Kapitel 3 - Beschützer
John wachte am nächsten Morgen früh auf. Eigentlich hatte er fast gar nicht geschlafen. Irgendetwas hielt ihn die ganze Nacht wach. Und es waren nicht die Kriegs - Albträume, wie früher. Immer, wenn er die Augen schloss, sah er Sherlock vor sich, mit Trauer in den Augen, als er Johns Hand geküsst hatte. John verstand einfach nicht, warum. Es war doch ein Experiment gewesen, oder nicht? Mit dem Gedanken war er zumindest ins Bett gegangen. Wenn auch mit einem kleinen Bisschen Enttäuschung. Sherlocks Auftritt hatte tatsächlich real gewirkt. Nein, was? Enttäuschung, dass Sherlock ihn garantiert nicht liebte?
John schüttelte den Kopf. Das war doch unmöglich. Schnell machte er sich im Kopf einen kleinen Plan, was er jetzt machen wollte. Er würde nach unten gehen, Sherlock am Küchentisch vorfinden, ihn wahrscheinlich anschreien, dass man nicht mit Liebe scherzt, dann würde er duschen und selbst frühstücken. Das für den Anfang des Tages.
John richtete sich auf, gähnte kurz und streckte sich. Dann stand er auf und ging aus seinem Zimmer, die Treppe herunter, in die Küche.
Kein Sherlock.
Überrascht sah sich John um, um wirklich sicher zu sein. Nein, er war tatsächlich weder in der Küche noch in dem Wohnzimmer. Alles war so, wie er es vorgefunden hatte. John ging schnell in Sherlocks Schlafzimmer, für den Fall, dass Sherlock noch am Schlafen war, doch nein, hier war er auch nicht. Vielleicht schon bei einem Fall? Aber doch nicht ohne ihn?
Oder... war es möglich? Hatte Sherlock alles tatsächlich ernst gemeint, was er gestern gesagt hatte? Es war kein Experiment gewesen?
John sah sich um.
"Sherlock? Bist du hier? Wenn du hier bist, bitte antworte mir!", rief er laut. Keine Antwort. Nichts regte sich in der Wohnung. Alles war leer. Genauso, wie als Sherlock gegangen war. Aber hieß das, dass Sherlock ihn tatsächlich für immer verlassen hatte?
Der plötzliche Gedanke ließ John zusammenzucken. Das war nicht möglich. Sherlock konnte nicht einfach weg sein! Er war Johns einziger, wenn auch verrückter und oft wirklich egoistischer, Freund! Natürlich war er manchmal etwas grob, doch er war auch witzig und unglaublich klug. Sherlock durfte nicht einfach weg sein.
Außerdem konnte es doch nicht möglich sein, dass Sherlock alles hinwarf, nur weil er John gesagt hatte, dass er ihn liebte. Gut, John wusste, dass das ein schwieriger Schritt war, anderen zu sagen, dass man Gefühle für einen hatte, doch es konnte doch nicht sein, dass Sherlock wirklich 221 B Baker Street aufgegeben hatte. Das war seine Wohnung! Auf dem Küchentisch standen noch Experimente, der Schädel auf dem Kaminsims sah laut Sherlock glücklich aus, und John war sich sicher, würde er den Kühlschrank öffnen, würde er wieder einen Kopf vorfinden. Ohne Körper.
John schüttelte seinen Kopf. Sherlock würde garantiert nicht sein Leben aufgeben, nur, weil er eine Liebeserklärung ausgeplaudert hatte. Andererseits... Sherlock zeigte sehr selten Gefühle. Und so etwas großes wie Liebe hatte er wahrscheinlich niemals gefühlt.
Was John jedoch am meisten zu Schaffen machte, war, dass Sherlock nicht irgendwen, sondern ihn liebte. Es war nicht schlimm, dass Sherlock schwul war, John hatte sich schon im Geheimen vorher gefragt, ob das vielleicht so sei. Aber wieso ihn? John war ein ganz normaler Mann, Sherlock war ein brillantes Genie, welches ohne zu zögern Fakten über einen ausplaudern konnte. Was hatte John Sherlock jemals gegeben, dass er irgendeine Art von Zuneigung verdiene? Sherlock hatte ihm die Gefahr geboten, zu der sich John schon so oft hingezogen gefühlt hatte, Sherlock hatte ihm mehrmals das Leben gerettet und Sherlock verstand ihn oft besser als irgendwer sonst. John hatte, so weit er sich erinnerte, immer nur die Nebenrolle gespielt. Er schrieb einen Blog über sie beide und sie teilten sich eine Wohnung. Manchmal ging er einkaufen. Mehr tat John doch gar nicht. Warum, oder besser wie hatte er es dann geschafft, dass Sherlock ihn liebte?
Wo war Sherlock jetzt eigentlich? In seinem Obdachlosen- Netzwerk? Oder vielleicht bei Molly?
John wurde plötzlich etwas wütend. Wie konnte Sherlock ihn einfach so alleine lassen? Ohne ein Wort zu sagen, was aus ihm werden würde! Jetzt hatte John absolut keine Ahnung, wo er war. Sherlock könnte irgendetwas passiert sein, John würde es nicht wissen. Doch John wusste eines: Sherlock musste so schnell wie möglich wiederkommen. Liebe hin oder her, ihn hier alleine zu lassen war einfach nur egoistisch. Und dann noch dieser Hand-Kuss. Hätte das wirklich sein müssen?
"Sherlock?", rief er noch einmal, diesmal wütend. "Sherlock, wenn du nicht bald nach Hause kommst, dann..." Ja. Was dann? Dann würde John wahrscheinlich zusammenbrechen. Sherlock war noch nicht einmal 24 Stunden weg und John vermisste ihn bereits. Und er war gleichzeitig wütend auf ihn. Er hätte nicht gleich wegrennen müssen, er hätte einfach mit John reden können. Aber dann hätte John ihm auch gesagt, dass er ihn nicht liebte. Das war doch die Wahrheit, oder? Er war nicht schwul, höchstens bisexuell, er war noch nie mit irgendeinem Mann zusammen gewesen. Natürlich hatte er nichts gegen den "Regenbogen", seine Schwester war immerhin auch mit einer Frau zusammengewesen, auch, wenn Clara und Harry jetzt getrennt waren. Aber er selbst war nicht schwul. Da war er sich sicher. Auch wenn er Sherlock vermisste.
John begann, Frühstück vorzubereiten. Er stellte Brot und Aufschnitt auf den Tisch, dann zwei Teller. Er erstarrte. Sollte er den zweiten Teller wirklich stehen lassen? Er hoffte wirklich sehr, dass Sherlock wieder zurückkommen würde. Und zwar so bald wie möglich.
Was sollte er denn ohne ihn machen?
Zur Sicherheit ließ er den Teller stehen. Dann setzte er sich hin und schmierte sich ein Brot. Es war ungewohnt, nicht mit Sherlock zu reden. Auch war es ungewohnt, nicht in seine Augen zu blicken.
Sherlock hatte schöne Augen. John konnte es nicht abstreiten. Sherlocks Aussehen war insgesamt sehr attraktiv. Er hatte hübsche, schwarze Locken, hohe Wangenknochen und er hatte wunderschöne Lippen.
Was?! John holte seinen letzten Gedanken zurück. Sherlock hatte wunderschöne Lippen. Das hatte er gedacht? Zugegeben, diese Lippen waren wirklich etwas besonderes. Sie waren voll und groß und sie sahen so zart aus, als würden sie nur darauf warten, geküsst zu werden.
Sherlock war hübsch. Und klug. Und witzig. Und er war etwas besonderes.
John starrte auf sein Brot. War er gerade wirklich dabei, gute Dinge an Sherlock aufzuzählen? Doch die wirkliche Frage war die:
War er dabei, sich in Sherlock zu verlieben?
John könnte sich keinen schlechteren Zeitpunkt vorstellen. "Sherlock ist weg", erinnerte er sein Herz.
"Weil er dich auch liebt", antwortete sein Herz einfach.
Nein, Schluss damit. Er war nicht verliebt. Er war nicht schwul.
Er vermisste seinen besten Freund einfach.
Er vermisste einfach nur Sherlocks Aussehen, seinen Witz, seine Worte, seine Arroganz, seine Intelligenz und seine Existenz.
"Verdammt", murmelte John.
Hatte er es wirklich geschafft, sich in einer Nacht in seinen besten Freund Sherlock Homles zu verlieben?
Nein, es war nicht nur seit dieser Nacht. Er konnte wohl kaum leugnen, dass er eifersüchtig auf Irene Adler war. Die Frau. Sherlocks Angebetete, so hatte er damals gedacht. Er hätte sie dafür zusammenschlagen können, dass sie mit Sherlock geflirtet hatte. Auch wenn sie tot war, diese Frau war so herzlos und gemein, dass John sie gerne ein zweites Mal umbringen würde.
Außerdem musste er zugeben, dass er jede seiner Freundinnen für ihn versetzte und es absolut gar nicht bereute.
Schön, vielleicht war er verliebt, aber Sherlock war nicht hier. Also müsste er ihn finden. Wo würde Sherlock hingehen, wenn er verzweifelt war? Zu Molly? Oder vielleicht zu Lestrade? Vielleicht auch zu Mike Stammford. Vielleicht sollte John auch einfach Mycroft fragen, doch er hatte keine Ahnung, wo er wohnte. Das bedeutete, dass er einfach die Möglichkeiten einzeln abklappern müsste, bis er Sherlock fand. Einen bescheuerteren Plan gab es nicht. Doch welche andere Möglichkeit hatte er?
John aß schnell sein Brot, dann räumte er seinen Teller ab und ging in sein Zimmer. Dort zog er sich an, ohne genau darauf zu achten, was er sich anzog. Es gab keine Zeit zu verlieren. Er schlüpfte in ein Paar Schuhe und zog sich seine Jacke an. Dann rannte er die Treppen herunter und aus der Wohnung.
Es war relativ kühl draußen. Es waren nicht viele Leute auf der Straße, sogar ungewöhnlich wenige. Wohin zuerst? Zum Obdachlosen - Netzwerk oder zu Scotland Yard? John entschied sich für letzteres. Sherlock würde wahrscheinlich nicht den ganzen Tag irgendwo herumsitzen. Die Fälle waren sehr wichtig für ihn. John ging los, die Baker Street entlang. Fast niemand sonst war hier. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei.
Jetzt sah John ein zwei Männer, die an dem Straßenrand standen und in seine Richtung starrten. John drehte kurz seinen Kopf, um sicherzugehen, dass die wirklich ihn ansahen. Die Männer gingen langsam auf ihn zu. Sie waren groß und ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen hatten sie nichts Gutes im Sinn. Erschrocken stellte John fest, dass einer von ihnen einen Knüppel bei sich trug. Automatisch drehte er sich um, nur um zu sehen, dass ein dritter Mann etwa 10 Meter hinter ihm stand, ebenfalls mit einem Knüppel bewaffnet.
Er war in der Falle.
"Na, was haben wir denn hier?", sagte der Mann hinter ihm mit einem gehässigen Grinsen.
John ließ die Schultern hängen. "Jungs, ich habe kein Geld oder so etwas", sagte er mit erhobenen Händen. Der Mann lachte laut.
"Das sagen sie alle, nicht wahr?" Die anderen Männer lachten zustimmend. Der erste Mann, offenbar war er der Anführer der Truppe, begann, John in eine dunkle Gasse zu schubsen.
"Dann wollen wir doch mal sehen, was sich bei diesem hier finden lässt", sagte ein anderer Mann.
"Taschen ausleeren!", befahl der Anführer. Als John zögerte, schrie er: "SOFORT!"
John zitterte leicht, als er ein paar Dinge aus seiner Jackentasche zog. Ein paar Zitronenbonbons, die er oft dabei hatte und immer wieder gerne eins lutschte, eine Packung Zigaretten, die er einmal Sherlock abgenommen hatte, und sein Portmonee. Der Anführer grinste.
"Lügner müssen bestraft werden. Her mit dem Portmo-" Weiter kam er nicht, denn sein Satz wurde von einem dumpfen Schlaggeräusch abgebrochen. Im nächsten Augenblick heulte einer der Männer, der in der dunklen Ecke stand, auf, und sank zu Boden. Der Anführer starrte überrascht auf die Ecke, an der der Mann zuerst gestanden hatte.
"Wer ist da?", fragte er. "Zeig dich!"
"Kommt doch her, wenn ihr euch traut", sagte eine Stimme aus der Ecke. John horchte auf. Diese Stimme! Aber das war unmöglich!
Der Anführer nickte dem zweiten Mann zu und dieser ging mit erhobenem Knüppel auf die Ecke zu. Es war sehr dunkel dort, John sah, dass der Mann große Schwierigkeiten hatte, irgendetwas zu erkennen und einfach auf die Luft zuschlug. Dann griff etwas seine Hand und nahm ihm den Knüppel ab. Ein paar Hiebe und der Mann lag bewusstlos auf dem Boden. John hielt die Luft an.
"Es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie greifen mich jetzt ebenfalls an, und Sie sehen an ihren Freunden, was das bringen würde, oder Sie lassen diesen Mann für immer in Ruhe und lassen sich nicht mehr in der Baker Street blicken", sagte die Stimme aus der Ecke. "Was wählen Sie?"
Der Anführer starrte auf die dunkle Ecke. Zögernd blickte er von seinem Knüppel auf John. Dann grinste er und packte John am Kragen. "Ich wähle meine eigene Möglichkeit", grinste er. "Sie lassen mich in Ruhe, sonst werde ich dem hier ein paar blaue Flecken verpassen."
Das hätte er lieber nicht machen sollen. Kaum eine halbe Sekunde später stand eine Person vor ihm, in einem langen, schwarzen Mantel und einem blauen Schal, und schaffte es, mit flinken Handgriffen, ihn zu entwaffnen. Dann verpasste er dem Anführer ein paar kräftige Schläge auf den Rücken. Der Anführer heulte auf vor Schmerz.
"Ich wiederhole: Sie werden diesen Mann in Ruhe lassen und nie wieder durch die Baker Street gehen. Wenn Sie irgendetwas anderes im Sinn haben, will ich ihnen mitteilen: Ich kenne Londons Geheimgänge und Geheimnisse wie meine Westentasche, glauben Sie also nicht, dass ich Sie nicht finden könnte." Der Anführer nickte schnell.
"Ist ja gut, ist ja gut, ich werde Sie beide in Ruhe lassen. Versprochen." Dann raffte er sich auf und rannte zu seinen Freunden. "Schnell, gehen wir hier weg." Stöhnend humpelten die drei Männer weg. Johns Körper entspannte sich, während er ihnen hinterher sah.
"Danke, Sherlock", sagte er, nachdem er seinen Kopf wieder gedreht hatte. Doch Sherlock war verschwunden. "Sherlock? Sherlock!"
Keine Spur von ihm. Hatte er sich etwa in Luft aufgelöst? Oder hatte John sich all das eingebildet?
Plötzlich landete ein kleines lederartiges Etwas vor John. Als er es aufhob, sah er, dass es sein Portmonee war, welches ihm der Anführer eben abgenommen hatte. Er schaute nach oben. Dort oben, auf einem Dach sah er Sherlock, der ihn anstarrte. Sherlock konnte sehr schnell klettern, fiel John ein. Trauer und Hoffnungslosigkeit schimmerten in seinen Augen.
"Sherlock, ich-", begann John. Sherlock schüttelte den Kopf, dann drehte er sich um und verschwand. "Sherlock, nein! Komm zurück! Bitte!", rief John laut. Nichts passierte. "Lass mich nicht allein", flüsterte John traurig.
Er hatte es verdorben. Johns Chance, Sherlock wieder zu sich zu holen und Sherlock war weg. Schon wieder. Wütend über sich selbst verließ John die Gasse.
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