Wie einst Chester, hält mich diese junge Dame schon seit fünf Uhr in der Früh auf Trab, weil heute ihr erster Schultag ist.
Aber im Gegensatz zu ihm damals, hat sie mir verboten, ihr dabei zu helfen, ihr Lunchpaket für den heutigen Tag zu packen. Allerdings hat sie auch nicht ein solches Chaos verursacht, wie er.
Für ihre sechs Jahre ist sie bereits außerordentlich selbstständig. Sie weiß auch ganz genau was sie will und ist dann auch clever genug, ihr Ziel zu erreichen. Ob alleine oder mit Hilfe von anderen.

Sie kann es kaum erwarten endlich zu den 'Großen' zu gehören.
Bereits seit letztem Jahr sehnt sie sich diesen Tag herbei und lag uns damit regelmäßig in den Ohren.
Grundsätzlich hätte sie schon mit fünf in die Schule gehen dürfen, aber Jolene und ich waren mit ihren Betreuern einer Meinung, dass sie noch nicht so weit war. Ja, sie ist ein sehr cleveres und pfiffiges Mädchen, aber dennoch hatte sie ein paar Defizite, die ihren Start ein wenig verzögert haben. Sie war stark im Umgang mit Worten und im Denken, dafür aber zeigte sie wenig Interesse daran, das Lesen und Schreiben zu verbessern und anständig zu lernen. Sie schaffte es immer wieder, sich geschickt aus der Affäre zu ziehen, um lieber andere Schandtaten zu begehen.
Irgendwann stand sie dann aber ihrem Endgegner gegenüber: Jolene.
Dickkopf gegen Dickkopf, schlagfertiges Mundwerk gegen schlagfertiges Mundwerk. Aber Jolene hatte den längeren Atem.
All ihre Versuche, sich vor ihren Aufgaben zu drücken sind gescheitert. Jolene blieb konsequent und ließ keine Gnade walten, bis sich Riley schließlich ergab und sich ihrem Schicksal fügte.

Trotz all der Nerven und Strapazen, die uns Riley so oft kostet, kann ich nicht genug davon bekommen, sie anzusehen.
Sie fasziniert mich auf so vielen Ebenen, denn obwohl Jolene genetisch nicht beteiligt ist, kommt Riley absolut nach ihr. Nicht nur charakterlich, sondern tatsächlich auch optisch.
Das schmale Gesicht, die Form ihrer Lippen, ihre Augen, dieser stechende Blick und ihre gesamte Ausstrahlung sind absolut Jolene. Ihre Haare sind zwar blond, aber dünn, lang und glatt; haben nicht das gleiche Volumen, wie mein Haar.
Lediglich die Nase erkenne ich als meine wieder.
Von Johnny hingegen kaum eine Spur. Bis auf die Augenfarbe scheint sie nichts von ihm geerbt zu haben. Weder den dunkleren Hauttyp, noch die Haare, die Hände oder Füße.
So oft habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie das sein kann. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, weil Riley ihrem Bruder sehr ähnlich sieht, und der wiederum Jolene.
Aber wäre dem so, würden nicht so viele das Gleiche sehen, was ich sehe. Meine Mutter, Jolenes Mutter, Johnny, Naddy, Morgan und Amber. Sogar Jolene selbst.
Es ist verrückt, aber es macht mich auch sehr glücklich. Es macht uns beide sehr glücklich.

Bei Chester ist es ja ähnlich. Er hat von seinem Vater auch nur die Augenform und die Haare geerbt. Anfänglich auch seinen etwas dunkleren Hauttyp, aber mittlerweile ist Chester heller geworden. Alles andere ist Jolene. Nase, Augenfarbe, Lippen, der Blick und dieses Schmunzeln. Er wird ihr sogar ähnlicher, je älter er wird.
Liam und Isaac kommen auch viel mehr nach ihrer Mutter und weniger nach Johnny. Genetisch durchsetzen kann er sich also wirklich kaum.

Seine Rezessivität ist auch in einem weiteren kleinen Menschlein vorhanden, das unser Leben noch ein Stück mehr perfektionierte und unsere Familienplanung wunderbar abschloss.
Hellblonde Engelslocken, große hellblaue Augen mit langen Wimpern, eine süße Stupsnase und runde Bäckchen.
Wieder ein Abbild von mir und fast schon eine Kopie von Riley, die in diesem Alter genauso aussah, ehe sie sich in den letzten zwei Jahren zu einer Kleinausgabe von Jolene entwickelte.
Quinn ist quasi ein Geschenk, das mir Jolene an unserem 6. Hochzeitstag in einer romantischen Liebesnacht machte - wortwörtlich.
Diesmal aber konnten wir meine Schwangerschaft erfolgreich geheimhalten, bis es nicht mehr zu verstecken ging. Und bevor wieder irgendwelche Wetten über das Geschlecht losgehen würden, habe ich allen den Wind aus den Segeln genommen und im selben Atemzug verkündet, wieder ein Mädchen zu erwarten; und auch wie sie heißen wird, damit nicht noch über den Namen Wetten abgeschlossen werden können.
Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Einige waren überrascht, andere nicht, und dann gibt es da Jessica, die darüber so empört war, dass sie doch nochmal bereit war, es ein drittes Mal zu versuchen und Johnny sehr deutlich machte, was sie von ihm verlangte.
Tja ... vor drei Monaten brachte sie dann die Zwillinge Declan und David auf die Welt. Zweifelsohne beides Jungs.
Noch immer muss ich darüber lachen, wenn ich mich daran erinnere, wie sie zu allen Göttern der Welt sprach und fragte, was sie in ihrem früheren Leben getan hatte, dass man sie in ihrem jetzigen so strafte.
Darum legt sie jetzt all ihre Hoffnung darauf, dass einer ihrer vier Jungs eines Tages feststellt, im falschen Körper zu stecken, dasselbe Geschlecht liebt oder mindestens feminine Züge aufweist.
Kurzweilig hat sie auch überlegt, ob sie auf Declans Entwicklung Einfluss nehmen kann, wenn sie ihn nur in Rosa kleidet und ihm Puppen zum Spielen gibt.
Natürlich wird sie es nicht tun, und ihre Kinder sich so entwickeln lassen, wie sie sich entwickeln, denn trotz des unerfüllten Wunsches liebt sie jeden einzelnen von ihnen.

An meine Schwangerschaft mit Quinn erinnere ich mich nur ungerne. Sie bestand hauptsächlich aus einer Odyssee an Arztbesuchen, Untersuchungen und Torturen.
Am Ende des sechsten Monats wurde eine Schwangerschaftsdiabetes bei mir diagnostiziert, die mir eine so schöne und recht entspannte Schwangerschaft wie bei Riley vermieste.
Ich musste nicht nur täglich meine Werte messen, sondern auch meine Ernährung umstellen und auf all das verzichten, wonach es mich aber gelüstete.
Schokolade und Eiscreme waren tabu, dabei hatte ich besonders darauf extremen Heißhunger. Selbst Pizza zum Trost war nicht drin.
Das war so unglaublich ungerecht und frustrierend. Meine Stimmungen während dieser Schwangerschaft waren häufig sehr explosiv und gereizt.
Es ging sogar so weit, dass Jolene ihre Cousine um Hilfe bat, mich bei der Ernährung so zu unterstützen, damit ich nicht wegen all den unbefriedigten Gelüsten zum Amokläufer werde.
Jolene, die sich ja selbst sehr gerne ungesund ernährt und in der Küche deshalb kein so kreatives Köpfchen ist, konnte mir nicht so helfen, wie sie es gerne getan hätte.
Morgan hingegen ernährt sich bevorzugt von Grünzeug in allen Formen und Varianten und hat keine Sekunde gezögert, mich dabei zu unterstützen.
Es war zweifelsohne lecker, aber ich hatte trotzdem oft das Gefühl, einen leeren Magen zu haben. Dafür aber zeigte mir Morgan, was ich essen und trinken durfte, wenn ich Lust auf Schokolade bekam, ohne mir oder dem Baby damit zu schaden.
Als wäre diese Diabetes nicht schon anstrengend genug gewesen, dachte sich Quinn, mir die Schwangerschaft zusätzlich schwer zu machen.
Wie oft hatte ich wegen ihr einen eingeklemmten Nerv im Rücken, oder Schmerzen in den Rippen. Sie turnte, trat, boxte und drehte sich; manchmal so stark, dass mir die Luft wegblieb. Mein Bauch war oft eine wilde Buckellandschaft.
Im Gegensatz zu mir, genossen Jolene und Chester genau diese Momente, weil sie so das Baby auch sehen konnten. Riley hingegen beobachtete meist nur voller Neugier, begriff mit ihren fast zwei Jahren aber, dass da ein Baby in mir heranwächst.
Wenn Quinn dann deutlich sichtbar gegen meine Bauchwand boxte, konterte Riley und drückte dagegen. Die Antwort von Quinn folgte prompt mit einem kräftigen Tritt in meine Rippen.
Ihre Aktivität war kaum auszuhalten und ich glaubte schon, dieses Kind wird das Energielevel von Chester und Riley zusammen noch übertrumpfen.

Ich erinnere mich noch ganz genau an Jolenes Reaktion, als ich ihr sagte, dass ich mir die Kugel geben werde, wenn Quinn nach der Geburt immer noch so ist. Sie lachte, nahm mich in den Arm und versicherte mir, dass wir das gemeinsam schon hinbekommen werden.
Insbesondere die Nächte waren eine Qual für mich. Quinn ließ mich einfach nicht zur Ruhe kommen, bis Jolene eines Tages ihre Gitarre schnappte und begann, darauf zu spielen und dazu zu singen.
Plötzlich stoppte jede Bewegung in meinem Bauch und ich konnte so endlich in den Schlaf finden.
Bis zur Geburt war es dann unser abendliches Ritual.
Sehr zu meiner Freude hatte es Quinn dann plötzlich eilig. Anstatt, wie errechnet, Anfang Oktober, kam sie dann zwei Wochen früher, am 22. September zur Welt. Und das dann auch noch in Rekordzeit. Wir haben es gerade noch so ins Krankenhaus geschafft und schon auf dem Weg zum Kreißsaal war ihr Köpfchen bereits zu sehen.
Die ganze Geburt dauerte nicht mal eine Stunde. Offensichtlich hatte Quinn auch die Schnauze voll.
Danach war sie das ruhigste und artigste Kind auf der Welt. Sie schlief viel und schrie wenig. Nichts deutete daraufhin, wie aktiv sie in meinem Bauch gewesen war und ich mir deshalb schon Sorgen gemacht hatte.
Nur eins hat sich danach nicht geändert: Sie blieb in Jolenes Stimme verliebt.
Noch heute ist dies das beste Beruhigungsmittel für Quinn.

Ich blinzle meine Erinnerung beiseite und sehe dem Mädchen mit den großen blauen Augen entgegen, das mich neugierig ansieht.
Heute ist nicht nur Rileys erster Schultag, sondern auch Quinns erster Tag im Kindergarten. Zu gerne hätten wir sie schon letztes Jahr in den Kindergarten gebracht, aber leider blieb die Direktorin da sehr strikt, nur Kinder aufzunehmen, die spätestens am 1. September drei Jahre alt werden. Wegen dieser 21 Tage mussten wir ein ganzes Jahr warten.
Aber endlich hat das Jonglieren mit den Kindern ein Ende und wir können unsere Geschäftstermine wieder freier verteilen. Bis dahin hat entweder Jolene die Mädchen mit zu BNS genommen oder war zu Hause geblieben, wenn sie keine wichtigen Termin hatte, oder aber ich nahm sie mit zu CaddySign oder blieb zu Hause.

»Oh, verdammt!«, flucht Kyle plötzlich, der zwischen den beiden Mädchen auf der Rückbank sitzt und beginnt hektisch in seinem Rucksack zu wühlen, bis er einen Zettel herauszieht, den er mir völlig zerknittert entgegenhält. »Ich hab' total vergessen, ihn Mom zu geben.«
»Was ist das?«, frage ich, ehe ich mir diesen Zettel ansehe.
»Die Erlaubnis, dass ich ins Football-Team darf«, erklärt er. »Unterschreibst du das, Tante Cat? Bitte?« Treuherzig, aber mit seinem Morgan-typischen Lächeln sieht er mich an und versucht, mich auf diese Weise zu bekehren.
Mit gehobener Augenbraue begutachte ich zunächst, was genau da drauf steht.
Erst ab der achten Klasse dürfen Schüler ins Football-Team. Kyle aber ist jetzt erst in die siebte gekommen.
Bis dahin hatte er die Möglichkeit zwischen anderen Sportarten zu wählen, sogar Flag Football steht alternativ zur Verfügung, aber nichts davon gefiel ihm, weil man da niemanden 'bodychecken' kann.
Mit dieser Erlaubnis der Eltern, dürfte er aber auch schon ein Jahr früher, weil er bereits jetzt schon die körperlichen Voraussetzungen erfüllt.
In den Sommerferien hat Kyle einen ordentlichen Schuss gemacht und mich sogar knapp überholt.
Keine Kunst, weil ich ohnehin nicht groß bin. Aber Chester fühlt sich dadurch benachteiligt, der bisher immer die gleiche Größe wie Kyle hatte.
Außerdem vollendete Kyle in diesen acht Wochen seinen Stimmbruch, während Chesters Stimme noch unentschlossen scheint - mal dunkler, mal kindlich hell, meist aber kratzig.
Aber wir sind uns sicher, dass er seinen Cousin noch diesen Sommer wieder einholen wird.
Ich mache mir da weniger wegen seiner Körpergröße Sorgen, viel mehr aber wegen seiner Statur.
Im Gegensatz zu Kyle ist er nämlich ein Hungerhaken, auf dessen Rippen ich Klavier spielen könnte, sobald er sich mal streckt. Eindeutig die Gene seiner Mutter, denn Johnny ist nicht gerade eine Gazelle.
Kyle ist da eine gelungene Mischung aus Cormack und Morgan. Er hat die Augen, den Mund und den frechen Ausdruck seiner Mutter. Die blonden Haare und Statur seines Vaters.

Bevor ich auf seine Bitte eingehe, hebe ich kommentarlos den zerknüllten Zettel hoch.
»Kennt deine Mom dieses Formular?«
»Nein, hab' ja vergessen, es ihr zu geben. Aber sie ist damit einverstanden«, schwört er.
»Soweit ich mich erinnere, willst du schon seit zwei Jahren in dieses Team, und jetzt wo du es mit der Erlaubnis deiner Mutter dürftest, vergisst du das?«, hake ich skeptisch nach.
Kyle verdreht die Augen. »Der war in meinem Rucksack und den hab ich nach dem letzten Schultag einfach unter meinen Schreibtisch gestellt und dann vergessen«, begründet er.
»Jetzt weiß ich auch, wieso es hier so stinkt«, mischt sich Chester ein, der auf dem Beifahrersitz sitzt. »Hast bestimmt noch ein Sandwich vom letzten Schultag da drin.«
»Oh, verdammt!« Kyle reißt seine Augen auf und durchwühlt seinen Rucksack erneut. Tatsächlich fischt er eine Papiertüte heraus, die nicht nur vom Fett durchtränkt ist, sondern auch widerliche Gerüche von sich gibt.
Auch die Mädchen reagieren angeekelt. Chester reißt sofort die Beifahrertür auf, steigt aus und öffnet auch Riley die Tür, damit sie flüchten kann.
Kyle krabbelt hinterher und auch ich steige aus. Diesen Moment nutzt er, um seine Fähigkeiten als Football Spieler unter Beweis zu stellen. Er holt Schwung und wirft das verdorbene Sandwich wie einen Football einmal quer über den Parkplatz Richtung Mülleimer.
Natürlich trifft er nicht und das Sandwich zerfällt unterwegs in zwanzig Einzelteile.
»Du wirst das gleich noch aufsammeln und richtig wegwerfen«, befehle ich ihm seufzend und reibe mir die Stirn. Dann halte ich ihm seinen Zettel wieder entgegen. »Den kann deine Mom heute Nachmittag noch unterschreiben.«
»Tante Cat, bitte! Ich muss ihn heute dem Coach geben, sonst darf ich nicht beim Training mitmachen!«, bleibt Kyle standhaft und sieht mich wieder mit diesem Ausdruck an.
»Wenn der Coach diesen Wurf eben gesehen hat, darfst du das so oder so nicht.«
Ruckartig dreht sich Kyle und blickt panisch umher, um zu sehen, ob der Coach des Football-Teams in der Nähe ist.
Ich seufze erneut und gebe schließlich kleinbei. Ich weiß ja bereits, dass Morgan ihm das tatsächlich erlaubt, weil sie sich selbst dafür eingesetzt hat, ihn früher in dieses Team zu bekommen. Trotzdem wäre mir lieber, sie wüsste von diesem Zettel, ehe ich ihn für sie unterschreibe.
Kyle hält mir sofort einen Stift entgegen, den ich aber verweigere und von Chester einen fordere.
»Wer weiß, womit dieser Stift in deinem Rucksack noch so Kontakt hatte«, begründe ich.

Ehe ich ihm den unterschriebenen Zettel zurückgebe, mache ich ein Foto davon, um es Morgan zu schicken, damit sie Bescheid weiß und ihren Sohn heute Nachmittag darauf ansprechen kann.
Anschließend verziehe ich das Gesicht, als ich sehe, wie Kyle diesen Zettel kreuz und quer zusammenfaltet und in seine Hosentasche schiebt - dabei wird er nochmals geknickt.
Ich schüttle den Kopf und verstehe nicht, wie aus Kyle ein so chaotischer Mensch werden konnte, wo er doch in absoluter Ordnung aufgewachsen ist. Sowohl Morgan als auch Amber legen sehr viel Wert auf eben diese und vermitteln es auch so den Kindern.
Andererseits ist Ambers Sohn Matt ebenfalls sehr chaotisch und lässt alles stehen und liegen, wo er sich gerade bewegt. Wenn man wissen will, in welchem Teil des Hauses er sich befindet, braucht man nur der Spur an Klamotten, Trinkflaschen und Geschirr folgen.
Zum Glück ist Chester da nicht ganz so schlimm. Sein Chaos beschränkt sich lediglich auf sein Zimmer. Auch nicht immer so schön, aber er muss ja darin leben. Spätestens wenn Jolene seine Zimmertür nicht mehr richtig aufbekommt, dauert es keine zwei Stunden, bis man wieder einen Fußboden erkennen kann.

Schließlich gehe ich wieder um den Wagen herum, um die Schiebetür zu öffnen, damit ich auch Quinn aus ihrem Kindersitz befreien kann.
Als ich mit unserer zweiten Tochter schwanger war, habe ich es tatsächlich geschafft, Jolene zu einem familientauglichen Auto zu überreden.
Mit dem Van haben wir ein Fahrzeug, das sowohl sie, als auch ich fahre. Eine typisch amerikanische Familienkutsche. Nicht zu groß für mich, nicht zu klein für Jolene, aber trotzdem genügend Platz für alle Kinder, Einkäufe oder Gepäck.
Dafür aber musste ich einen Kompromiss eingehen und Jolene den Kauf eines Chevrolet Camaros erlauben. Nicht irgendein Camaro, nein. Den Neusten und dann auch noch als Sportwagen - als wäre der Camaro nicht so schon sportlich genug.
Also steht seit dem auch ein schwarz-weißer Camaro ZL1 in unserer überdimensionalen Garage.

Quinn sieht mich mit großen Augen fragend an, als ich mich zu ihr in den Wagen beuge und beginne, sie abzuschnallen.
Als ich sie dann aber rausheben will, fängt sie plötzlich an zu schreien und zu strampeln. Mit all ihren Kräften stemmt sie sich mir entgegen und weigert sich, aus dem Wagen zu kommen.
Ihr Schreien wird lauter und ist beinahe schon ein hysterisches Kreischen.
Seufzend lasse ich wieder von ihr ab und sehe sie beschwichtigend an.
»Heute ist dein erster Tag im Kindergarten«, sage ich ihr.
»Nein!«, antwortet sie und schüttelt vehement den Kopf.
»Doch«, entgegne ich und will erneut nach ihr greifen.
»Nein!«, wiederholt sie und fängt sofort wieder an zu schreien.
»Da sind ganz viele Kinder mit denen du spielen kannst«, verspreche ich ihr, lasse aber direkt wieder von ihr ab, weil sie laut und schrill nach ihrer Mama schreit.
Um meine Nerven zu behalten, greife ich mir an die Nasenwurzel und schnaufe leise. »Quinn.«
»Mama!«, ruft sie laut. »Will zu Mama!«
»Mama ist aber da drin«, sage ich und deute auf das Gebäude.
Wieder schüttelt sie vehement den Kopf und verschränkt die Arme.
»Guck mal, da steht ihr Auto.« Ich zeige zur anderen Seite meines Autos auf den schwarzen Dodge, mit dem Jolene heute hierhin gefahren ist, weil sie bei der Organisation der Willkommensfeier für die Erstlinge hilft.
Quinn aber glaubt mir nicht und weigert sich weiterhin.
»Ches«, schnaube ich genervt und deute auf Quinn. Wenn ich es nicht schaffe, dieses Mädchen aus dem Wagen zu bekommen, dann vielleicht er.
Zu Quinn hat er nämlich einen besonders engen Draht, nachdem er diesen zu Riley nicht so aufbauen konnte, wie er es sich damals gewünscht hatte.
Nur die ersten zwei Jahre durfte er ihren großen Bruder spielen, danach war Riley bereits so selbstständig und selbstbewusst, dass sie sich von ihm weder betüdeln noch beschützen lassen wollte. Chester war deshalb sogar richtig frustriert gewesen.
Als dann aber Quinn zur Welt kam und schon von Anfang an ein sehr ruhiges und schüchternes Mädchen war, ging er in seiner Rolle voll auf. Und Quinn hat es ebenfalls sichtlich genossen, von ihm so umsorgt zu werden.

»Nein!«, wehrt sie sich dann aber unverhofft auch gegen ihn und schlägt seine Hände weg. »Geh weg!«, befiehlt sie ihm und schreit erneut nach ihrer Mama.
»Riley und ich sind auch da«, spricht er geduldig zu ihr und hält ihr ungehindert die Hand entgegen.
»Nein.« Sie schiebt ihre Arme wieder in die Gurte hinein und drückt die Verriegelung zusammen.
Während Chester alles mögliche versucht, seine Schwester irgendwie davon zu überzeugen, aus dem Auto zu kommen, tippe ich eine Nachricht an Jolene.

Cait (07:47 am): »Deine Tochter verlangt nach dir.«
Mein feuchter Traum (07:47 am): »Welche?«
Cait (07:48 am): »Genau die.«

»Soll ich sie einfach rausholen?«, fragt mich Chester dann. »Ich bin stärker, als sie.«
»Nein«, sage ich seufzend. Normalerweise würde ich ihrem Trotz auch nicht beigeben und sie einfach entgegen ihrem Willen aus dem Auto holen.
Aber nicht heute, nicht hier. Wir befinden uns mitten auf dem Parkplatz der Schule, wo mindestens einhundert Eltern herumlaufen, die ihr Kind entweder zum ersten Mal in den Kindergarten oder zur Schule bringen. Da möchte ich wirklich nur ungerne die gesamte Aufmerksamkeit auf mich ziehen und mir eventuell noch vorhalten lassen, ich würde mein Kind quälen und traumatisieren.
Uns bleibt also nur Jolene als Notlösung. Sie hat aber auch im Notfall keinen Vertrag damit, eine schreiende und sich wehrende Quinn im Beisein der ganzen Eltern aus dem Auto zu holen. Sollte sich bei ihr einer trauen, ihr Ratschläge zu geben oder Vorhaltungen zu machen, wird er ohnehin Reid kennenlernen und sich anschließend nicht mehr trauen, sie auch nur anzusehen.

»Mom?« Chester zeigt auf eine Gruppe von Mädchen. »Brauchst du mich noch, oder kann ich gehen? Ich will meine Freundin begrüßen.«
»Deine Freundin?«
»Ja.« Erneut deutet er auf die Gruppe.
»Und welche davon ist deine Freundin?«, frage ich. Vermutlich alle, wie sie da stehen.
»Na, Melody«, sagt er, als müsse ich das wissen oder würde all diese Mädchen kennen.
»Melody? Hieß deine Freundin nicht anders?«
»Nein.« Irritiert sieht er mich an und schüttelt den Kopf.
»Aber letzte Woche hattest du noch eine Freundin, die nicht Melody hieß.«
»Ja«, gibt er zu. »Das war Paige, meine Freundin während der Ferien. Melody ist meine Freundin während der Schule.«
»Aha«, gebe ich ahnungslos von mir. Weil mir das aber mit den ganzen Mädchennamen sowieso zu kompliziert ist, um da noch durchzublicken, winke ich einfach ab und erlaube ihm, mit Kyle zu den Mädchen zu gehen.
Letzteren erinnere ich nochmal an das Sandwich, das in fünf Teilen über den Parkplatz verstreut liegt.
Und während ich aufpasse, dass er es auch ja aufsammelt, erkenne ich Jolene auf uns zukommen.

»Mama!«, ruft Quinn und streckt sofort ihre Arme nach Jolene aus, als sie sie sieht.
Jolene aber bleibt zunächst neben mir stehen, gibt mir einen kurzen Kuss und sieht musternd ins Auto zu unserer Tochter.
»Was ist das Problem?«, fragt sie.
»Vermutlich parke ich auf einer Wasserader oder stehe nicht im richtigen Winkel der Sternkonstellation, oder ihr Aszendent steht einfach in einem falschen Haus«, antworte ich zynisch.
Jolene schmunzelt lediglich, beugt sich dann zu Quinn und kann sie ohne Probleme abschnallen und in den Arm heben.
Frustriert darüber schnaufe ich und verschränke die Arme vor der Brust.
»Wir müssen unseren Ablauf dann wohl ändern«, sage ich und hole die Rucksäcke der Mädchen aus dem Kofferraum. »Du wirst die Kinder morgens zur Schule bringen und ich hole sie ab. So lange, bis Quinn freiwillig aus dem Auto steigt und gerne in den Kindergarten geht, damit ich das wieder übernehmen kann, ohne ständig solch ein Theater zu haben.«
»Das ist nicht mit meinen Arbeitszeiten vereinbar«, wehrt Jolene direkt ab.
»Das ist deiner Tochter so ziemlich egal«, schieße ich zurück und deute auf Quinn, die sich fest an Jolene klammert.
»Meiner Tochter?« Jolene zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Deine Gene.«
»Ja«, stimme ich ihr zu. »Wie Riley, und trotzdem ist sie mehr du, als ich.«
»Aber Quinn kommt verdammt nach dir.«
»Und genau deshalb kommst du mit ihr auch besser klar«, kontere ich.
Darauf antwortet Jolene nichts und raunt unzufrieden.
Grinsend strecke ich mich etwas zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben. »Ist ja nur für die Zeit, bis sie freiwillig aus dem Auto steigt«, verspreche ich ihr, schließe das Auto ab und mache mich auf den Weg zum Gebäude.
Wir haben hier jetzt fast eine halbe Stunde gestanden. In wenigen Minuten beginnt für alle der Unterricht.
Deshalb will ich Riley begleiten, während Jolene mit Quinn schon mal dorthin geht, wo die Kinder in Gruppen aufgeteilt und ihren Betreuern zugewiesen werden.
»Ich kann das schon alleine, Mom«, beschwert sich Riley und sieht mich maßregelnd an. »Ich weiß, wo ich hin muss.« Sie bedeutet mir, ihr nicht weiter zu folgen und sie alleine gehen zu lassen.
»Darf ich dir wenigstens einen Kuss geben?«
»Das ist peinlich, Mom!«, ruft sie zurück, ohne sich umzudrehen.
Irritiert bleibe ich stehen und blinzle ihr hinterher, während sie fröhlich mit ihrem Rucksack auf dem Rücken den Gang entlang schlendert und zielstrebig in jenen abbiegt, wo sich ihr zukünftiges Klassenzimmer befindet.
Weil ich weiß, wie unausstehlich sie werden kann, wenn ich sie trotzdem begleite, belasse ich es dabei, mache auf dem Absatz kehrt und gehe zu Jolene. Wenigsten bei einem Kind wäre ich gerne heute dabei.

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