[Einhunderteins] - Ein neues Leben
Während ich die Lunch-Pakete für Chester und Kyle vorbereite, amüsiere ich mich über den Anblick, den mir die Jungs gerade bieten.
Chester ist wie immer bereits voller Energie und Tatendrang und plappert fröhlich vor sich hin, während sein Cousin neben ihm sitzt und mit müden Augen ins Leere starrt. Seine kurzen, blonden Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab und sehen aus, als hätten sie letzte Nacht ohne ihn eine Party gefeiert.
Er sieht so aus, wie ich mich gerade fühle, denn die letzte Nacht war für mich nicht sehr erholsam, weil ich immer wieder aufgewacht bin und kaum in den Schlaf gefunden habe.
Grund dafür ist der natürliche Prozess, der beginnt, wenn eine Schwangerschaft auf das Ende zuschreitet. In den letzten zwei Wochen hat sich mein Bauch deutlich gesenkt und blieb mir wegen der leichten Schmerzen nicht verborgen.
Besonders spürbar war es letzte Nacht gewesen. Teilweise sind mir die Schmerzen in den Rücken und die Beine gezogen, weshalb ich weder liegen noch stehen konnte; ganz zu Schweigen von dem permanenten Druck auf meiner Blase und der Übelkeit.
Auch jetzt spüre ich, wie mein Unterleib krampft, aber mit den erlernten Atemübungen kann ich dem einigermaßen gut entgegenwirken.
Die Rettung für Kyles wirre Haarpracht naht in Form von Jolene, die mit Haargel bewaffnet zu uns stößt, um den Jungs ihre 'coole' Frisur zu stylen.
Chester gibt sofort Anweisungen, wie er es gerne hätte. Bei Kyle hingegen wirkt es, als würde er nicht mal mitbekommen, wie Jolenes Finger durch seine Haare fahren und sie formen.
Es ist amüsant zu sehen, dass zwar beide einen ähnlich hohen Energielevel haben, dieser aber zu unterschiedlichen Zeiten beginnt.
Dieser Unterschied ist mir schon immer aufgefallen, aber noch nie war Kyle für so einen langen Zeitraum unter der Woche bei uns.
Morgan ist nämlich aktuell in New York, um sowohl den Umzug nach Miami zu organisieren, als auch ihre Pläne zur Umstrukturierung ihrer Bank umzusetzen. Zuvor haben sie und Amber die letzten Wochen damit verbracht, ihr Haus zu renovieren und herzurichten; jetzt fehlen nur noch Morgans Sachen.
Ich freue mich schon darauf, sie bald in unserer direkten Nachbarschaft zu haben. Das erleichtert so viele Dinge. Zum Beispiel können sich die Jungs immer sehen, wann sie wollen und keiner von uns muss sie dafür hin und her kutschieren.
Außerdem wird es für Jolene und mich etwas entlastender, da auch Morgan mal den Fahrdienst von und zur Schule übernehmen wird. Zumal auch Ambers Sohn Matt nach den Sommerferien auf dieselbe Schule gehen wird.
Vor allem in der Anfangszeit nach der Geburt wird uns Morgan in vielen Dingen unterstützen, damit sich Jolene voll und ganz um uns kümmern kann.
Was diese im Grunde jetzt schon tut, denn seit gut drei Wochen arbeitet sie von zu Hause aus, damit sie immer bei mir ist.
Anfangs war ich dagegen, weil ich befürchtet habe, wir könnten uns auf die Nerven gehen, wenn wir 24/7 aufeinander hängen, tatsächlich stellte sich ihre Anwesenheit aber als ein Segen heraus. Denn besonders in den letzten zwei Wochen wurde ich von einer sonderbaren Energie durchflutet, die mich dazu veranlasst hat, das Haus - aber insbesondere das Kinderzimmer - auf Vordermann zu bringen. Und bei einigen Vorhaben war Jolenes Hilfe willkommen, die mir vor allem die schweren und anstrengenden Tätigkeiten abgenommen oder mir dabei geholfen hat.
Zum Beispiel das Umstellen der Babymöbel; und zwar so oft, bis es mir gefallen hat. Ein Glück ist Jolene ein geduldiger Mensch und nimmt das ganze gelassen. Es amüsiert sie sogar, wie ich zu einer peniblen Raumgestalterin mutiert bin und macht einfach bei all meinen Ideen mit.
Manchmal ist sie selbst von diesem Fieber befallen und schreitet motiviert zur Tat.
»Jolene?«, fordere ich deren Aufmerksamkeit und zeige auf Chester, der mit seinem Gesicht auffällig nah am Comic klebt, das er mittlerweile durchblättert.
Sie begreift, worauf ich hinaus will und beobachtet die Szenerie selbst einen Moment, bis sie zu ihrem Schreibtisch geht, ein Blatt Papier nimmt und etwas drauf schreibt.
Dann stellt sie sich wieder neben mich, auf die andere Seite der Kücheninsel und fordert Chester dazu auf, ihr zu sagen, welche Worte sie geschrieben hat.
Zunächst streckt Chester seine Hand aus, weil er das Blatt an sich nehmen will, aber Jolene schüttelt schweigend den Kopf und verweigert es ihm.
»Was steht da?«, fordert sie erneut eine Antwort.
»Du hast eine Erwachsenenschrift, Mama«, beschwert er sich. »Die kann ich nicht lesen!«
Jolene verzieht eine Augenbraue in die Höhe. »Das sind Druckbuchstaben.«
Chester schnaubt frustriert und verschränkt seine Arme vor der Brust.
»Was steht da?«, fragt Jolene erneut und zeigt auf das Wort 'Haus'.
Chester beugt sich nach einem Moment des Weigerns nach vorne, um irgendwie näher zu kommen.
Jetzt schnaubt Jolene, die das Blatt einfach auf die Insel legt und mich ansieht. Wir müssen unsere Gedanken nicht aussprechen, weil wir uns einander auch so verstehen.
Aber auch Chester hat verstanden, was das gerade gewesen ist.
»Brauche ich jetzt eine Brille?«, fragt er und sieht uns mit großen Augen an.
»Wenn du den Sehtest nicht bestehst, dann ja«, antwortet Jolene.
»Ich will aber keine Brille!«, gibt er trotzig von sich und verschränkt erneut die Arme vor der Brust. »Mit einer Brille sieht man doof aus und dann will keiner mehr mit mir spielen!«
»Ich spiele noch mit dir«, kommt es ganz lieb gemeint von Kyle.
»Niemand sieht mit einer Brille doof aus«, widerspreche ich ihm.
»Doch!«, beharrt Chester bockig.
»Meine Mamas sehen mit Brille voll hübsch aus«, merkt Kyle dann an und verursacht damit sofort Bilder von Morgan in meinem Kopf, wie sie ihre Brille trägt; dazu ihr offenes gelocktes Haar und ihr frecher Ausdruck.
Ganz unwillkürlich stimme ich seiner Aussage mit einem Raunen zu, entschuldige mich aber sofort bei Jolene, weil meine Reaktion für sie hörbar war.
»Wenn du eine Brille trägst, darfst du nicht mehr gehauen werden«, fügt Kyle hinzu.
Diese Aussage hingegen lässt mich aufhorchen.
»Gehauen?«, frage ich. »Wirst du in der Schule gehauen?«
»Nein, Mom«, wehrt Chester sofort kopfschüttelnd ab, weshalb ich erleichtert aufatme.
»Haust du andere?«, hakt Jolene skeptisch nach.
»Nein, Mama!«, antwortet er empört. »Sowas mache ich nicht!«
»Aber andere machen das«, erklärt Kyle. »Aber dann kommt Mrs. Griffon und schimpft mit ihnen.«
»Gut«, gibt Jolene in einem strengen Ton von sich und schenkt beiden einen Blick, der ihnen verdeutlicht, sowas auch nie von ihnen hören zu wollen. »Und jetzt Schuhe anziehen, wir müssen los«, befiehlt sie und dreht sich mir zu, als Chester und Kyle direkt von den Hockern springen und zur Tür laufen. »Mach' schon mal einen Termin beim Augenarzt«, spricht sie zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, bevor sie die Lunch-Boxen in den Rucksäcken verstaut und ebenfalls zur Haustür geht.
»Jolene?«, stoße ich etwas piepsig aus, als sie gerade die Tür öffnet, weil ich erneut einen Krampf in meinem Unterleib verspüre, der dieses Mal nicht nur stärker, sondern auch schon der dritte in der letzten halben Stunde ist.
Instinktiv massiere ich meinen Bauch leicht und versuche immer noch, mit kontrollierter Atmung entgegenzuwirken. »Ich glaube, wir müssen ins Krankenhaus«, keuche ich.
»Wie? Jetzt??«, fragt sie entsetzt und deutet auf die Kinder, die zur Schule müssen.
»Ja, jetzt!«, fauche ich zurück. »Es sei denn du willst mich auf dem Boden vorfinden, wenn du zurückkommst, und mit einem Kopf zwischen meinen Beinen, der nicht deiner ist!«
»Kann dieses Kind nicht, wie die meisten, Nachts damit anfangen, wenn man Zeit hat?!«, flucht Jolene und tippt wild in ihr Handy, bevor sie es sich ans Ohr hält. »Du musst herkommen und die Kinder zur Schule bringen«, spricht sie harsch ins Telefon, während sie auf mich zukommt und legt wieder auf, ohne auf Antwort zu warten. Dann ruft sie den nächsten an. Erst das Krankenhaus, dann Winnie, um uns anzukündigen.
»Kommt das Baby, Mom??«, fragt Chester aufgeregt und legt seine Hände auf meinen Bauch. Sorgenvoll und hilflos sieht er mich an, während mir Jolene wortwörtlich unter die Arme greift, um mich zu unterstützen.
»Hol' die Tasche«, befiehlt sie ihrem Sohn, der sofort zur Treppe eilt und nach dieser greift. Vorsorglich haben wir diese schon gepackt und griffbereit gestellt, weil wir wussten, dass es jetzt jeden Tag so weit sein könnte.
Kyle bedeutet sie, die Schulranzen zu nehmen und schickt ihn dann zum Auto, um die Beifahrertür für mich zu öffnen. Zu meiner Überraschung hat sie dafür mein Auto ausgewählt und keines von ihren.
»Ich lasse dich in diesem Zustand jetzt nicht klettern«, beantwortet Jolene, als sie meine Verwunderung bemerkt.
Dafür bin ich ihr tatsächlich dankbar. Denn sowohl in den RAM als auch in den Hummer hätte ich mich irgendwie reinhieven müssen, aus dem alten Mustang hingegen raus, was genauso anstrengend gewesen wäre.
Der Tahoe befindet sich ja mittlerweile im Besitz meiner Eltern und der junge Mustang in Morgans. Damit bleibt uns also nur mein Auto für die richtige Höhe zum Ein- und Aussteigen.
Ich bin gerade dabei, in meinen Wagen zu steigen, als Amber mit ihrem Mercedes in unsere Einfahrt gebrettert kommt und mit einer hörbaren Bremsung stehen bleibt. Der ganze Kies, mit dem unsere Einfahrt bestückt ist, wirbelt eine gigantische Staubwolke auf.
Sowohl Jolene, als auch ich sehen sie überrascht an. Jolene sieht sogar auf die Uhr in ihrem Handy.
»Ich war im Haus«, beantwortet Amber unsere stille Frage, wie sie so schnell da sein konnte und deutet in die Richtung, in der dieses steht.
»Im Haus? Um die Zeit?«, fragt Jolene verwundert und hilft mir beim Einsteigen.
»Ich habe das Bett einem harten Boden in einer leeren Wohnung vorgezogen«, erklärt sie und bedeutet den Kindern, in ihr Auto zu steigen.
»Aber ich will mit Mom mit!«, protestiert Chester sofort und weigert sich.
»Du wirst zur Schule gehen«, befiehlt Jolene.
»Aber das Baby kommt!«
»Ganz genau.«
»Ich will dabei sein!«
»Ich bin bei ihr.«
»Aber ich ...«
»Chester.« Jolenes Stimme wird hart und streng.
»Mama!«, kontert er und ich höre, wie er wütend auf den Boden stampft.
»Sechs Minuten!«, rufe ich, um Jolene an die Dringlichkeit zu erinnern. Blöderweise direkt nachdem Jolene ihm erklärt hat, dass die Geburt lange dauern wird, weshalb Chester es jetzt falsch interpretiert und denkt, das Baby kommt in sechs Minuten. Deshalb weigert er sich erst recht, in Ambers Auto zu steigen.
Jolene schließt die Beifahrertür, wirft Chester noch deutliche Worte entgegen und steigt dann auf der Fahrerseite ein. Sie ignoriert seine Schreie, startet den Wagen und fährt einfach los.
Ein Glück ist Amber eine durchsetzungsfähige Frau, die mit einem trotzigen Chester zurechtkommen wird.
Auf der Interstate angekommen, gibt Jolene ordentlich Gas, nachdem wir uns erstmal eine gefühlte Ewigkeit durch den Berufsverkehr gekämpft haben.
Trotz ihrer Bemühung schaffen wir die Strecke dann doch nur in dreizehn Minuten; haben also nur ein Plus von zwei Minuten gemacht. Wobei sich die Fahrt für uns beide deutlich länger anfühlte.
Winnie steht schon bereit, als wir vor dem Eingang des Krankenhauses anhalten. Zwei männliche Assistenten helfen mir dabei, aus dem Wagen zu steigen und um mich geradewegs zum Kreißsaal zu bringen.
»Ist die Fruchtblase schon geplatzt?«, fragt Winnie sofort.
»Nein«, antworte ich.
Da Jolene mit dem Auto nicht dort stehen bleiben darf, wo sie gerade steht, fährt sie es zuerst ins Parkhaus und lässt sich von Winnie erklären, wo sie uns dann gleich finden wird.
Grund zur Hektik gibt es noch keine. Das Baby wird nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten zur Welt kommen, trotzdem ist es aufregend und für mich sogar kräftezehrend und anstrengend. Die Atemübungen und die zwischenzeitlichen Schmerzen machen mir zu schaffen.
Je länger es dauert, umso mehr weicht die Vorfreude dem Frust. Ich schreie das Baby regelrecht an, sich zu beeilen, weil ich keine Lust auf diese Strapazen habe.
Auch die ganze Fürsorge und lieben Worte, die mir von den Schwestern und dem Arzt zukommen, helfen meinen Nerven nicht wirklich. Ich bin viel zu fokussiert auf die Wehen, dass ich alles andere um mich herum ausblende.
Auch Jolene schafft es nur in einer Wehenpause, meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Während einer Wehe allerdings schreie ich sie - genauso wie alle anderen - an, oder breche ihr die Finger, weil sie stets meine Hand hält.
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