[Dreiundzwanzig] - Der frühe Vogel
»Mom«, höre ich leise, bin aber noch nicht in der Lage dazu, zu reagieren. »Mom.« Sanft tätschelt er meine Schulter und rüttelt ein wenig darin. »Mooom«, haucht er mir nun ins Ohr und nur schwerfällig öffne ich meine Augen.
Wirklich sehen kann ich ihn nicht, da es immer noch dunkel ist. Nur sein Schatten hängt über mir. »Hm?«, antworte ich ihn und schließe meine Augen wieder.
»Ich hab' mich schon angezogen«, berichtet er. »Und die Zähne geputzt habe ich mir auch schon«, führt er stolz weiter aus.
»Mhm«, raune ich.
»Und ich hab' mir schon mein Essen gemacht«, fügt er hinzu.
Essen gemacht? Jetzt schlage ich meine Augen auf und versuche, ihn anzusehen. Mir fällt es etwas schwer, meine Glotzgurken wirklich zu öffnen, denn sie fühlen sich an, als wären sie zugeschwollen. Mein Versuch, auf die Uhr zu sehen, scheitert an der Beleuchtung der digitalen Zahlen, die mir eher in den Augen brennen.
»Du musst mich zur Schule bringen«, fordert er.
»Was?«, raune ich überfordert von mir und setze mich auf. Ich schalte die kleine Nachttischlampe an, um ihn sehen zu können, auch wenn mir das Licht vermutlich meine Netzhaut wegbrennen wird.
Mit seinen treuen Kulleraugen sieht mich Chester abwartend an. Er hat sich wirklich schon angezogen und trägt das dunkelblaue Poloshirt seiner Schule und die dazu passende kurze Hose.
»Ich hab' auch schon gefrühstückt«, nickt er.
Erneut versuche ich einen Blick auf den Wecker. »Chester«, murmle ich fassungslos, als ich sehe, dass es gerade erst viertel vor fünf in der Früh ist.
Dennoch werfe ich die Decke zur Seite, stehe auf und sammle mir meine Klamotten vom Boden auf, die ich mir zunächst anziehe.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, will ich von ihm wissen. Als wären sie nass liegen sie glänzend und vollkommen durcheinander auf seinem Kopf.
»Ich will cool aussehen!«, erklärt er und fährt sich mit seiner Hand lässig durchs Haar.
»Das ist viel zu viel Gel, mein Schatz. Komm.« Ich gehe mit ihm ins Badezimmer, um seine Haare zunächst von all der Substanz zu befreien, zu trocknen und dann neu zu stylen.
»Ja, ist ganz okay«, murmelt er skeptisch und betrachtet sich dann im Spiegel, als ich fertig bin.
»Ganz okay?«, frage ich stirnrunzelnd. Allerdings ist es gar nicht so einfach aus seinen wilden Locken eine 'coole' Frisur zu formen, weshalb ich mich dazu entschließe, mit ihm einen Friseur aufzusuchen. Eigentlich hatten Jolene und ich das schon länger vor, weil es uns stört, wie er immer seinen Kopf schüttelt, um überhaupt etwas sehen zu können, aber Chester hat sich geweigert und fand das toll so.
Also ist es gar nicht so verkehrt, dass er jetzt doch eine neue Frisur haben möchte, denn das jetzt kann man nicht als solche bezeichnen.
Schließlich gehe ich mit ihm nach unten. Das ganze Haus ist hell beleuchtet und in der Küche erwartet mich ein heilloses Chaos.
»Ich brauche noch eine Dose«, beschwert er sich schon fast, um zu erklären, wieso sein geschmiertes Brot noch auf der Anrichte liegt. Wobei man es kaum noch als Brot erkennen kann, weil es ihm nicht so gelungen ist, die Erdnussbutter richtig zu schmieren und dabei die Scheiben auseinander gerissen hat.
Cornflakes liegen überall auf der Anrichte und dem Boden, weshalb es unter meinen Füßen knirscht und knackt, und ich erstmal meine Fußsohlen von den Krümeln befreien muss.
Auf der Anrichte ist ebenfalls Orangensaft verteilt, weil er den Kanister kaum halten konnte und das Glas nicht getroffen hat.
»Ohje«, seufze ich und kratze mir am Kopf.
»Hab' mir auch Cornflakes eingepackt«, berichtet er mir stolz und zeigt mir seine Brotdose in die er sowohl die Flakes als auch bereits Milch hinein gekippt hat.
»Oh, Ches«, raunte ich, muss aber ein wenig lachen und streiche ihm durch seine Locken, wobei er hektisch den Kopf wegzieht und mit seiner Hand die Frisur überprüft. »So kannst du das nicht mitnehmen.«
»Warum?«
»Die Flakes sind nachher nur noch purer Matsch, sofern die Milch nicht vorher in deine Tasche gelaufen ist, weil die Dose nicht für Flüssigkeiten geeignet ist«, erkläre ich ihm. »Abgesehen davon, lasse ich dich mit solch einem Essen nicht zur Schule.«
»Warum?? Ich esse das aber gerne!«, bockt er direkt rum.
Bevor ich eine Diskussion mit ihm führe, lenke ich ein wenig ein und schlage ihm vor, mit ihm gemeinsam ein Essenspaket zu packen, denn ich bin noch nicht wach genug, um mit ihm eine Diskussion darüber zu führen.
Das Erdnussbuttersandwich erlaube ich ihm, verlange aber, dass er sich auch Obst mitnimmt. Bevor wir jedoch anfangen, beseitigen wir zunächst das Chaos, das er hier hinterlassen hat. Denn ich habe keine Lust noch länger in den Krümeln zu stehen, oder das Brot in Orangensaft zu tunken.
Nachdem ich den Wasserkocher eingeschaltet habe, um mir einen Tee zu machen, hole ich zwei neue Scheiben Brot aus dem Schrank, die ich auf die Anrichte lege.
Chester krabbelt auf einen Hocker und kniet sich auf diesen. Bei der ersten Scheibe helfe ich ihm beim streichen und zeige ihn, wie er es am besten macht.
Die zweite Scheibe überlasse ich ihm dann alleine und schneide derweil den Apfel für ihn klein. Ganz behutsam führt er das Messer über das Brot. In seiner Konzentration, das Brot nicht wieder zu zerstören, lugt seine Zungenspitze zwischen seinen Lippen hindurch.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er das von dir hat«, höre ich Jolenes müde Stimme, während sie sich von hinten an mich schmiegt und ihren Kopf gegen meinen lehnt. »Wobei er tatsächlich sehr viel von dir hat«, murmelt sie.
Ich schmunzle lediglich und lasse sie gewähren, obwohl sie mich mit ihrer Nähe ein wenig in meiner Bewegung einschränkt.
Aber sie hat recht. Das ist uns schon mehrmals aufgefallen, dass Chester Eigenschaften hat, die weder Jolene noch Johnny haben; dafür aber ich.
Die Cornflakes aus der Brotdose kippe ich in eine andere Schale, damit ich dort sein Schulfrühstück hineintun kann. Zu dem Sandwich und dem geschnittenen Apfel lege ich ihm noch einen Müsliriegel dazu und ordne ihm an, alles in seinen Rucksack zu packen.
Erst dann widme ich vollkommen meiner Frau, drehe mich ihr zu und begrüße sie mit einem Kuss, ehe ich den Kaffeeautomaten für sie anschalte.
»Wie sieht dein Tag heute aus?«, will sie wissen.
»Chester zur Schule bringen und anschließend zu CaddySign«, berichte ich und trinke einen Schluck von meinem Tee. Dabei verziehe ich ein wenig das Gesicht, denn mein Gaumen erwartet einen anderen Geschmack. Ich werde mich wohl nie richtig an Tee gewöhnen, und schon gar nicht wird er mir als Wachmacher dienen.
»Lass dich aber bitte nicht unter Stress setzen und gehe den Tag ruhig an«, bittet sie mich und nimmt die Tasse entgegen, die ich ihr hinhalte.
»Ich bleibe entspannt«, verspreche ich ihr. »Obwohl mich der Terrorzwerg vor fünf aus dem Bett geworfen hat und ich keinen Kaffee trinken kann«, füge ich schmunzelnd hinzu.
Jolene erwidert es und nähert sich mir wieder. »Was denkst du? Sollen wir es weiter versuchen oder nun warten?« Sanft legt sie ihre Hand auf meinen Bauch und sieht mich ein wenig verstohlen an.
»Laut meinen Berechnungen müsste der Eisprung vorbei sein. Wir müssen jetzt also warten, ob ich meine Periode bekomme oder eben nicht«, lächle ich. Das Funkeln in ihren Augen sorgt für ein starkes Kribbeln, das mir durch den Körper schießt.
»Ich will nicht warten«, raunt sie und drückt sich gegen mich, ihre Lippen platziert sie dabei in meiner Halsbeuge.
Das bringt mich zum Lachen. Ich befreie mich ein wenig von ihr, nehme ihr Gesicht in meine Hände und ziehe sie zu mir, um mir von ihr einen innigen Kuss zu stehlen, den sie mir aber direkt bereitwillig schenkt; mich dafür sogar fester an sich zieht.
»Mom!«, unterbricht uns Chester und funkelt uns unzufrieden an. »Ich muss zur Schule! Ich komm' sonst zu spät!«, beschwert er sich und verschränkt trotzig die Arme vor der Brust.
»Schatz«, reagiere ich, »es ist halb sechs. Wir müssen erst um acht in der Schule sein. Wir haben also noch gut zwei Stunden.«
»Wollt ihr dann solange ein Baby machen?«, skeptisch zieht er eine Augenbraue nach oben und zeigt deutlich, dass ihm das gerade nicht recht wäre.
Dafür erhält er einen strengen Blick seiner Mutter, als sie sich zu ihm dreht.
»Naaaa guuut«, stöhnt er genervt und zieht seinen Comic zu sich heran. »Dann werde ich eben solange lesen. Ich muss ja viel lernen für die neue Schule«, berichtet er.
Abgesehen davon, dass ich es süß finde, wie er denkt, ein Comic würde ihn bilden, so sind wir aber doch über diese Aussage irritiert.
»Ich darf mich nicht blamieren«, fügt er erklärend hinzu, als er unsere Blicke wohl zu deuten weiß.
»Wieso denn blamieren?«, fragt Jolene mit gehobener Augenbraue.
»Grandma sagt, ich muss ganz viel lernen. Jeden Tag, damit ich mich nicht blamiere und das dümmste Kind bin.«
Schockiert weiten sich meine Augen, während Jolene ihre Augenbrauen wütend zusammenschiebt.
»Darum war es doch so langweilig bei Grandma«, berichtet er genervt stöhnend weiter. »Ich durfte nicht spielen. Nur lesen und schreiben lernen.«
Und wenn Chester schon keine Lust mehr hat zu lesen oder zu schreiben, muss es Milly wirklich übertrieben haben. Denn er zieht sich gerne mal mit einem seiner Dinosaurierbücher zurück und liest darin - auch wenn er zumeist nur die Bilder betrachtet und lediglich ein paar Wörter liest, weil er natürlich noch nicht in der Lage ist, so viel Text auf einmal zu lesen, aber trotzdem hatte er bisher immer Spaß daran gehabt.
Wenn ich Jolenes Ausdruck richtig deute, kann sich Milly nachher eine ordentliche Packung Anschiss abholen.
Dann aber beginnt sie zu grinsen, geht auf ihren Sohn zu und wuschelt ihm durchs Haar - was ihm natürlich überhaupt nicht gefällt, weshalb er lautstark protestiert.
»Du gehst auf die neue Schule, weil du bereits ein sehr schlaues Kind bist«, macht sie ihm begreiflich, küsst ihn und bewegt sich dann zur Couch; dabei zieht sie mich hinter sich her. »Lass' dir von Grandma sowas nicht einreden«, fügt sie dann noch eindringlich hinzu.
»Und jetzt will ich noch eine Runde Kuscheln, bevor wir alle das Haus verlassen.« Sie zieht mich zu sich auf die Couch und direkt in ihre Arme. Auch Chester ruft sie zu uns dazu, der sich nicht zweimal darum bitten lässt.
Sofort lassen wir ihn in unsere Mitte, während Jolene die Decke hinter sich hervor fummelt und sie über uns wirft.
Chester schmiegt sich fest an sie und ich mich an ihm, meine Hand aber sucht Jolenes Körper, an dem sie auf und ab gleitet. Sie hingegen krault mir mit der einen durchs Haar, mit der anderen Chesters Nacken.
Gemeinsam schließen wir alle nochmal unsere Augen und genießen diesen Moment, ehe wir dann in den unbeliebtesten Tag der Woche starten müssen.
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