[Achtzehn] - Neue Schule, neuer Versuch
Der Weg zum Auto ist schweigsam.
In der einen Hand halte ich Jolenes, in der anderen Chesters Tasche, während dieser eher schlurfend hinter uns her trottet.
Ich kann ihren Ausdruck gerade nicht wirklich deuten. Auf der einen Seite wirkt er erbost, auf der anderen aber doch nachdenklich.
Als wir alle im Auto sitzen, packt sie ihr Tablet aus und tippt auf dem Display herum. Verwundert beobachte ich sie, was sie da macht und erkenne schließlich die Webseite der Privatschule.
»Was hältst du davon?«, frage ich sie.
»Ich lass' ihn entscheiden«, antwortet sie, öffnet ein Video der Schule und hält es nun Chester vor die Augen. Dieser nimmt das Tablet an sich und sieht sich das Video an.
Abwartend beobachten wir ihn und warten auf seine Reaktion.
Plötzlich fangen seine Augen an zu funkeln und sein eben noch bockiger Ausdruck verändert sich zu einem begeisterten.
»Das ist voll cool!«, kommentiert er das Video ohne seinen Blick davon abzuwenden. Dann erzählt er uns, was er da sieht und wie er es findet.
Seine Begeisterung ist so groß, dass Jolene und ich uns ansehen. Wir haben definitiv den selben Gedanken und müssen auch nicht weiter darüber reden. Das bringt nicht nur Jolene zum Schmunzeln.
Ich drehe mich zu Chester um und frage ihn, ob er auf diese Schule gehen möchte.
»Wann?«, fragt er, nachdem er eifrig genickt hat.
Jolene aber sieht ihn nur durch den Rückspiegel an, während sie den Motor startet und losfährt.
»Wollen wir nicht erst einen Termin machen?«, frage ich sie irritiert und schnalle mich schnell an.
»Sobald wir dort sind, werden wir einen Termin kriegen«, antwortet sie.
»Zweifelsfrei«, schmunzle ich und drehe mich wieder zu Chester, der immer noch voller Faszination das Video ansieht und uns daran teilhaben lässt, in dem er bestimmte Aktivitäten und den gefilmten Unterricht beschreibt.
Anscheinend war Mrs. Henson schneller als wir. Denn als wir in der Schule ankommen, werden wir bereits von einer jungen, blonden Frau in etwa unserem Alter erwartet, die sich uns als Mrs. Griffon vorstellt und uns sogleich erzählt, bereits ein Schreiben über Chester erhalten zu haben, in der auch die Dringlichkeit geschildert steht.
Diese Aussage lässt sowohl Jolene als auch mich skeptisch gucken. Denn das klingt schon so, als hätten wir einen richtigen Satansbraten als Sohn, von dem eine große Gefahr ausgeht.
»Ich bringe euch zu dem Klassenraum, in dem wir einen Platz für Chester hätten. Dann kann er sich das schon mal ansehen und wir können in der Zeit über alles reden«, schlägt sie freundlich vor und lächelt insbesondere Chester an, der offensichtlich schon jetzt ganz begeistert von dieser Frau zu sein scheint, wenn ich seinen freudigen Ausdruck und die funkelnden Augen betrachte.
Jolene und ich sind schnell vergessen, als wir das Klassenzimmer betreten und Chester sofort in der Runde aufgenommen wird. Jetzt gerade sitzen alle Kinder an einem Tisch und malen etwas. Ganz zur Freude von Chester, der sich nicht zweimal bitten lässt, ebenfalls etwas zu malen.
Zunächst führt uns Mrs. Griffon durch die Schule und über das Gelände, um uns alles zu zeigen.
Der Campus ist riesig und bietet wirklich alles mögliche. Neben dem üblichen Sportanlagen wie Football, Baseball, Athletik und Schwimmen, beinhaltet der Campus auch Labore, Tiere, eine Cafeteria und ein Theater. Die Schule bietet wirklich viele Kurse an und deckt damit gewiss alles ab, für das man sich so interessieren kann. Von Chemie und Physik, über Forschung, Technologie, Natur und Kunst ist alles vertreten.
Chester wird also einige Meilen zu Fuß abklappern müssen, um von einem Unterricht zum nächsten zu kommen.
Während uns Mrs. Griffon herumführt stellt sie Fragen über Chester, um mehr Informationen über den Jungen zu erhalten. Dabei erzählt sie auch, was in dem Schreiben über ihn geschrieben steht und möchte deshalb mehr über ihn und seinen Charakter erfahren.
Ehrlich gesagt verstehe ich das alles nicht so wirklich. Chester ist ein umgängliches und fröhliches Kind. Natürlich weiß ich, dass er sprachlich für sein junges Alter schon weit entwickelt ist, trotzdem ist er ein ganz normaler Fünfjähriger, der rumbockt, wenn er seinen Willen nicht bekommt; der viele Fragen hat und auch hin und wieder in seiner eigenen Welt lebt - wie jedes Kind.
»Normalerweise ist die Aufnahmephase vorbei«, erklärt Mrs. Griffon. »Und wir vergeben auch nur eine bestimmte Anzahl an Plätzen, die für dieses Jahr bereits ebenfalls ausgeschöpft sind. Aber das Schreiben von Mrs. Henson wirkte so dringend und verzweifelt, dass wir bereit wären, noch ein Plätzchen zu vergeben.«
Jolene überlässt das Reden ganz alleine mir, während sie einfach nur zuhört und sich derweil weiter umsieht.
Also erzähle ich der Dame etwas über Chester; wie er ist, welche Talente er hat, wie man ihn händeln muss, um keine Probleme mit ihm zu bekommen und womit man ihn begeistern kann.
»Ich gestehe es nur ungerne, aber ich hätte auf meine Mutter hören sollen«, raunt Jolene leise und unzufrieden. Sie ist von der Schule also genauso begeistert wie ich. Wobei ich diese Schule kenne, immerhin bin ich in Miami aufgewachsen. Als Kind und Jugendliche wäre ich selbst sehr gerne auf diese Schule gegangen, aber leider hatte ich nicht die finanziellen Mittel und weder mein Vater noch meine Großeltern waren gewillt, das Geld zu zahlen - wobei ich mir aber auch sicher bin, dass sie es nie hätten zahlen können, denn der jährliche Beitrag ist schon eine ordentliche Summe, die ein Durchschnittsverdiener nicht aufbringen kann.
Für Mrs. Griffon ist es bereits klar, Chester sofort aufnehmen zu wollen, aber Jolene möchte diese Entscheidung unserem Sohn überlassen - auch wenn uns vermutlich keine andere Wahl bleibt, weil Chester vermutlich von der Schule verwiesen werden würde, wenn wir nicht freiwillig wechseln.
Um seine Entscheidung zu hören, wollen wir Chester zu uns holen. Der spielt gerade auf dem Pausenhof mit all den anderen Kindern und ist in keinster Weise gewillt, mit uns zu kommen, weshalb wir ihm noch einen Moment gewähren.
Auf Nachfrage, was er davon hält, in Zukunft diese Schule zu besuchen ist er Feuer und Flamme.
»Dir muss aber klar sein, dass du dafür deine anderen Freunde verlassen musst«, weise ich ihn darauf hin.
»Das ist nicht schlimm«, zuckt er mit der Schulter. »Ich habe neue Freunde.« Dabei zeigt er auf all die anderen Kinder, mit denen er gerade spielt.
»Na gut«, lächle ich.
»Guck«, sagt er und deutet auf ein Mädchen mit asiatischem Aussehen, »das ist Linn. Vielleicht wird sie meine neue Freundin.«
»Und was ist mit Dina?«
Ahnungslos zuckt er erneut mit den Schultern. »Linn ist viel cooler!«
Erheitert lache ich, wuschel ihm durch seine Locken und bedeute ihm, dass er weiterspielen kann. So gehe ich alleine zu Mrs. Griffon und Jolene zurück, um den üblichen Papierkram zu erledigen.
Im Anschluss daran erhalten wir noch eine Liste, auf der alles steht, was wir für Chester noch besorgen müssen. Unter anderem auch eine Schuluniform, die er dann künftig tragen muss.
Dabei können wir zwischen dunkelblau, rot und weiß wählen. Ich bin mir bereits jetzt schon sicher, dass Chester alle Farben haben möchte.
Außerdem werden wir über die Philosophie der Schule aufgeklärt, obwohl das schon deutlich von deren Webseite hervorging.
Es wird sehr viel Wert auf Gleichberechtigung gelegt, weshalb sie eine Ablehnung von Religion, Hautfarbe, Geschlecht und Sexualität nicht tolerieren und den Kindern das entsprechend gelehrt und abverlangt wird, um für mehr Toleranz in der Gesellschaft zu sorgen - immerhin sind die Kinder unsere Zukunft, wer sonst könnte diese dann ändern?
»Aber ich denke nicht, dass ich mir bei Ihnen Sorgen machen muss«, kichert Mrs. Griffon und spielt auf Jolene und mich an. »Wir organisieren sogar jährlich ein 'Safe Schools' Event in Kooperation mit zwei weiteren Organisationen, die sich mit der LGBTQ Community befassen«, beginnt sie zu erzählen. »Uns geht es dabei um Akzeptanz und Toleranz. Auch unsere Schüler, oder gar deren Eltern können dort wichtige Informationen bekommen, wie sie damit umgehen können, selbstsicherer werden und sich aus den Fesseln der Gesellschaft befreien. Aber auch Schüler und Eltern, die damit wenig Berührungspunkte haben, oder gar gehemmt sind, bekommen hilfreiche Tipps. Es finden an zwei Tagen Diskussionsrunden statt, in denen Fragen gestellt werden können und beantwortet werden.« Sie schmunzelt insbesondere Jolene an und neigt ihren Kopf. »Vielleicht kann ich Sie für das nächste Event im Oktober als Sprecherin gewinnen? Sie könnten das einigen Schülern sicherlich gut vermitteln. Sie scheinen mir da sehr selbstbewusst zu sein.«
»Ich nenne das Gleichgültigkeit«, antwortet Jolene mit hochgehobener Augenbraue und verdeutlicht damit, das Angebot abzulehnen, weshalb Mrs. Griffon nun zu mir sieht.
»Und Sie?«
»Ich bin nicht uninteressiert daran, mich an schulinternen Aktivitäten zu beteiligen, aber ich möchte erst alles kennenlernen, bevor ich mich für irgendwas verpflichte«, lehne auch ich zunächst dankend ab.
»Natürlich. Ich gebe Ihnen auch Broschüren unserer Community mit. Darin finden Sie alle Veranstaltungen, die von Eltern und Kindern organisiert werden. Und Sie erhalten von uns eine E-Mail mit Zugangsdaten für unser Online-Portal. Darin finden Sie ebenfalls alle Aktivitäten, sowie den Stundenplan Ihres Kindes, Termine zu Elternbesprechungen und wichtige Versammlungen, als auch Events und eine Plattform, auf der sie sich mit anderen Eltern austauschen können.«
Sorgfältig packt Mrs. Griffon alle Broschüren, Flyer und Infozettel, sowie den Schulvertrag in eine Mappe, die sie uns nun entgegenhält.
Für den neuen Schulbeginn haben wir uns einheitlich dazu entschlossen, erst nächste Woche damit zu starten und Chester für den Rest der Woche freizustellen. So haben wir auch Zeit, alle nötigen Materialien zu organisieren, die er für die neue Schule benötigt.
Mit einem solch zügigen Wechseln haben wir nicht gerechnet, aber Mrs. Henson hat es offensichtlich wirklich eilig, Chester loszuwerden.
Auf dem Weg nach Hause hört Chester gar nicht mehr auf zu plappern. Euphorisch berichtet er, was er in den zwei Stunden, die wir da gewesen sind, alles erlebt hat und wie begeistert er davon ist. In der Zeit hat er zwei Bilder malen können und berichtet, dass das viel cooler war, als in der alten Schule.
Denn er durfte selbst entscheiden, was er malt, weshalb ihm das viel mehr Spaß gemacht hat. Eins der Bilder durfte er mit nach Hause nehmen, während das andere einen Platz an der Wand im Klassenzimmer gefunden hat.
Auch der Lehrer lobte Chesters Talent und Enthusiasmus.
Dieser enorme Kontrast der Schulen ist bereits nach dem kurzen Moment sehr deutlich, so dass wir uns einig sind, dass Mrs. Henson durchaus die richtige Entscheidung getroffen hat, wenn auch ihre Art und Weise einen faden Beigeschmack hat.
Zusätzlich bin ich aber auch erleichtert, weil Chester dann weit weg von diesem Rambo ist und somit keine Gefahr mehr besteht, dass die beiden doch nochmal aneinander geraten und es das nächste Mal vielleicht doch schlimmer ausgeht.
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