Kapitel 5 - Der Tod?

Nichts.

Leere.

Sherlock schlug die Augen auf. Er lag in einem weißen Raum. Nein, ein Raum hatte Wände. Doch dieser Ort hatte kein Ende. Wo er auch hinsah, er sah keinen Ausweg. Als er an sich heruntersah, klappte ihm der Mund auf. Er war komplett in weiß gekleidet. Niemand war hier. Zumindest glaubte Sherlock das, bis er eine Stimme hinter sich vernahm.

"Verwirrend, nicht wahr?"

Sherlock drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Mycroft, in einem weißen Anzug.

"Mycroft? Was machst du hier? Und wo sind wir?"

Mycroft lächelte leicht. Dann trat er einen Schritt nach vorne.
"Ich bin nicht der echte Mycroft. Der Mycroft ist in seinem Haus in London", sagte er vorsichtig.

Sherlock sah ihn verwundert an. "Aber... wo sind wir dann? Ist das hier ein Traum?", fragte er.

"Ja und nein. Das alles hier findet in deinem Kopf statt. Doch es hat Auswirkungen auf dein reales Ich."
Als Sherlock ihn noch verwirrter anstarrte, fragte Mycroft: "Ab was kannst du dich erinnern?"

Sherlock überlegte scharf. "Ich habe John vor dem Auto gerettet, dann ist alles schwarz gewesen. Augenblick", sagte Sherlock langsam. "Bin... bin ich tot?"

Die Frage machte ihm selbst Angst. Er hatte sich noch nie damit beschäftigt, was mit ihm passieren würde, wenn er sterben würde. Er hatte meistens einfach angenommen, dass es einfach aus wäre. Schluss. Finité. Aber was tat er dann hier? Er war offenbar noch nicht tot.

Mycroft schüttelte den Kopf. "Nein, du bist nicht tot. Noch nicht."

"Was heißt das?", fragte Sherlock.

"Dass das, wofür du dich gleich entscheiden wirst, dich entweder in den Tod oder zurück in das Leben schicken wird", sagte Mycroft. Sherlock schluckte. Ein Test also. Was für eine Art von Test? Ein Rätsel? Oder ein Kampf?

Mycroft ging an ihm vorbei. Als Sherlock sich umdrehte, erstarrte er. Hinter ihm, etwa 50 Meter von Sherlock entfernt, standen zwei Türen, eine dunkel, eine hell. Diese Türen führten nirgendwo hin, zumindest sah Sherlock keinen Raum dahinter.

"Diese Türen bestimmen dein Schicksal", sagte Mycroft. "Die helle Tür wird dich in das Leben zurückführen, die dunkle wird bedeuten, dass du sterben wirst. Wähle weise."

"Wähle weise?", wiederholte Sherlock ungläubig. "Ich werde mich natürlich für das Leben entscheiden! Was passt hier nicht ins Bild?"

"Wie bitte?"

"Jeder würde sich für das Leben entscheiden. Wieso wird mir die Wahl für den Tod gelassen?", fragte Sherlock mit festem Blick auf Mycroft. Der schüttelte den Kopf.

"Wähle weise", sagte er einfach nochmal. Sherlock starrte ihn zuerst weiter an. Dann drehte er sich um und ging auf die helle Tür zu.

"Ah, Sherlock, Sie haben sich also entschieden?", fragte eine Stimme von hinten. Sherlock erstarrte sofort im Schritt.
"Nun, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Normale Menschen machen so etwas andauernd. Langweilig!"

Sherlock drehte seinen Kopf zur Seite. Hinter ihm stand James Moriarty. Sherlocks Erzfeind. Er hatte so viel Grausamkeit, Tod und Schmerzen verbreitet. Besonders hatte er John gefangen genommen. Er wäre beinahe gestorben, hätte Moriarty damals nicht einen Anruf bekommen, und sich gegen den Tod von Sherlock, John und ihm entschieden hatte.

"Sie", sagte Sherlock mit zitternder Stimme.

"Ich", sagte Moriarty grinsend.

"Was machen Sie hier?"

"Nichts wichtiges. Ich bringe Sie nur dazu, freiwillig zu sterben", antwortete Moriarty mit einem breiten Lächeln.

Sherlock schüttelte den Kopf. "Sie werden keinen Erfolg haben. Ich muss wieder zurück", sagte er.

"Ach ja?", rief Moriarty laut. "Warum?"

"Weil...", begann Sherlock, brach aber danach ab. Ja. Warum eigentlich? "Weil ich noch einige Dinge zu erledigen habe", sagte er.

"Oh, wirklich? Nennen Sie mir eines. Nur zu, ich bin nur in ihrem Kopf, der echte Moriarty wird nichts davon erfahren!"

Sherlock stockte. "Ich muss wegen John zurück", antwortete er laut.

Moriarty lachte laut auf. Es war ein kaltes Lachen, Sherlock hasste es wie die Pest. Wie konnte jemand nur so grässlich lachen? Außerdem brachte dieses Lachen nur Schmerz und Tod.

"Sie glauben wirklich, dass John Sie braucht? Wie... wie egoistisch sind Sie bitte? Dem armen Jungen noch mehr zuzumuten! Ich stelle mir vor, wie das für ihn ausgesehen haben muss: sein bester Freund verliebt sich in ihn. Er mag noch nicht einmal Männer. Warum versuchen Sie es überhaupt?", lachte Moriarty. Für ihn war das offenbar sehr amüsant. Doch Sherlock starrte auf die helle Tür. Es war nicht möglich, oder? Hatte Moriarty Recht? Alles, was in diesen Worten war, konnte er nicht abstreiten. Wie denn auch? Er hatte all das selbst immer gedacht. Hatte er es wirklich so nötig, zu leben?

"Sie... liegen falsch", krächzte Sherlock. Moriarty kicherte.

"Dann sagen Sie mir ihr Gegenargument, Consulting - Detectiv! Legen Sie los! Ich bin ganz Ohr!", antwortete er.

Sherlock sah auf den Boden. Noch nie war er so unsicher gewesen. Er hatte oft geglaubt, dass man ihn brauchen würde, doch jetzt, wo Moriarty es sagte, wurde er von Selbstzweifel geradezu überschüttet. Außerdem... John. Wäre er nicht vielleicht sogar besser dran, ohne ihn? Er könnte ein normales Leben führen. Ohne ihn.

Sherlock drehte sich um, zu Moriarty.
"Aber... ich muss Sie aufhalten." Moriarty grinste nur.

"Denken Sie mal nach, Sherlock! Warum mache ich denn all das? All den wundervollen Schmerz verbreiten, wieso mache ich das?"

Als Sherlock nicht antwortete, rannte Moriarty auf ihn zu und warf ihn auf den Boden.
"DAMIT ICH MIT IHNEN SPIELEN KANN", schrie er mit lauter Stimme. Sherlock, auf dem Rücken liegend, starrte ihn entsetzt an.

"Aber... ich", fing er an, doch wurde unterbrochen, als Moriarty ihn feste trat. Sherlock presste die Lippen aufeinander, um nicht zu zeigen, dass der Tritt tatsächlich wehgetan hatte.

Nein. Das konnte nicht sein. Er war wirklich ein nutzloser Niemand, ohne den es so viele Leute besser hatten.

"Kommen Sie schon, Sherlock, sterben Sie einfach. Es tut nicht weh. Machen Sie schon. Wählen Sie die Tür zum Tod", rief Moriarty mit ausgebreiteten Armen. "Jeder wird Sie vergessen. Mrs Hudson wird es tun. Scotland Yard wird wahrscheinlich sogar erleichtert sein, nicht immer diesen Psychopathen um sich herum zu haben. Und John..." er kicherte. "Der wird wahrscheinlich total verwirrt sein. Der beste Freund entpuppt sich als schwuler Liebhaber und wirft sich ein paar Wochen später vor ein Auto, um ihn zu retten. Sie haben mal gesagt, dass Sie das Dramatische mögen. Und hier sind Sie. Armer John. Er wird ganz alleine sein. Und Schuldgefühle haben, du meine Güte! Er wird wieder zu humpeln anfangen, oder?", flüsterte Moriarty, während er im Kreis um Sherlock herumlief.

"Nun dann. Sie wissen, welche Tür Sie nehmen müssen. Na los!"

Zitternd stand Sherlock langsam auf, und drehte sich zu der dunklen Tür. Der Tod. Wie würde er sein?

"Sherlock?", fragte eine dritte Stimme plötzlich. Sherlock, der schon die Hand zu dem Türgriff ausgestreckt hatte, zog sie augenblick zurück und drehte sich wieder um.

"John?", fragte er mit leiser Stimme. Hinter ihm, neben Moriarty und Mycroft, stand John. In weiß gekleidet, wie Mycroft. Sherlock starrte ihn an.

"Sherlock?", fragte John noch einmal, während er ihn ansah.

Sherlocks Atmung setzte für einen Moment aus. Johns Blick sah gleichzeitig verletzt und vorwurfsvoll aus. Plötzlich streckte John seine Hand aus. Dann war er verschwunden.

"John!"

John war weg. Doch dank seinem Erscheinen und wieder Verschwinden wusste Sherlock plötzlich, was er zu tun hatte. Abrupt drehte er sich um und ging auf die helle Tür zu.

"Nein!", rief Moriarty empört. "Sie wollten sterben, warum wollen Sie jetzt plötzlich leben?"

"Einfach", antwortete Sherlock. "Wenn ich jetzt die andere Tür wähle, wäre ich tot. Das ist der einfache Weg. Doch den nimmt man nicht. Den nimmt man nie. John würde nicht wollen, dass ich so leicht aufgebe. Ob er mich liebt oder nicht ist mir egal, solange ich bei ihm sein kann. Ich muss ihn beschützen. Und wenn ich mich jetzt für den Tod entscheiden würde, wäre das wohl das egoistischste, was ich John antun könnte. Ich werde für ihn kämpfen. Zu sterben würde mir alle Chancen nehmen, für ihn da zu sein."

Sherlock, plötzlich mit sehr viel Energie gefüllt, ging auf die helle Tür zu und öffnete sie.

"Sie sollten aufpassen, was sie da gerade tun, Sherlock", rief Moriarty warnend. Sherlock drehte noch einmal kurz den Kopf, dann lächelte er.

"Ich weiß immer, was ich tue. Einen schönen Tag noch!", sagte er und ging durch die Tür.

Danke, John.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Piep.

Piep.

Verdammtes Piepen. Es erinnerte John die ganze Zeit daran, dass Sherlock nicht tot, doch auch nicht bei ihm war. Er lag einfach nur hier, im Krankenhausbett. Die Augen geschlossen.

Sherlock hatte ihn weggeschubst. Er war auf ihn zugerannt und hatte ihn weggeschubst. John war nach hinten gefallen. Für einen Moment war er verwirrt gewesen. Dann war da der Knall. Sherlock war von einem silbernen Auto angefahren worden.

Sherlock hatte ihn weggeschubst, um John zu retten. Er hatte nicht einmal gezögert. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Und jetzt lag er hier.

Sherlock hatte John in den letzten Wochen bereits zwei Mal das Leben gerettet. John starrte auf den Körper des Mannes, den er liebte. Sein Anblick war das Traurigste, was er jemals gesehen hatte. Es schmerzte in seinem Herzen, ihn so zu sehen. So still. So... hilflos.

Aber John würde nicht weggehen. Er würde ihn nicht verlassen. John würde lieber sterben, als Sherlock so allein zu lassen.

John schaute kurz aus dem Fenster. Es war dunkel. Schon wieder. Es waren bereits einige Tage vergangen, seitdem Sherlock ihn vor dem Auto gerettet hatte. Und John hatte jede Minute bei Sherlock verbracht. Mrs Hudson hatte sie mehrmals besucht und ihm etwas zu essen mitgebracht. John war der alten Vermieterin wirklich dankbar. Als kleine Aufmerksamkeit hatte sie ebenfalls keine Blumen, sondern den Schädel von dem Kamin und das Englandkissen aus der Baker Street mitgebracht.

John griff nach Sherlocks Hand. Sie war so still. Sherlock hatte schöne Hände. Sie hatten oft viel zu tun, sie waren flink und geschickt. Sie konnten einer Deduktion eine stärkere Wirkung verleihen, einem Dieb einen Knüppel wegreißen und einer Violine die schönsten Töne entlocken.

John strich sanft mit dem Daumen über den Handrücken.

"Sherlock?", fragte er leise. Seine eigene Stimme klang ungewollt vorwurfsvoll. Als würde er ihn verantwortlich machen, dass er hier lag.

"Sherlock?"

Natürlich antwortete Sherlock nicht. Wie denn auch? Er konnte ihn wahrscheinlich noch nicht einmal hören!

John seufzte einmal laut und blinzelte eine neue Welle von Tränen weg. Es war bereits schrecklich gewesen, dass Sherlock generell nicht bei ihm war. Doch jetzt, dass er auf diese Weise bei ihm war, körperlich ja, doch ohne seine Worte, ohne irgendetwas zu tun, war die absolute Hölle. Gleichzeitig bei ihm und nicht bei ihm zu sein.

John unterdrückte ein Gähnen. Wie viel Uhr war es überhaupt? Er hatte kaum geschlafen. Er konnte es auch nicht wirklich. Wenn er die Augen schloss, sah er Sherlock mit festem Blick, während er auf ihn zurannte. Er hatte ihm das Leben gerettet. Schon wieder. John hatte es ernsthaft bezweifelt, als Sherlock ihm seine Liebe gebeichtet hatte. Doch sein eigenes Leben für die Person aufzugeben, die man liebte, war wahrscheinlich das wertvollste, was man schenken konnte.

Wieder kamen diese verdammten Tränen. Soldat. Er war ein Soldat. Gewesen. Doch er würde wirklich alles geben, damit Sherlock jetzt aufwachte.

Nicht. Weinen. Keine Tränen. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Alles schien dunkel und lustlos.

Bis plötzlich etwas geschah. Etwas, was John zusammenfahren ließ.

Sherlocks Hand bewegte sich. Nicht nur das, sie griff sogar nach der von John. Der starrte nur erschrocken auf das Geschehen. Dann wanderte sein Blick zu Sherlocks Gesicht. Sherlocks Augen waren noch immer geschlossen, doch sie waren feste zusammengekniffen. Langsam öffneten sie sich. John hielt für einen Augenblick die Luft an.

Sherlock blinzelte ein paar Mal. Verwirrung stand ihm im Gesicht geschrieben. Seine Blick wanderte an der Decke entlang, über dem noch immer piependen Gerät, und blieb dann an John hängen. Zuerst blieb die Verwirrung und John bekam Angst. Wusste Sherlock etwa nicht mehr, wer er war?

"J...J...", begann Sherlock. "Jo...John..." Johns Herz schlug augenblicklich schneller.

"Sherlock", flüsterte er, mit neuen Tränen in den Augen. Sherlock sah ihn lange an. Dann hob er langsam die Hand und strich die Träne mit dem Daumen weg.

"Nicht...weinen", flüsterte er. Das brachte John nur noch weiter zum schluchzen. Sanft griff er nach Sherlocks Hand.

"Du hast... wenig geschlafen", sagte Sherlock langsam. "Du hast geweint." John nickte, ohne etwas zu sagen. "Bitte...weine...nicht", flüsterte Sherlock.

John zwang sich zu einem leichten Lächeln.

"So ist es...besser", wisperte Sherlock mit einem Lächeln. John schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er fühlte sich so gut wie noch nie.
Dann stand er langsam auf.

"Geh...nicht...bitte", murmelte Sherlock.

"Ich gehe nicht weg. Ich will nur der Krankenpflegerin Bescheid geben, dass sie kommen soll", sagte John vorsichtig. Dann drückte er auf einen Knopf, von dem er wusste, dass er eine Krankenpflegerin benachrichtigen würde. Danach setzte er sich wieder auf den Stuhl vor Sherlocks Bett.

"Wie fühlst du dich?", fragte John. Sherlock hob eine Augenbraue.

"Nun... es könnte besser sein", sagte er mit einem leichten Grinsen. John legte seine Hand auf die Sherlocks. Sherlocks Augen wanderten auf ihre beiden Hände, dann warfen sie einen fragenden Blick auf John. Der lächelte einfach gequält.

"Ich hatte Angst, du würdest sterben", flüsterte er. "Ich dachte, du würdest mich alleine lassen." Sherlock sah ihn weiterhin an.

"Ich...musste dich doch...beschützen ", krächzte er. John senkte den Kopf. "Wieso...warst du...überhaupt da?", fragte Sherlock leise.

"Ich wollte dich suchen. Ich brauchte dich", antwortete John.

"Wofür?", flüsterte Sherlock. John starrte ihn an. Sherlock sah ihn so fragend an. Sofort wurde ihm etwas mulmig.

"Wofür könntet du mich brauchen?", fragte Sherlock. John zögerte etwas, dann hob er Sherlocks Hand sachte hoch und küsste sie. Sherlock starrte ihn überrascht an. "Du...?"

John nickte. Wieder rollte eine Träne seine Wange herunter. Wieder strich Sherlock sie weg.

"Nicht...weinen", wiederholte er. John sah ihn an. Sherlock lächelte zwar, aber John wusste, dass ihm seine Verletzungen zu schaffen machten. Er legte seine Hand an Sherlocks Kopf und begann, diese dunklen Locken zu streichen. Sherlock schloss die Augen.

"Geht es dir gut?", fragte er, ohne die Augen zu öffnen. John starrte ihn an. Sherlock lag hier im Krankenhaus, seit ein paar Tagen bereits, weil er von einem Auto angefahren worden war. Und er fragte John, wie es ihm ging?!

"Mir geht es gut, danke. Jetzt schon." Sherlock lächelte leicht, dann legte er seinen Kopf wieder in das Kissen.

"Gut", flüsterte er.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top