[Einhundert] - Das Gefühl von Freiheit

Während ich an dem Tisch stehe, der mit sämtlichen Salaten, Süßspeisen und Snacks bestückt ist, lasse ich meinen Blick durch unseren Garten wandern, in dem alle vereint an den zusammengestellten Tischen sitzen und sich ausgelassen unterhalten und lachen.
In meiner Hand einen Teller mit gegrilltem Gemüse, das ich mit den Fingern in meinen Mund schiebe.
Heute feiern wir nicht nur Morgans 30. Geburtstag nach, und in den 51. Geburtstag meiner Mutter hinein, sondern auch Cormacks Geburtstag, der heute 31 wird.
Seit zwei Tagen ist die Stimmung bei uns allen auf einem Niveau, wie es das schon lange nicht mehr war.
Obwohl ich mittlerweile fast zwölf Kilo zugenommen habe, fühle ich mich so viel leichter, als zuvor. So viel Anspannung und Last ist von meinen Schultern gefallen, als vor zwei Tagen das Urteil über den Admiral gefällt wurde.
Die Jury entschied: Schuldig in allen Anklagepunkten. Und der Richter setzte noch einen drauf, als er dafür die Höchststrafen aussprach. Insgesamt also 30 Jahre plus 500.000 Dollar.
Die Verhandlung und Entscheidung der Jury für das Verbrechen an Morgans Vater steht noch aus, aber Terance und Amber sind sich sicher, dass sowohl der Admiral, als auch Benford und Bilson dafür lebenslange Haftstrafen zu erwarten haben, die zu der anderen Verurteilung noch obendrauf kommen.

Mein Blick wandert zu Amber, die sich angeregt mit Christian und Ian unterhält.
Die Jury war sich schon nach nur zwei Stunden einig. Das hatte nicht mal Amber erwartet. Sie war davon ausgegangen, die Jury würde mehrere Stunden brauchen, denn die Anwälte vom Admiral waren wirklich nicht ohne.
Amber hatte es richtig prophezeit: Sie haben mit dem Finger auf Jolene gezeigt und versucht, ihr eine Mitschuld in die Schuhe zu schieben.
Zum Glück haben uns Terance und Amber am Abend zuvor so gequält. So konnten wir die fiesen und teilweise wirklich tückischen Fragen gut meistern und so beantworten, dass sie ihnen letztlich keinen Nutzen brachten.
Sie haben wirklich alles daran gesetzt, die Jury zu überzeugen, den Admiral als fürsorglichen und gerechten Vater zu sehen. Terance hatte immer wieder vehement Einspruch einlegen müssen, weil sie die Aufmerksamkeit ständig auf das Familienbild der Reids lenkten - insbesondere auf Morgans und Jolenes Kindheit, und auf die Ehe mit Milly.

Ich sehe zu Letzterer, die mit meiner Mutter in eine Unterhaltung vertieft ist. Einen so aufrichtig fröhlichen und lockeren Ausdruck habe ich noch nie in deren Gesicht gesehen. Milly wirkt beinahe wie eine Fremde für mich.
Sie hat uns bei der Verhandlung am meisten überrascht. Im Inneren ging es ihr vermutlich nicht gut, aber nach außen hin strahlte sie eine ungewohnte Souveränität aus. Selbst Jolene war überrascht und gestand sich ein, beeindruckt zu sein.
Es war deutlich zu sehen, wie zuversichtlich die Anwälte waren, als Milly im Zeugenstand saß, aber ihnen fiel unweigerlich alles aus dem Gesicht, als sie nicht das eingeschüchterte Hausmütterchen vor sich hatten, sondern eine Frau, die klar und deutlich gegen ihren Mann aussagte.
Als dieser sich deswegen aufregte und sie 'zur Besinnung' rufen wollte, fuhr sie ihm sogar über den Mund und warf ihm vor, was für ein schrecklicher Mensch er wäre und Gott ihn deshalb niemals willkommenheißen würde. Für all seine Sünden und Taten müsste er sich den Strafen Gottes stellen, denn mit Buße tun allein wäre es niemals getan.
Millys Aussage war eine der Wichtigsten in diesem Prozess, denn sie konnte die Androhungen und Handlungen Jolene gegenüber bestätigen und sehr detailliert schildern. Wie und weshalb der Admiral die Kaltstellung seiner Tochter veranlasste.
Die familiären Fragen, die sie eher in die Unsicherheit treiben sollten, beantwortete sie ungewohnt abgeklärt und brachte damit auch die gegnerischen Anwälte in die Bredouille. Denn sie gab Antworten, mit denen sie nicht gerechnet hatten.

Durch Jolene weiß ich ja bereits, wie das Aufwachsen mit ihrem Vater gewesen ist, es aber mit den Worten ihrer Mutter zu hören, schmerzte nochmal mehr; ihre Erzählung war detaillierter, als jene von Jolene.
Jolene konnte gerade richtig laufen und einen Stift halten, da wurde sie schon wie ein Soldat in Ausbildung behandelt. Solange, bis sich Jolene dazu entschied, für sich selbst zu handeln und zu denken.
Millys Aussagen provozierten den Admiral. Seine Anwälte konnten ihn nicht dazu anhalten, einfach zu schweigen, um die Jury nicht gegen sich aufzubringen. Er fühlte sich von seiner eigenen Frau verraten und beschimpfte sie wüst. Er drosch verbal böse auf sie ein und versuchte, sie derart zu demütigen, dass sie wieder in ihre schwache Haltung zurückfiel.
Aber das tat sie nicht. Milly blieb stark und standhaft. Das hat sogar Jolene beeindruckt, die ihre Mutter bei einer kurzen Pause tatsächlich in den Arm nahm und ihr gut zusprach.
Wegen ihres grandiosen Auftritts vor Gericht hat Amber ihr zugesichert, sich auch um eine schnelle Scheidung vom Admiral zu kümmern. Milly hat deswegen geweint und konnte nicht aufhören, sich dafür bei Amber zu bedanken.
Auch ihre Einstellung zu Morgan änderte sich. Immer wieder betont sie, wie leid es ihr tut, sie so ungerecht behandelt zu haben, so negativ von ihr und ihrer Mutter gedacht zu haben und bittet sie um Verzeihung.
Stellenweise ist Morgan davon schon genervt. Sie bleibt dabei, Milly für irre zu halten, versichert ihr aber, einen Haken hinter die Sache zu setzen, wenn sie denn endlich anfängt ihre eigene Meinung zu bilden und nicht immer anderen nach dem Mund faselt.

Und so wandert mein Blick zu Morgan, die gerade eine sehr feste Umarmung von Winnie erhält und diese ebenso erwidert.
Sie wurde nach Milly in den Zeugenstand gerufen und sofort wurde sie auf ihre Mutter angesprochen. Auf das Verhältnis mit ihr, auf deren Trinkerei und die Kindheit, die Morgan dadurch erlebte.
Morgan aber war einfach Morgan. Sie neigte ihren Kopf und sah dem Anwalt direkt in die Augen. Ihr linker Mundwinkel hob sich nur ein bisschen zu ihrem typischen Schmunzeln.
Terance war sofort mit einem »Einspruch« eingeschritten, dem der Richter auch stattgab.
Bei seiner Argumentation, wieso die Frage und deren Antwort wichtig wäre, unterbrach Morgan den Anwalt und erklärte ihm, dass die Sache mit ihrer Mutter nichts zu dem beigetragen hatte, was der Admiral die letzten Jahre getan hat. Die Sache mit ihrem Vater hingegen schon, aber dies ist ein Thema, das separat behandelt wird und deshalb jetzt keine Rolle spielt.
Damit wurde den Anwälten jeglicher Wind aus den Segeln genommen. Sie griffen nach dem letzten Strohhalm und sprachen sie auf mich an. Auf das Verhältnis zu mir.
Aber auch hierzu schwieg Morgan, während Terance erneut Einspruch einlegte und dem Richter die Irrelevanz zum Fall erklärte.
Die Anwälte des Admirals versuchten verzweifelt, irgendwie einen Punkt zu erwischen, an dem sie zu Gunsten ihres Mandanten ansetzen konnten, mussten letztlich aber aufgeben und überließen Morgan dem Staatsanwalt, der dann explizite Fragen stellte, die auch die Anklagepunkte betrafen.

Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf Johnny, der sich gerade zu mir stellt, weil er sich ebenfalls am Buffet bedienen möchte. Auf seinen Lippen ein glückliches Lächeln.
Er streckt seine Hand aus und legt sie auf meinen Bauch, nachdem er mich mit seinem Blick um Erlaubnis bat.
Für ihn war die Verhandlung besonders wichtig, denn endlich konnte er seine ganze Geschichte erzählen. Vom Tag der Verhaftung, den Verlust seines friedlichen Lebens und die zwei Jahre im Gefängnis. Unschuldig, weil man ihm ganz bewusst eine Straftat vorgeworfen hatte, die er nie begangen hatte. Und all das nur, weil ein Mann davon überzeugt war, auf diese Weise seine Tochter zurück in die Abhängigkeit der Eltern zu bringen und dabei den Enkelsohn in den Kontrollbereich zu bekommen.
Johnnys Aussage hatte großen Einfluss auf die Jury; vor allem dann, als er Chester erwähnte, dessen Geburt und die ersten Lebensjahre er deshalb nicht miterleben konnte. Insbesondere bei den Frauen stieß dies natürlich auf Mitgefühl.

Benji war der nächste im Zeugenstand. Seine Aussage ergänzte jene von Johnny zuvor und war so das Puzzleteil, das das Bild vervollständigte.
Er beantwortete ungehemmt jede Frage, die ihm gestellt wurde. Auch jene zu seinem Leben, bevor er Kontakt zum Admiral aufgenommen hatte.
Während er von seiner Vorgeschichte erzählte, sah er immer wieder zu Jolene, Morgan und mir, als wollte er uns etwas beweisen. Als wollte er uns zeigen, wie aufrichtig er ist, und dass seine Vergangenheit zwar nicht schön war, aber eben Vergangenheit ist.
Jolenes Meinung konnte er damit trotzdem nicht ändern. Es wird noch dauern, bis sie ihn Teil unserer Familie sein lässt.

Ich selbst stehe etwas zwiegespalten zu dem Thema. Auf der einen Seite möchte ich, dass er Teil von uns sein darf und nach all den Jahren und Strapazen eine Familie hat; eine richtige Familie, mit seinen echten Schwestern.
Auf der anderen Seite gebe ich Jolene recht. Zu naiv sollten wir trotzdem nicht sein. Seine Vergangenheit war nicht ohne und er hat einige Leichen im Keller. Wir sollten wirklich erst sicher gehen, dass sich seine Vergangenheit nicht wiederholt oder er rückfällig wird.
Aber ich bleibe trotzdem zuversichtlich. Er machte einen guten und ehrlichen Eindruck. Ich würde es mir wünschen, wenn er den Absprung von der schiefen Bahn geschafft hat und auf ein stabiles und strukturiertes Leben zusteuert.
Mit Job, Wohnung und Familie.
Ohne Drogen, ohne Waffen, ohne Gewalt.

Noch einmal lasse ich meinen Blick durch die Runde schweifen, ehe ich meinen Teller erneut mit Chilis, Paprikas und Dips fülle und mich wieder zu den anderen Geselle.
Nur eine Person fehlt hier: Jolene.
Diese ist gerade mit Heather auf diesem Date, um endlich ihr Versprechen einzulösen.
Obwohl Jolene wirklich alles getan hat, um mir die Angst zu nehmen, und auch Heather überzeugend war, als sie sagte, sie hätte kein Interesse mehr an Jolene, habe ich trotzdem so ein erdrückendes Gefühl, das mich unwohl fühlen lässt.
Jolene hat für diesen Tag extra diesen hier ausgesucht, damit ich umgeben von Menschen bin, die ich liebe und die mich ablenken, damit ich mich nicht zu sehr in meinen Gedanken verrenne.
Insbesondere Morgan kann das natürlich sehr gut und vermutlich hätte auch nur sie gereicht. Diese lässt sich nämlich auf dem Stuhl neben mir nieder und schenkt mir ihren verstohlenen Blick und dieses provozierende Lächeln.
Sie beugt sich mir etwas entgegen und lässt ihre Fingerspitzen über meinen Hals gleiten.
»Sollen wir reingehen und uns ein ungestörtes Plätzchen suchen, damit ich dich ablenken kann?«, flüstert sie mir verheißungsvoll ins Ohr.
Noch immer neige ich dazu, auf ihre Provokation einzugehen, aber all die Gäste um mich herum halten mich davon ab. Vor allem meine Mutter, die rechts neben mir sitzt und neben ihr wiederum Milly, die vermutlich nie verstehen wird, was das zwischen Morgan und mir ist.
Naddy möchte ich dabei auch nicht unerwähnt lassen, die das dann ganz sicher lautstark derart kommentieren wird, dass mir mein gesamtes Blut in den Kopf schießt und ich im Erdboden versinken möchte.
»Geht schon«, antworte ich deshalb und lächle sie an. Dennoch erlaube ich mir, ihr für ihre Aufmerksamkeit zu danken und ihr dafür einen Kuss auf die Wange zu geben.
Mal wieder beweist sie ihren außerordentlichen Spürsinn, was meinen aktuellen Gefühlszustand betrifft.
Ganz sicher kann sie mich von den Gedanken befreien, die mir durch den Kopf wandern, aber das ist schlicht mein selbstgemachtes Problem, denn sowohl Jolene als auch Heather haben mir genehmigt, sie zu begleiten. Das wollte ich aber nach wie vor nicht, weil ich es zum einen wichtig finde, dass sie sich ordentlich aussprechen und zum anderen, will ich deren gemeinsame Geschichte einfach nicht hören - auch, wenn diese bereits fünfzehn Jahre zurückliegt.

Eigentlich hatte mir Jolene noch sagen wollen, was damals zwischen den beiden vorgefallen war, aber da kamen ihr die Anwälte vom Admiral zuvor, die definitiv ihre Hausaufgaben gemacht haben.
Heather saß im Zeugenstand, um die Legalität der Beweise zu versichern, die Jolene auf nicht ganz so legale Weise an Land gezogen hat.
Sie machte keinen Hehl daraus, Jolene geholfen zu haben, damit sie mit ihren Ermittlungen gegen den Admiral vorankommen. Das alles aber eben genehmigt und autorisiert, weshalb der Anwalt da nichts zum Ansetzen hatte, um Heathers Beteiligung als rechtswidrig darzulegen.
Trotzdem wurde sie auf ihr Verhältnis und ihre Liebschaft zu Jolene angesprochen.
Milly stieß dabei ein sonderbares Geräusch der Empörung aus, weil sie tatsächlich bis jetzt nicht damit gerechnet hat, dass ihre Tochter bereits mit siebzehn schon Interesse am gleichen Geschlecht hatte.
Ich hingegen war schlicht überrumpelt, weil dieses Thema aufgegriffen wurde.
Jolene selbst reagierte skeptisch, und musterte diese Vernehmung, während Heather total gelassen blieb und dem Anwalt diese Behauptung mit einem Schmunzeln bestätigte.
Terance' Einspruch wurde vom Richter abgelehnt, weil er eine wichtige Relevanz in der Frage sah.
Also antwortete Heather.
Zum Glück berichtete sie nicht im Detail, wie ihre Beziehung zu Jolene war, aber sie gestand, mit ihr befreundet und im Bett gewesen zu sein.
Auf die Nachfrage, ob sie danach noch Kontakt hatten, und wieso sie dann keinen mehr hatten, erzählte Heather offen, was vorgefallen war: Sie hat Jolene an das Pentagon verraten.
Es war also kein Fehler, den Jolene bei ihrem Cyberangriff auf das Pentagon gemacht hatte, sondern Heather.
Sie war wütend auf Jolene gewesen, weil diese ihr einen - relativ unsensiblen - Korb verpasst hatte, nachdem sie im Bett gewesen sind. Sie war zu ihrem Vater gegangen, der im Pentagon arbeitete, und erzählte ihm von Jolenes Tat, um sich für ihr gebrochenes Herz zu rächen.
Überrascht habe ich Jolene angesehen, weil ich damit nicht gerechnet habe. Ich bin all die Jahre davon ausgegangen, Jolene hätte etwas getan, das sie bei Heather wiedergutmachen müsste. Tatsächlich aber war es Heather, die deren Beziehung mit dieser Aktion zerstörte und die Wiedergutmachung haben wollte, die von Jolene aber verweigert wurde.

»Ich dachte, sie sind damals auf dich gekommen, weil du beim Hacken einen Fehler gemacht hast?«, habe ich sie später gefragt.
»Mein Fehler war, Heather davon erzählt zu haben«, hatte Jolene geantwortet.
Im Anschluss wollte ich natürlich wissen, wieso mir Jolene das verschwiegen hat. Zumal es ja bereits damals schon zu Sprache kam und ich sie konkret gefragt hatte, was zwischen ihr und Heather vorgefallen ist. Es tat mir durchaus weh, weil sie mir damals nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.
Jolene aber wusste mich zu besänftigen und das zu erklären.
Sie hatte schlicht nicht gewollt, dass ich Heather voreingenommen gegenüber trete und so vielleicht deren Hilfe ablehne, die für uns aber essentiell gewesen wäre. Und sie hatte nicht gewollt, aus alter Glut ein neues Feuer zu entfachen.
Für sie war Heathers Hilfe Wiedergutmachung genug. Nur für Heather selbst noch nicht, denn die wünschte sich nach wie vor ein klärendes Gespräch, bei dem sie sich bei Jolene entschuldigen wollte.
Ich habe also keine Angst, zwischen den beiden könnte wieder etwas passieren; ich vertraue Jolene und weiß, sie würde das gar nicht zulassen.
Meine Angst ist eher, weil ich Heather nicht einschätzen kann und befürchte, sie könnte doch noch Hoffnungen haben, die von Jolene erneut erschlagen werden. Was dann? Wird sie dann wieder irgendwas tun, um Jolene zu schaden? Oder ist sie wirklich über Jolene hinweg und will nur Frieden finden?

»Auf einer Skala von eins bis zehn«, werde ich durch Hazels Stimme aus meinen Gedanken gerissen. »Wie sehr liebst du mich, Morgan?«
Nicht nur ich reiße meine Augen schlagartig auf, auch Morgan tut das, während sie Hazel völlig perplex ansieht. Diese steht auf der anderen Seite des Tisches hinter ihrer Mutter und sieht Morgan abwartend an.
»Das ist eine Fangfrage«, antwortet Morgan dann und hebt ihre linke Augenbraue skeptisch nach oben. »Egal, was ich antworte, ich kann nur verlieren.«
Hazel verdreht genervt die Augen. »Ich meine das ernst.«
»Was hab' ich verpasst?«, frage hingegen ich, da mir jeglicher Zusammenhang fehlt, weil ich in meinen Gedanken versunken war.
»Wir hatten gerade das Thema Stiefeltern«, erklärt mir meine Mutter und erzählt mir in kurzen Worten, welche Probleme Winnie mit einer Lehrerin von Jay hat, weil sie ihre Pflichten als Mutter ernst nimmt und ihren Stiefsohn in Schutz genommen hat, als dieser einen Konflikt mit einem älteren Mitschüler hatte.
»Würdest du mich auch in Schutz nehmen, wenn jemand gemein zu mir wäre?«, hakt Hazel nach.
Morgan zögert mit dem Anworten und mustert den Teenager zunächst. »Üblicherweise bist du diejenige, die gemein zu anderen ist. Von daher stellt sich die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es mal dich betrifft?«
»Sehr hoch«, antwortet Hazel und verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Auf meiner Schule gibt es ein Mädchen. Sie ist auch Cheerleaderin, und immer wenn unser Coach nicht da ist, reimt sie fiese Sachen über mich und bringt die anderen zum Lachen«, berichtet sie. »Und sobald Coach Miller da ist, ist sie extrem lieb zu mir.« Hazel schnaubt genervt, als sie ihren Satz beendet. »Ich wäre gerne schlagfertiger, damit ich mich dagegen wehren kann.«
»Ich, deine Mutter, bin anwesend«, schaltet sich Amber dazwischen, hebt die Hand und dreht sich zu ihrer Tochter um. »Ich würde dir auch dabei helfen.« Sie wirkt ein wenig empört darüber, weil Hazel nicht bei ihr als erstes Hilfe sucht.
»Ich weiß, mum«, sagt das blonde Mädchen und tätschelt ihrer Mutter besänftigend die Schultern. »Als Anwältin kannst du auch echt gut argumentieren und so ...«
»Aber?«
»Aber mit Paragraphen aus dem Gesetzbuch um mich werfen, wäre halt nicht so cool.« Als würde sie sich für ihre Meinung entschuldigen, lächelt sie vorsichtig. »Morgan aber kann so schön fies sein.« Jetzt sieht sie wieder diese an; mit einem regelrecht flehenden Blick.
»Fies?«, hakt Morgan skeptisch nach. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Ihr die Pompons wegnehmen?«
»Nein.«
»Was dann? Den Haargummi? Die Zahnspange?«
»Nein!«, wiederholt Hazel und verdreht genervt die Augen. »Aber genau das meine ich! Du bist so schön zynisch.«
»Ach, und ich bin nicht zynisch?«, fragt Amber empört.
»Nein«, kommt es im Chor von allen Anwesenden, weshalb Amber zuerst geschockt reagiert und dann nicht weiß, wen sie überhaupt als erstes ansehen soll.

Aus dem Chor höre ich allerdings Jolenes Stimme heraus und drehe mich ruckartig um.
Sofort lächeln mich zwei wunderschöne, grüne Augen an und ihre Hand gleitet sanft durch mein Haar.
Ich erhebe mich aus dem Stuhl, und begrüße sie mit einer festen Umarmung zurück.
»Wie ist es gelaufen?«, frage ich, als wir unseren kurzen Kuss gelöst haben.
Jolene ergreift meine Hand und zieht mich sanft mit ins Haus hinein, damit wir ungestört reden können.
»Wir haben geredet«, sagt sie dann. »Mit 60 cm Tisch zwischen uns.«
Ich schnaufe kurz auf und verdrehe die Augen, weil sie mir offensichtlich immer noch die Angst nehmen will, die ich gar nicht habe.
»Wie seid ihr verblieben?«, frage ich konkreter.
Kurz zuckt sie mit den Schultern und holt sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier heraus, die sie mit einem lauten Zischen öffnet. »Ich habe ihre Wiedergutmachung akzeptiert.«
Irritiert blinzle ich sie an. »Nur das?«
»Nur das.«
»Und dafür warst du fast drei Stunden weg?«
Jolene verzieht den Mund und verdreht ihre Augen nach oben. »Sie hat ziemlich weit ausgeholt, ehe sie auf den Punkt kam. Ihre Gefühle, die sie damals für mich hatte, wie verletzt sie war, was sie getan hat, wieso sie es getan hat, wie sehr sie es bereut hat ...«, zählt sie stichpunktartig auf. »Und als sie dann sagte, mir geholfen zu haben, weil sie ihre Fehler wieder gut machen wollte, habe ich ihr gesagt, dass ich es akzeptiere.«
»Und du denkst, sie ist mit dem Ergebnis zufrieden?«
»Ja, wieso denn nicht?«, fragt Jolene und sieht mich verwundert an.
»Weil es recht kühl klingt, so wie du es erzählst.«
Jetzt beginnt sie zu schmunzeln und nähert sich mir. »Bin eben kein so guter Erzähler, wie du.«
Ich erwidere das mit einem Lächeln und erlaube ihr diese Nähe und auch den Kuss, den sie mir schenkt.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, will ich wissen.
Wieder zuckt sie mit den Schultern und nimmt ein Schluck von ihrem Bier. »Es ändert sich nichts. Sie macht in Washington ihren Job, ich in Miami meinen. Unsere Wege werden sich, wenn, nur beruflich kreuzen. Wir werden nie wieder das füreinander sein, was wir mal waren. Es ist und bleibt Vergangenheit. Meine Zukunft steht genau vor mir und hat die schönsten blauen Augen der Welt.« Jolene legt ihre Hand auf meine Wange, die wegen ihrer Worte sofort errötet und lächelt mich liebevoll an. »Du kannst sie fragen, wie es ihr geht, wenn du ihr schreibst, um dich zu bedanken.«
»Bedanken?«, frage ich verdutzt und Jolene zeigt auf eine kleine Geschenktüte, die auf unserem Esstisch steht.
Neugierig gehe ich dorthin und öffne sie. Meine Augen weiten sich überrascht, als ich einen kleinen Body herausziehe, auf dem ein 'Zwei Mamas sind besser als eine' steht.
»Oh, mein Gott, das ist so süß!«, hauche ich und betrachte das winzige Kleidungsstück.
Jolene steht derweil dicht neben mir und massiert mir sanft den unteren Rücken, bis ich mich zu ihr drehe und den kleinen Body auf meinen runden Bauch lege.
»Das werde ich mit ins Krankenhaus nehmen«, berichte ich.
Jolene schweigt dazu nur und behält ihr Lächeln aufrecht, während sie mir wieder sanft durchs Gesicht streichelt.
»Sie mag dich«, sagt sie. »Du hast Eindruck bei ihr hinterlassen. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet.« Jetzt zieht sie mich in ihre Arme und drückt ihre Lippen in mein Haar. »Ich liebe dich, Cait«, flüstert sie. »Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt.«
Ich lächle glücklich vor mich hin, während ich mich fester an sie drücke. »Ich liebe dich auch, Jolene.« Nur leicht löse ich mich von ihr, um zu ihr aufzusehen. Ihre grünen Augen funkeln mir entgegen, ehe sie sich zu mir beugt und mich diesmal inniger und länger küsst.

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