Kapitel 6 - Mein erster Kuss

Die nächsten Tage waren die glücklichsten, die Sherlock seit einer langen Zeit durchlebt hatte. Ja, er hatte noch immer Schmerzen, doch John war beinahe den ganzen Tag bei ihm. Oft saß er einfach nur neben ihm, doch Sherlock war es so am liebsten. So wusste er ihn wenigstens in Sicherheit. John hatte, nachdem er mit Sherlock über den Autounfall gesprochen hatte, Lestrade angerufen. Der Fahrer des Autos wurde mithilfe Sherlocks Beschreibungen schnell gefasst und hinter Gittern gebracht.

Dann, einige Tage später, wurde Sherlock aus dem Krankenhaus entlassen. Er selbst war sehr glücklich darüber. Er freute sich ein wenig darauf, wieder in 221B Baker Street zu wohnen. Auch, wenn seine gebrochenen Rippen noch lange nicht vollständig verheilt waren. John holte ihn dann schließlich ab und sie fuhren gemeinsam in einem Taxi nach Hause.

Als Sherlock die schwarze Tür mit den goldenen Lettern 221B öffnete, wurde er sofort von einer aufgewühlten Mrs Hudson begrüßt.

"Sherlock! Endlich sind Sie wieder da!", rief die Vermieterin und umarmte ihn feste. Sherlock stieß ein schmerzvolles "Uff" aus und sofort löste sich Mrs Hudson.

"Tut mir leid, nur Sie haben wirklich jeden in Angst und Schrecken versetzt! Das dürfen Sie nicht noch einmal machen, ja?", sagte Mrs Huson gleichzeitig wütend und erleichtert. Sherlock lächelte leicht. Dann trat Mrs Hudson weg und ging wieder in ihr Zimmer. Sherlock stieg die Treppe hoch, Stufe für Stufe. John stützte ihn vorsichtig, bis sie oben angekommen waren.

Als Sherlock das Wohnzimmer betrat, seufzte er kurz. Gute alte Baker Street. Er stellte den Schädel wieder auf den Kaminsims zurück, dann setzte er sich in seinen Sessel und atmete einmal tief durch. John legte seine Jacke ab und setzte sich auf den Sessel gegenüber.

"Sherlock?", fragte er. Sherlock sah ihn nicht direkt an, sondern eher auf Johns Brust. Er hatte Angst vor dem bevorstehenden Gespräch.

"Ja, John?", fragte er. Er wusste genau, was John jetzt fragen würde. Und er hatte keine Ahnung, was er antworten sollte.

John musterte ihn ganz genau. "Wie siehst du das mit uns?" Sherlock sah ihm in die Augen. Er sah darin Neugier und Offenheit. Als er nicht antwortete, fragte John: "Ich meine, siehst du uns als Paar oder-"

"Nein", sagte Sherlock sofort. Johns Lächeln verschwand und Enttäuschung breitete sich in seinem Gesicht aus.

"Aber warum nicht?", fragte er leise. Sherlock sah ihn an.

"Wieso sollten wir ein Paar sein?", fragte er scharf. John sah ihn erschrocken an.

"Weil du mich liebst und ich dich auch liebe", antwortete er mit zitternder Stimme. Sherlock schüttelte den Kopf.

"Nein, tust du nicht."

"Was?", fragte John verwirrt.

"Du liebst mich nicht. Du hast mich vermisst, ich bin dein bester Freund, Menschen vermissen ihre besten Freunde. Ich lag im Sterben, Menschen denken sich alles mögliche aus, wenn Sie einen Freund nicht verlieren wollen. Es ist genau wie vor vier Wochen. Wenn ich einmal erwähne, dass ich dich liebe, dann denkt ein kleiner Teil von dir automatisch, dass du diese Gefühle erwidern könntest. Und irgendwann redest du dir das so lange ein, bis du es tatsächlich glaubst. Du liebst mich nicht. Du redest dir es vielleicht ein, aber du tust es nicht", sagte Sherlock und sah auf den Boden.

John starrte auf Sherlock, das pure Entsetzen im Gesicht geschrieben. "Wieso bist du dir so sicher, dass ich dich nicht lieben könnte?", fragte er leise. "Liebst du mich?"

"Natürlich liebe ich dich. Das ist ja wohl mehr als offensichtlich. Aber du kannst mich nicht lieben. Weil ich ein Mann bin. Und wäre ich das nicht, man kann sich nicht mal gerade so in einen verlieben. So funktioniert Liebe nicht", sagte Sherlock grob.

John lachte kurz auf und nickte. "Aha. Also du willst mir jetzt etwas über Liebe erzählen?", sagte er aufgebracht. "Du warst sehr wahrscheinlich noch nie mit irgendjemandem zusammen, habe ich Recht?"

Sherlock starrte ihn lange an. Johns Worte taten ihm weh, doch er wollte nicht locker lassen. Er musste ihm beibringen, dass er einen schrecklichen Fehler begang.
"Nein, ich war noch nie in einer Beziehung romantischer Art", antwortete er.

John nickte. "Ganz genau. Wieso solltest du dann wissen, was Liebe ist?"

Sherlock sah ihn mit offenem Mund an. "Wenigstens gehe ich nicht mit jedem dahingelaufenem Mädchen aus!", konterte er wütend.

John starrte ihn jetzt ebenfalls empört an. "Wenigstens habe ich ein Date. Hast du jemals irgendwen geküsst?"

Sherlock schüttelte den Kopf. "Nicht mehr als einen Handkuss." Johns Augen zeigten kurz einen Anflug von Überraschung, dann kehrte wieder der ernste Blick zurück.

"Also. Da siehst du es."

"Ganz genau. Du hast gerade bewiesen, dass wir beide nicht zusammen sein können", sagte Sherlock laut und er stand auf. Johns Blick wandelte sich in pure Überraschung. Dann ließ er den Kopf hängen und stand ebenfalls auf.

"Nein, das habe ich nicht."

"Doch."

"Ich habe gesagt, dass wenn hier sich jemand seiner Gefühle sicher sein sollte, dann ich", sagte John. Sherlock starrte ihn weiterhin wütend an.

"Dann bist du ein absoluter Dummkopf."

"Warum?", fragte John verständnislos.

"Weil du dich nicht in mich verlieben darfst!", rief Sherlock laut.

"Tja, zu spät!", rief John zurück. "Versuch gerne, es rückgängig zu machen, es wird nicht funktionieren! Ich liebe dich, Sherlock Fucking Holmes!"

"Hör auf! Du kannst mich nicht lieben!"

"Wieso?"

"Sieh mich an! Ich bin ein kranker Soziopath mit Leichenteilen im Kühlschrank! Ich gehe zu Tatorten und löse Verbrechen, weil mich das glücklich macht! Ich bin ein Freak!", schrie Sherlock. Ob Mrs Hudson sie beide unten hören würde?

John lachte erneut auf. "Achso. Also darf ich aufgrund deiner Minderwertigkeitskomplexe nicht mehr mit dir reden oder was?"

"Das sind keine-", begann Sherlock.

"Was hält dich dann davon ab, wenn du dir deiner Gefühle doch so sicher bist?", keifte John.

"Weil ich sonst derjenige bin, der neben dem Krankenhausbett sitzt und endlos darauf wartet, dass du wieder aufwachst! Verstehst du nicht? Solange du bei mir bist, solange wir beide unsere Liebe zueinander zeigen würden, bist du in Gefahr!", brüllte Sherlock so laut, dass John zusammenzuckte. Dieser starrte ihn erschrocken an. Sherlock ließ den Kopf hängen.

"Der Bombengürtel im Schwimmbad, der Einbrecher bei der Frau, der Attentäter in dem silbernen Auto,..." Sherlock starrte auf den Boden.
"Das alles ist passiert, nur, weil du mit mir befreundet bist. Was glaubst du, wird passieren, wenn du mich liebst?"

John starrte Sherlock lange an, mit großem Schrecken und Angst in den Augen. Sherlock sah ihm ins Gesicht. Johns Augen glitzerten. Überrascht bemerkte Sherlock, dass auch seine eigenen Augen tränten. Er schüttelte den Kopf.

"Ich kann nicht mit dir zusammen sein. Das kann ich dir nicht antun."

John beobachtete Sherlock. Diesem wurde etwas mulmig. Würde John ihn wieder anschreien? Oder würde er einfach weggehen?

Dann ging John langsam ein paar Schritte auf Sherlock zu. Dieser hielt kurz die Luft an. Als John beide Arme hob, machte sich Sherlock auf einen Schlag gefasst. Doch der blieb aus. Anstelle eines Schlages klammerten sich sanft zwei Arme um ihn.

John umarmte ihn. Ganz vorsichtig. Sherlock schloss die Augen. Sein Herz pochte sehr schnell.

"Sherlock?", fragte John leise, ohne die Umarmung zu lösen.

"Ja?", antwortete Sherlock.

"Du hast noch nie jemanden richtig geküsst, oder?", fragte John und sah Sherlock an

Dieser erstarrte bei dieser Frage. "Nicht richtig. Ich habe dich auf die Hand geküsst. Oh, und Molly Hooper auf die Wange. Aber das war eher eine Entschuldigung."

John griff nach Sherlocks Hand. "Würdest du mir deinen ersten Kuss schenken?", fragte er. Sein Blick war so voller Sehnsucht, dass das einzige, was Sherlock tun konnte, nicken war.

"Wenn du das willst", murmelte er, während er sein Gesicht zu dem Johns hinüberbeugte, bis sie nur noch Millimeter entfernt waren. Dann überwindete Sherlock den letzten Abstand und ihren Lippen berührten sich.

Es war wie ein Feuersturm. Sherlock hatte davon gehört, wie es sei, zu küssen, aber er hatte sich nicht träumen lassen, dass es sich so gut anfühlte. Johns Hand wanderte von Sherlocks Hand zu dessen Locken und begann, durch das schwarze Haar zu fahren. Sherlock küsste John noch einmal und noch einmal und strich dabei mit seiner Hand über Johns Hüfte. John musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um groß genug für Sherlock zu sein, aber es schien ihm offenbar auch zu gefallen.

Dann löste sich Sherlock von ihm und sah ihn an. Pupillen erweitert. Er griff an Johns Hand. Johns Puls raste wie verrückt. John lächelte ihn an. Sherlock warf ihm einen ängstlichen Blick zu.

"War das...okay? Ich meine, du hast wahrscheinlich viel öfter jemanden geküsst als ich, aber... für den Anfang?", fragte er zögernd.

John grinste. "Du bist ein sehr guter Küsser", antwortete er. Sherlocks Wangen färbten sich sofort ein wenig rosa.

"Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird", gab er zu. "Du darfst nicht-"

"Sherlock, jetzt hör mal zu", sagte John und legte seine Hand an Sherlocks Wange. "Ich will bei dir sein. Und ich merke an deinen Küssen, dass du das auch willst. Und ja, Moriarty wird weiterhin versuchen, uns zu trennen, aber wenn wir uns gegenseitig wegstoßen, wird das für ihn noch viel einfacher. Ich schätze es, dass du Angst um mich hast, aber wir werden gegen ihn mehr tun können, wenn wir gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Du musst nicht immer alles alleine machen."

"Aber John-"

John hielt ihm den Zeigefinger vor die Lippen und Sherlock verstummte sofort.

"Liebst du mich, Sherlock?"

Sherlock starrte auf John, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

"Ja", hauchte er. John lächelte.

"Ich dich auch. Und deshalb werden wir Moriarty in seinen Ar-"

"Ist ja gut, ist ja gut!", grinste Sherlock und legte seinen Arm um Johns Hüfte.
"Du meinst das ernst, oder?"

John nickte. Sherlock zog die Augenbrauen hoch.

"Das kann ja heiter werden."

"Versuch gar nicht erst, es mir auszureden."

"Werde ich nicht. Könnte ich nicht."

"Ganz genau", grinste John. Sherlock umarmte ihn ein zweites Mal. Diesmal war er tatsächlich erleichtert. Es war nicht so, als hätte John sich den besten Plan gegen Moriarty ausgedacht, doch er hatte ihm mit seinen Worten Mut gemacht. Irgendwie würden sie es schaffen, gegen dieses Monster zu kämpfen. Und sie würden gewinnen.

John löste die Umarmung und drückte seine Lippen sanft auf die Sherlocks. Dieser erwiderte den Kuss nur allzu gerne. Als sie sich voneinander trennten, atmete Sherlock auf.

"Besser als Zigaretten", hauchte er in Johns Ohr. "Sei vorsichtig, John. Du bist vielleicht meine neue Droge."

Plötzlich merkte er, dass Johns Knie versagten und er sich kurz auf Sherlocks Schultern stützen musste. Sherlock fing ihn mit einem kurzen Ruck auf.

"Sind... sind gerade deine Knie weich geworden?", fragte er mit einem ungläubigen Lachen.

Johns Wangen färbten sich sofort dunkelrot. "Halt die Klappe", murmelte er. Sherlock grinste.

"Keine Sorge, Liebling", flüsterte er. Johns Wangen wurden noch röter und er sah nach unten. Dann drehte er sich abrupt um und ging in die Küche.

"Hey!", rief Sherlock ihm hinterher. "Wieso gehst du jetzt weg?"

"Ich werde uns beiden Tee machen. Du wirst dich jetzt hinsetzten und dich ausruhen. Du bist noch immer verletzt. Außerdem wird es keine Fälle für den Rest der Woche mehr geben", sagte John mit einer taldelnden Stimme.

"Aber es ist Montag!", protestierte Sherlock. "Wie soll ich das aushalten?"

Aus der Küche hörte er John kichern.
Er setzte sich auf das Sofa und legte seine Hände an die Lippen. Er musste nachdenken.

John. John musste in Sicherheit sein. Vor Moriarty. Was wollte Moriarty erreichen? Chaos, Macht, Schmerz. Doch hauptsächlich wollte er mit Sherlock spielen, wie er es immer sagte. Doch er hatte auch angedroht, Sherlocks Herz herauszubrennen. Das würde dann John betreffen. Doch es musste doch eine Möglichkeit geben, Moriarty herauszulocken und dann zu...

Was dann? Zu töten? Er wäre es wert. Eine Kugel zwischen die Augen, damit dieses Geschöpf endlich aufhörte, zu Atmen. Doch Sherlock wusste, dass Motiarty noch nie wirklich den Tod gefürchtet hatte. Er war offenbar auch dazu bereit gewesen, selbst zu sterben, damit John und er ebenfalls dem Tode gewidmet waren. Das hieß, selbst wenn Moriarty tot wäre, wenn der Mensch tot wäre, würde es nicht unbedingt bedeuten, dass sich das Netzwerk ebenfalls auflösen würde.

Sherlock öffnete die Augen. Vor ihm stand eine Tasse mit dampfendem Tee. Als Sherlock danach greifen wollte, stoppte ihn etwas. Als er aufschaute, erschrak er fast zu Tode, als er sah, dass John neben ihm saß und sich vorsichtig an ihn gekuschelt hatte.

"Gedankenpalast?", fragte John lächelnd. Sherlock nickte und seufzte einmal laut.

"Wieso muss das alles so schwierig sein?", flüsterte er mit hängendem Kopf. John legte seinen Kopf auf Sherlocks Schulter.

"Ich weiß es nicht. Aber wir werden es schaffen. Verlass dich darauf."

Hoffnung. Das war alles, was ihnen blieb. Doch für Sherlock war es genug. Fürs erste.

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