[Acht] - Zu viel an einem Tag
Während wir auf dem Gang sitzen und darauf warten, von einem Arzt aufgerufen zu werden, macht mich Chester auf jemanden Aufmerksam, der auf uns zukommt.
»Das ist Rambo«, erklärt er mir, weshalb mein Blick zu ihm und seiner Mutter schießt.
Eigentlich überrascht es mich nicht, und doch bin ich erschrocken, was für ein Fels der Junge in diesem Alter bereits ist.
Er ist um mindestens zwei Köpfe größer als Chester und von breiter, stämmiger Figur. Er ist sogar fast so groß, wie seine Mutter, die in etwa meine Größe haben dürfte - eher sogar ein paar Zentimeter kleiner. Auch sie ist von stämmiger Figur mit einem festen, fast schon trampelnden Gang. Ihre Miene grimmig verzogen, weshalb sie einen von Grund auf garstigen Eindruck erweckt.
Mein Blick geht zurück zu dem Jungen. Von gebrochener Nase ist jedenfalls nichts zu sehen, allerdings scheint aber auch Chester seine Krallen ausgefahren zu haben, wenn ich die Kratzer in Rambos Gesicht so sehe. Obwohl der Junge keine wirklichen Verletzungen zu haben scheint, zieht er ein sehr wehleidiges Gesicht. Schauspielern kann er also. Und jetzt gerade bezweifle ich wirklich stark, dass Chester wirklich auf ihm gesessen und ihn geprügelt haben soll. Chester ist ein Handtuch im Verhältnis zu Rambo. Dieser Gorilla hätte ihn ohne Probleme alleine von sich herunterwerfen können.
Ich erinnere mich, dass er noch zwei ältere Brüder haben soll. Wenn Rambo schon so aussieht und diese Größe hat, will ich gar nicht wissen, wie seine Brüder aussehen, die ebensolch zweifelhafte Namen tragen. Dabei kommt mir der Gedanke, was wohl mit Chester noch passieren wird? Denn die Brüder gehen wohl auch auf diese Schule; und Geschwister halten in solchen Fällen für gewöhnlich gerne zusammen.
Das ist definitiv ein Thema, über das ich mit Jolene reden muss. Ich habe nämlich keine Lust bald täglich in die Schule zu müssen, weil mein Sohn von diesen Kindern aus Rache malträtiert wird.
Mir ist klar, dass ich diese Familie gerade nur aufgrund ihres Erscheinungsbildes verurteile und Vorurteile ziehe, aber wenn ich mir meinen Sohn so ansehe, scheint meine Sorge nicht an den Haaren herbeigezogen zu sein.
»Wie alt ist Rambo?«, murmle ich dann Chester zu.
»Sieben.«
Sieben? Warum ist ein Siebenjähriger in der ersten Klasse, zusammen mit fünf- und sechsjährigen?
Als mich dann aber seine Mutter verbal angeht, wundert es mich ehrlich gesagt dann doch nicht mehr. Ihre Aussprache ist aggressiv und mit fäkalen Worten behaftet. Ungebildet, da selbst ihre gesprochenen Worte eine fehlerhafte Grammatik besitzen, woher also soll der Junge es besser können?
»Sie sollten ganz kleine Brötchen backen«, drohe ich ihr, als ich aufstehe, weil sie sogar Chester böse beleidigt und beschimpft, und sogar bedroht.
»Ihr reichen Schnösel glaubt auch, ihr könnt euch alles erlauben!«, faucht sie. »Ich werde euch auf so viel Schmerzensgeld verklagen, dass ihr in die Gosse müsst!«, speit sie weiter. »Wegen eurem Jungen wird mein armer Sohn den Rest seines Lebens ein Krüppel sein!«
Mit so einer Mutter, ist dein Sohn bereits den Rest seines Lebens geschädigt. Ich unterdrücke aber den Drang, meinen Gedanken laut auszusprechen.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, winke ich ab, hebe Chesters Kopf an und zeige ihr die Würgemale. »Wir werden sehen, was schwerwiegender ist.« Dann ergreife ich seine Hand und ziehe den Jungen mit mir mit, weil der Arzt uns zu sich winkt.
Die wüsten Beschimpfungen und Drohungen der Frau ignoriere ich und muss auch Chester dazu ermahnen, sich weder umzudrehen, noch darauf zu reagieren.
Selbst der Arzt hält die Verletzungen für bedenklich, ebenso, dass die Schulleitung den Jungen unter diesen Umständen da hat sitzen lassen, ohne ihn versorgen zu lassen.
Deshalb veranlasst er direkt, Chester zu röntgen und ein Ultraschall von seinem Bauch zu machen, um innere Blutungen auszuschließen.
In meinen Gedanken schicke ich dieser Mutter und der Direktorin meinen größten Hass, sollte Chester wirklich etwas haben und deswegen heute in den OP müssen.
Eigentlich würde ich nicht glauben, dass ein siebenjähriger Junge solch schlimme Verletzungen verursachen kann, aber jetzt, wo ich weiß, wie Rambo aussieht und was für ein Kraftpaket er ist, mag ich das nicht mehr anzweifeln.
Während der ganzen Untersuchung bleibe ich an Chesters Seite, der das ganz entspannt sieht und sogar große Begeisterung für all die Geräte zeigt, die um ihn herumstehen oder für seine Untersuchung angewendet werden.
Die Schwestern sind äußerst geduldig mit ihm und all seinen Fragen und Gedanken. Und mit der Frage, ob er auch eine Spritze bekommt, mit der anschließenden Enttäuschung darüber, als das fröhlich verneint wird, sind auch auch sie dann überrascht.
»Dann kriege ich ja gar kein Pflaster!«, beschwert er sich und schmollt.
Aber die Schwester lacht nur, und weiß ihn wieder gut zustimmen, in dem sie ihm ein Pflaster mit kindgerechtem Motiv seiner Wahl auf seinen Oberarm und auf seine Wange klebt, um einen Kratzer abzudecken. Natürlich hat er sich für die Dinosaurier entschieden und ist ganz glücklich. Er muss ja schließlich jedem zeigen, dass er bei einem Doktor war und ohne Pflaster geht das seiner Meinung nach nicht.
Ich bin jedenfalls mehr als erleichtert, als mir der Arzt mitteilt, dass Chester keine inneren Verletzungen davongetragen hat und es ihm ansonsten gut geht und die blauen Flecken und Blutergüsse in wenigen Tagen wieder verschwunden sein werden.
Auf dem Weg zum Auto vibriert mein Handy. Als ich es aus meiner Tasche ziehe, sehe ich drei Anrufe von Jolene und die Nachricht, die eben reinkam, in der sie nach dem Stand der Dinge fragt.
Um es kürzer zu machen, rufe ich sie zurück.
»Ihm geht es gut«, berichte ich direkt. »Auch wenn es nicht so aussieht.«
»Wo seid ihr jetzt?«
»Wir sind gleich am Auto. Ich werde noch einen kurzen Stopp im Supermarkt einlegen und dann nach Hause fahren.«
»Gut. Ich komme auch nach Hause.«
Selbstverständlich will sie sich selbst ein Bild von den Verletzungen machen, und wenn ich ihre Stimmlage richtig interpretiere, wird sie noch heute mindestens zwei Menschen die Hölle heiß machen. Und da mein Zorn auf eben diese Menschen immer noch da ist, werde ich die Reid in ihr auch nicht zurückhalten.
Im Supermarkt hat Chester seinen miesen Tag auch schon wieder vergessen. Ganz aufgeregt springt er um mich und den Einkaufswagen herum und fragt mich alle zwei Meter, ob wir dies oder das benötigen. Mein 'Nein' kommt daher schon völlig automatisiert über meine Lippen, wenn es etwas ist, das wir nicht brauchen.
Trotzdem erfreut er sich, mir beim Einkaufen zu helfen, bis wir dann an der Spielwarenabteilung vorbeikommen. Von dem Augenblick an ist seine Hilfsbereitschaft verschwunden; genauso, wie er selbst.
Einen Moment sehe ich ihm noch hinterher, um zu wissen, in welche Reihe er sich stürzt, um ihn dort wieder einsammeln zu können.
Nach solch einem Tag lasse ich ihn gewähren und schiebe den Wagen ein paar Gänge weiter, in dem sich die Produkte für das Frühstück befinden, um neue Cornflakes für Chester und Erdnussbutter für Jolene zu besorgen, sowie Toast.
Mein Blick wandert über das große Regal auf der Suche nach den Flakes, die Chester am liebsten isst. In der gigantischen Auswahl die richtige Packung zu finden ist jedes Mal aufs neue eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen; vor allem weil das Regal gefühlt alle zwei Tage anders einsortiert wird.
Und eine bunte Packung zwischen all den bunten Packungen zu finden, ist immer wieder eine Herausforderung. Am liebsten würde ich aufgeben, aber ich weiß, dass Chesters Flakes morgen früh ganz sicher leer werden und ich mich deshalb spätestens morgen vor diesem Problem wiederfinden würde.
Da der Knirps sowieso für die nächste halbe Stunde verschwunden sein wird, kann ich in aller Ruhe weitersuchen.
Dabei fällt mir eine Packung ins Auge, die mir bekannt vorkommt. Neugierig nehme ich sie und betrachte sie mir. Es sind Flakes, die ich aus meiner Kindheit kenne und erinnere mich daran, sie unglaublich gerne gegessen zu haben.
Ob sie heute immer noch so schmecken, wie damals?
Ein Versuch ist es doch wert, oder? Falls sie mir doch nicht mehr schmecken, gibt es ja immer noch Chester und Jolene. Die werden die schon leer machen. Immerhin sind sie Allesfresser und wenig wählerisch. Und falls das wider erwarten nicht deren Geschmack ist, gibt es immer noch Dennis, Jay und Johnny. Mindestens einer von ihnen schiebt sich das Zeug rein.
Mit dieser Erkenntnis, wage ich es und lege die Packung in den Wagen dazu.
Danach widme ich mich wieder der Suche nach Chesters Flakes.
Gerade, als ich sie gefunden habe und sie aus dem Regal ziehe, sehe ich im Augenwinkel, wie sich jemand neben mich stellt.
»Hi, Cait«, werde ich auch sofort begrüßt und hebe meinen Blick.
Ich erstarre, als ich ihm in die Augen sehe und bin im ersten Moment damit überfordert. Denn ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, weil ich mit dieser Begegnung nicht gerechnet habe.
Generell habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, wenn ich wieder vor ihm stehen würde. Tatsächlich hatte ich ihn komplett aus meinem Gedächtnis verbannt gehabt, und auch das Leben, das wir geteilt haben, war in der hintersten Ecke meiner Erinnerung versteckt.
Seine grau-blauen Augen und dieses Lächeln sorgen für gemischte Gefühle bei mir.
Auf der einen Seite totale Abneigung und der Drang ganz schnell zu flüchten, auf der anderen das Wissen, dass wir auch einmal schöne Zeiten miteinander hatten. Irgendwann ... am Anfang. Auch wenn ich mich auf Anhieb an keinen einzigen schönen Moment erinnern kann. Aber ich weiß, es gab sie.
Hinzu kommt meine natürliche Art, stets höflich zu sein. Und es wäre alles andere als höflich jetzt einfach zu flüchten, ohne ein Wort zu sagen.
Dennoch widerstrebt es mir, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen. Wenn ich wüsste, es würde nur bei einem 'Hi' bleiben, wäre das kein Problem. Aber ich kenne ihn und weiß jetzt schon, dass ich so schnell hier nicht wegkommen werde.
Alleine sein Gesicht zu sehen, raubt mir spürbar die Energie.
»Hi, Martin.«
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