[Dreiundfünfzig] - Estados Unidos Mexicanos

Unzufrieden stehe ich vor unserem Bett und mustere die zwei Reisekoffer, die darauf liegen. Mein Fokus liegt allerdings auf den drei Hosen, die mir Jolene heute mitgebracht hat.
Latzhosen. Sie hat mir Latzhosen gekauft!
Ich weiß, wieso sie es getan hat und es ist auch sicherlich nicht verkehrt, aber ich kann mir nicht vorstellen, mich darin wirklich wohlzufühlen.
Wieso sie mir diese mitgebracht hat und wir unsere Koffer gerade packen, liegt an Chester.
Der Gute hat vergangenes Wochenende eine Dokumentation über Cowboys in Colorado gesehen und deshalb entschieden, eines Tages - wenn er groß ist - Cowboy werden zu wollen.
Nichts konnte ihn vom Gegenteil überzeugen, er ist sich ganz sicher, damit ganz viel Geld verdienen zu können, damit er den Kindern in Afrika Süßigkeiten kaufen kann.
Der Junge hat ein genauso gutes Gedächtnis wie seine Mutter. Die vergisst auch nicht, was man irgendwann mal gesagt hat und kann es sogar noch nach Jahren wortwörtlich wiedergeben.
Nachdem er uns dann mit diesem Thema drei Tage lang in den Ohren gelegen hat, hat Jolene - eigentlich nur scherzhaft - vorgeschlagen, zu seinen Großeltern nach Mexiko zu reisen, weil die dort eine Ranch haben.
Leider hat Chester das nicht als Scherz aufgefasst, sondern als Angebot für ein voll cooles Abenteuer. So war es uns also nicht mehr möglich, ihm diese Idee aus dem Kopf zu schlagen. Deshalb rief Jolene dann Johnny an und der wiederum seine Eltern.
Aus dem ganzen Hick-Hack entwickelte sich letztlich der Plan, dass wir ja alle zu Johnnys Eltern nach Mexiko reisen, um dort gemeinsam Thanksgiving zu feiern.
Anfangs dachte ich, seinen Eltern ist nicht bewusst, wen sie da alles einladen, denn es wäre nicht nur Johnnys Familie, sondern auch unsere.
Aber auch das stellte kein Problem dar, denn Johnnys Eltern verfügen auf ihrer Ranch auch über Pensionszimmer für Saisonarbeiter und Touristen.
Als Morgan davon Wind bekam, hat sie alle Hebel in Bewegung gesetzt und Amber davon überzeugt, dieses Jahr das Thanksgiving noch einmal mit uns zu verbringen, denn da Amber die Kinder bei sich hat, wären sie eigentlich bei deren Eltern.
Also reisen wir nun mit neun Erwachsenen und sechs Kindern nach Mexiko. Genauer gesagt nach Cancún im Bundesstaat Quintana Roo.
Die Einzige, die uns nicht begleitet, ist Milly. Da sie nach wie vor nicht viel von Johnny hält und erst recht nichts von seinen Eltern, bevorzugt sie es lieber, Thanksgiving mit ihren Kirchenfrauen zu verbringen. Aber keinen von uns stört das; Jolene fragt sich lediglich, wieso sie nicht schon früher auf die Idee gekommen ist, Thanksgiving in Mexiko zu verbringen.
Jedenfalls: Deshalb stehe ich hier und mustere die Latzhosen mit großer Skepsis. Da ich keine Kleidung für ein Wochenende auf einer Ranch habe, hat mir Jolene diese gekauft. Ich weiß, sie dienen einem bestimmten Zweck, und sollen verhindern, dass ich mir meine guten Sachen schmutzig mache, oder sie kaputt gehen. Trotzdem finde ich Latzhosen nicht ... sexy. Darin sehe ich gewiss schwangerer aus, als ich eigentlich bin.

Seufzend klappe ich meinen Koffer zu, nachdem ich als letztes meinen Kulturbeutel hinein gepackt habe.
Jolene ist derweil damit beschäftigt, Chesters Koffer zu packen und muss immer wieder sämtliche Spielsachen auspacken, die er unbedingt mitnehmen will.
All ihre Versuche, ihm zu erklären, dass er diese auf einer Ranch nicht braucht, weil er ohnehin keine Zeit haben wird, damit zu spielen, scheitern an Chesters Argumentationstalent. Letztlich muss sie die Reid herauslassen, was wiederum zu einer lauten Diskussion und bockigem Verhalten von dem Fünfjährigen führt.
Und genau wegen diesem Verhalten wird Jolene dafür sorgen, dass Chester wirklich keine freie Minute hat und in keiner Weise vom harten Cowboy-Leben verschont bleibt.
Sie hat ihm den Welpenbonus aberkannt.
Erneut seufze ich und reibe mir die Augen. Wenn unser Thanksgiving-Wochenende schon mit mies gelaunten Reids beginnt, sind die Aussichten nicht gerade rosig.
Ich vertraue allerdings auf die Reid-Gene, die es nicht zulassen, allzu nachtragend zu sein - und vor allem nicht lange.

Mein Vertrauen wird belohnt, als wir am Flughafen auf Morgan und Amber treffen. In dem Moment, den Chester seinen heißgeliebten Cousin entdeckt, ist jegliche schlechte Laune verflogen.
Auch meine Eltern mit meinem Bruder, als auch Johnny mit Anhang stoßen kurz danach zu uns.
Die Stimmung ist richtig gut und alle freuen sich darauf, an diesem Feiertag mal etwas anderes zu machen.
Alle, außer Hazel; Ambers fünfzehnjährige Tochter. Diese wäre am liebsten alleine zuhause geblieben, aber das hat ihr Amber aus gutem Grund nicht erlaubt, aber bei ihrem Vater wollte Hazel auch nicht bleiben. Also reist sie gezwungenermaßen und zähneknirschend mit uns.
Eigentlich warte ich nur auf provozierende Kommentare von Morgan, weil sie es liebt, Hazel diese entgegenzuwerfen, wenn das Mädchen in ihrem pubertären Zustand ist. Aber Morgan schweigt, dennoch erkenne ich, wie sie innerlich mit sich kämpft. Ganz offensichtlich hat sie von Amber einen imaginären Knebel verpasst bekommen.

»Wohnt das Würmchen noch da drin, oder trete ich wieder in ein Fettnäpfchen, wenn ich es begrüße?«, fragt Johnny und sieht mich vorsichtig an. Obwohl wir alle wissen, dass er dieses Mal nur auf Nummer sicher gehen will, erhält er von Jessica trotzdem einen Schlag auf den Hinterkopf.
Der arme Kerl ist sichtlich verwirrt, weil er es wieder nicht richtig angestellt hat und entschuldigt sich umgehend.
»Es wohnt noch da drin und fühlt sich wohl«, antworte ich lächelnd, um ihm zu zeigen, ihm seinen kleinen, unschuldigen Fehltritt nicht übel zu nehmen. Sofort taucht ein breites Grinsen auf seinem Gesicht auf und er beugt sich nach vorne, um seine große Hand auf meinen Bauch zu legen und mit dem Kleinen da drin zu reden.
Auch mein Herz schlägt durch meine eigenen Worte schneller. Denn endlich ist die kritische Phase vorüber und ich kann mit deutlich mehr Euphorie meinem ersten eigenen Kind entgegenfiebern.
Wenn jetzt alle davon schwärmen oder darüber sinnieren, steige ich nur zu gerne ein und lasse mir wunderschöne Bilder in den Kopf zaubern.
Und jetzt erlaube ich es auch, darüber zu rätseln, wer sich bei dem Kleinen mehr durchsetzen wird. Wird es Johnnys grüne Augen haben? Seine braunen, fast schwarzen Haare? Oder doch Blond, so wie ich? Oder gar eine Mischung aus uns beiden?
Während Jolene auf meine blauen Augen hofft, hoffe ich auf ein schönes Grün, wie Chester und Jolene es tragen. In erster Linie ist mir wichtig, dass es eher Chester ähnlich sieht, damit man die direkte Verwandtschaft erkennt.
In unserem Freundeskreis werden bereits Wetten abgeschlossen, wem von uns es charakterlich am ähnlichsten sein wird. Es wird wild herum fantasiert und die verrücktesten Szenarien ausgemalt.
Mir ist das egal, hauptsache es wird nicht wie wir beide zusammen sein. Ich kann kein zweites Kind ertragen, das Jolenes Todesblick beherrscht und meine Fähigkeit alles auseinander zu Argumentieren.
Für das Kind selbst hoffe ich, es wird eher nach Jolene kommen. Diese ist in meinen Augen viel einfacher gestrickt und kann mit stressigen und unangenehmen Situation viel besser umgehen, während ich dazu neige, ein Nervenbündel zu sein. Und alleine die Eigenschaft, wegen jedem noch so kleinen Kompliment knallrot anzulaufen, wünsche ich meinem Kind erst recht nicht.

Vor etwa zwanzig Minuten ist unser Flieger gestartet. Mein Blick wandert im Passagierraum umher. Hinter Jolene, Chester und mir sitzen meine Eltern und mein Bruder. Vor uns Jessica und Johnny.
Morgan und Amber sitzen rechts von uns in der anderen Reihe.
Sobald ich Morgan ansehe, die heute wieder eine Brille trägt, hebt sich ihr Mundwinkel. Als würde sie spüren, dass ich sie ansehe.
Kurz darauf drehen sich ihre Augen frech zu mir und ihr Mundwinkel hebt sich deutlicher.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und meide den Blickkontakt zu ihr.
Stattdessen fokussiere ich mich auf Jolene. Diese sieht ungewohnt entspannt aus und spielt irgendein Spiel in ihrem Handy.
»Keine Probleme diesmal?«, frage ich leise, aber durchaus erfreut, weil ich es ihr gönnen würde, wenn sie mal einen Flug ohne Anstrengung übersteht.
»Ich konzentriere mich darauf, nicht zu kotzen«, antwortet sie dann aber trocken, ohne ihre Aufmerksamkeit von ihrem Spiel abzuwenden. Entgegen ihres Ausdrucks, ist ihre Stimme doch deutlich angespannt. Sie wahrt also nur den Schein im Beisein von Freunden und Familie.
Davon will ich sie natürlich nicht abhalten und drücke ihr einen sanften Kuss auf die Wange, ehe ich mich Chester und Kyle zu wende, die sich beide einen Sitz teilen, um aus dem Fenster zu sehen und weiß-der-Geier-was dort in den Wolken alles entdecken.

Der Flug dauert insgesamt nur zwei Stunden, aber eine weitere benötigen wir mit dem Auto bis zur Ranch von Johnnys Eltern.
Diese erwarten uns bereits und scheinen unsere Ankunft regelrecht zu zelebrieren. Der Außenbereich ist festlich geschmückt und alle, die auf dieser Ranch leben, stehen erwartungsvoll dort, um uns in Empfang zu nehmen.
Das Wiedersehen zwischen Johnny und seinen Eltern ist äußerst herzlich und seine Mutter bricht sogar in Tränen aus. Verständlich, weil sie ihren Sohn viel zu selten sieht.
Im Anschluss dreht sie sich zu mir und Jolene um. Obwohl wir uns gar nicht kennen, weiß sie, wer wir sind. Sie nimmt uns sogar herzlichst in den Arm, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen.
Es ist ein sonderbares Gefühl von einer fremden Familie so anstandslos aufgenommen zu werden; behandelt zu werden, als wäre man schon immer ein Teil davon gewesen.
Glückseligkeit durchströmt meinen Körper, und nicht mal ein vor Müdigkeit schlecht gelaunter Chester kann etwas an diesem Gefühl ändern.

Aber letztlich sind es nunmal die Kinder, die diese langanhaltende Begrüßung beenden. Sie alle sind müde vom Tag und der Reise und in keiner Weise gewillt, noch ein Weilchen auszuhalten. Ihnen ist auch egal, mit wie viel Sehnsucht hier ein Wiedersehen stattfindet. Sie wollen einfach nur schlafen.
Natürlich hat dafür jeder Verständnis, weshalb Lupita ihren Angestellten den Auftrag erteilt, uns allen unsere Zimmer zu zeigen.
Johnnys Mutter ist eine unglaublich fürsorgliche, liebenswerte und vor allem familienbewusste Frau. Ganz sicher werde ich von ihr einige Tipps, Ratschläge und Weisheiten erhalten. Und wenn sie das tut, werde ich ihr jedes Wort glauben. Immerhin ist sie Mutter von vier Söhnen und zwei Töchtern, und wenn ich nach Johnnys Erzählungen gehe, sind ihr alle sechs Kinder wunderbar gelungen.
Zwei Brüder von Johnny leben sogar noch auf dieser Ranch und arbeiten hier mit einer ausgesprochenen Selbstverständlichkeit.

Unser Zimmer ist zwar nicht groß, dafür aber liebevoll eingerichtet und vorbereitet. Chester springt sofort auf das große Doppelbett und verkündet, die erste Nacht bei uns schlafen zu wollen, falls es hier Monster gibt.
Auch, wenn es unwahrscheinlich ist, so kennen wir doch alle das berühmt berüchtigte Monster unserer Kindertage. Darum erlauben wir ihm das und nehmen ihn in unsere Mitte.

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