Kapitel 2 - Großer Bruder
John starrte weiterhin auf die Wohnzimmertür, aus der Sherlock geflüchtet war, ohne sich zu bewegen. Dann begriff er erst, was gerade vor sich gegangen war. Schnell rannte er nach zu dem Treppenabsatz, nur um zu sehen, dass die Sherlock die Wohnung verlassen hatte.
"Sherlock?", rief er laut, was natürlich volkommen nutzlos war. Sherlock war aus dem Haus und konnte ihn nicht hören. John rannte zu der Tür.
"Sherlock!", rief er nochmal. Keine Antwort. Eine Weile blieb er noch draußen stehen, dann ging er wieder rein.
Das war doch verrückt. Absolut lächerlich. Sherlock liebte ihn? Das konnte nur ein schlechter Witz sein. Es war absolut unmöglich.
Doch was war es dann, was Sherlock ihm gerade gebeichtet hatte?
Es musste ein Experiment gewesen sein, nichts weiter. Eine einfache Studie. "Wie kriege ich den dummen Dr Watson dazu, zu glauben, dass ich ihn lieben würde?" Ja, das passte zu Sherlock.
Doch diese Trauer und Hoffnungslosigkeit, die John in Sherlocks Augen gesehen hatte, konnte er kaum vergessen.
Nein, das war nicht wahr. All das war nur ein einfacher Trick. Sherlock war eben ein verdammt guter Schauspieler. Er hatte John damit schon oft reingelegt. Wieso also nicht jetzt auch? Die Tatsache, dass Sherlock Johns Hand geküsst hatte, machte es ja wohl kaum besser. Hatten Sherlock Küsse jemals etwas bedeutet?
Außerdem hatte er ja das Wesentliche übersehen: Sherlock liebte nicht. Weder Molly noch Irene Adler noch John. Sherlock konnte nicht Lieben, er hatte, soweit sich John erinnerte, die Liebe selbst als Halluzination gehalten, als einen chemischen Defekt des menschlichen Körpers. Liebe existierte nicht in dem Herzen dieses Mannes. Falls er überhaupt ein Herz hatte.
Wahrscheinlich würde Sherlock gleich nach Hause kommen, mit einem großen Lächeln auf dem Gesicht, und ihm vorhalten, wie dumm er doch gewesen war. Was waren noch einmal die Zeichen, die zeigten, dass man in jemanden verliebt war? Erhöhter Puls, erweiterte Pupil...
Verdammt. Jetzt, wo John darüber nachdachte, waren Sherlocks Pupillen tatsächlich etwas groß gewesen, oder? Zumindest größer als sonst. Oder bildete er sich das nur ein?
Nein, zum letzten Mal! Sherlock liebte ihn nicht. Es war einfach nicht möglich.
John schüttelte den Kopf und rief laut:
"Gut gemacht, Sherlock! Du hättest mich fast glauben lassen, dass du das ernst meinen würdest. Aber ich kenne dich. Du kannst mich nicht lieben."
Mit dem Satz schnappte er sich seinen Laptop und ging in sein Zimmer.
Sherlock Holmes liebt John Watson. Na klar.
Sherlock rannte weiter. Immer weiter, bis die Baker Street weit zurück lag. Er war jetzt in einer Straße, wo kaum etwas los war. Dort setzte er sich an eine Mauer, wo ihn zuerst niemand sehen konnte. Dann presste er seine Faust vor den Mund.
Er hatte alles verloren. In nicht einmal einer halben Stunde. Alles. Sein Herz schrie danach, wieder zurückzugehen, doch Sherlock dachte nicht einmal im Traum daran.
Er konnte nicht zurück. Wie würde dann bitte das Leben aussehen? John, der ihn die ganze Zeit ignorieren würde, vielleicht würde er es ja auch Scotland Yard erzählen, was noch schlimmer sein würde. Das würde bedeuten, dass Sally Donovan und Phillip Anderson wissen würden, dass er schwul war.
Sherlock hatte sich nie dafür geschämt, sich zu Männern hingezogen zu fühlen. Es war ganz normal, zu lieben, wen man wollte. Doch er wusste genauso, dass viele Menschen über Homosexualität anders dachten. Auch wenn er es nicht verstand. Was war bitte so falsch daran, wenn zwei Männer oder zwei Frauen sich küssten?
Und John war ja etwas seltsam, was dieses Thema anging. Er hatte eine lesbische Schwester, die trank und zu der er keinen Kontakt mehr hatte. Aber er nutzte beinahe jede Gelegenheit, um laut zu verkünden, dass er nicht schwul sei. War das denn wirklich so schlimm? Männer zu mögen, anstatt Frauen? Nein, John mochte Frauen. Vielleicht war er ja bisexuell. Aber John war noch nie mit einem Mann zusammen gewesen.
Außerdem mochte John Sherlock noch nicht einmal wirklich. Laut ihm und seinem Blog war Sherlock in der Beziehung zwischen ihnen nur ein schräger Mitbewohner, bei dem ein Schädel auf dem Kaminsims und Leichenteile in dem Kühlschrank lagen. Außerdem ein herzloses Arschloch, ein Freak, und ein Genie.
Was das Thema anging, hatte John wohl auch nicht mit Wörtern gespart. Er hatte Sherlocks Intelligenz viel mehr Größe zugeschrieben, als Sherlock lieb war. Es war wirklich das erste Mal, das irgendwer Sherlocks Intelligenz so etwas wie Glanz verliehen hatte. Davor hatte immer jeder gedacht, das alles wäre ein seltsamer Zaubertrick, und ihn einen Freak genannt.
Sherlock sah sich um. Ihm war gar nicht bewusst, wo er hin gerannt war.
Er stand genau 23 Meter von dem Anwesen seines großen Bruders Mycroft entfernt. Dämliches interaktives Gedächtnis. Es hatte ihn ausgerechnet hierhin geführt?
Sherlock stand auf und ging aus das weiße Haus seines Bruders zu. Er wollte zwar nicht hier sein, doch er war tausend mal lieber hier als bei John. Er hob den Arm und klingelte einmal. Um diese Uhrzeit müsste Mycroft schon hier sein.
Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür und Mycroft stand vor ihm. Er musterte Sherlock.
"Was ist passiert?", fragte er forschend.
"Ich brauche eine Wohnung für einen kleinen Zeitraum. Kannst du mir dabei weiterhelfen?", fragte Sherlock, ohne Mycroft anzusehen.
"Was ist mit 221B Baker Street?", fragte Mycroft verwundert.
"Da kann ich gerade nicht hin." Mycroft nickte einmal, dann machte er eine kurze Bewegung in die Wohnung.
"Komm herein", sagte er. Sherlock folgte Mycroft durch die Eingangshalle in das riesige Wohnzimmer. Alles hatte entweder die Farbe silber oder weiß, Mycroft mochte diese Farben am liebsten. Mycroft setzte sich an einen breiten Schreibtisch, auf denen ein paar Akten lagen, die er zur Seite legte, Sherlock setzte sich vor ihn.
"Also", begann Mycroft mit einem vielsagendem Blick. "Was ist mit John passiert?"
Sherlock sah ihn verwirrt an. "Ich habe nie etwas von John gesagt. Wieso glaubst du, ich will seinetwegen in eine andere Wohnung?", fragte er.
"Du kamst früher normalerweise nur zu mir, wenn etwas wichtiges oder schlimmes passiert ist. Als du dich dann mit John befreundet hast, hast du ihn damit eher beehrt als mich. Da du doch jetzt ganz plötzlich eine andere Wohnung haben willst, muss es etwas mit John zu tun haben", sagte Mycroft, ohne ihn anzublicken. Sherlock nickte nur kurz, aber antwortete nicht.
Mycroft seufzte einmal lange. "Sherlock, ich habe es dir schon oft gesagt: Werde nicht in irgendetwas verwickelt. Du darfst nicht auf etwas wie Freundschaft oder Liebe hoffen. Wenn du es tust, dann wirst du nur enttäuscht." Sherlock starrte ihn wütend an.
"Ich habe mich nicht in irgendetwas verwickelt. Und was weißt du schon davon? Du warst noch nie in deinem Leben verliebt, oder? Hast du jemals Liebe gespürt?", keifte er. Mycroft seufzte.
"Ist etwas deprimierend diese Frage von seinem Bruder gestellt zu bekommen", sagte er. "Ich kann dir eine Wohnung besorgen, wenn du willst, sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Aber du solltest wissen, deine Probleme werden sich nicht in Luft auflösen, wenn du sie vor dir wegschiebst. Du musst dich ihnen stellen."
Sherlock rollte mit den Augen. Doch er wusste, dass Mycroft Recht hatte. Irgendwann würde er wahrscheinlich mit John reden müssen. Aber wenn, dann erst nach langer Zeit. Vielleicht hätte John ihn danach vergessen.
"Danke für die Hilfe, Mycroft", sagte er zu seinem Bruder. Der nickte einfach nur.
"Ich rufe dich nachher an, wenn ich eine Wohnung gefunden habe. Bis dahin..." er setzte eine ernste Miene auf, "...lass dich in nichts verwickeln." Sherlock ignorierte den letzten Satz und stand auf.
"Auf Wiedersehen, Bruder." Mycroft lächelte leicht und wandte sich wieder den Akten zu. Als Sherlock sich gerade umdrehte, rief ihn Mycroft noch einmal zurück.
"Ach, Sherlock, du könntest das hier vielleicht gebrauchen", sagte er und warf Sherlock etwas zu. Dieser fing es auf und betrachtete es misstrauisch.
"Was ist das?", fragte er.
"So weißt du genau, wo er ist." Sherlock senkte ein wenig ertappt den Kopf.
"Auf Wiedersehen", sagte er noch einmal, und verließ das Anwesen so schnell es ging.
Mycroft hatte ihm irgendeine elektronische Karte auf einem Smartphone-ähnlichen Gerät gegeben, doch mit einem roten Punkt auf 221B Baker Street. War wohl ein Peilsender - Orter. Wieso hatte John einen Peilsender bei sich?
Doch das war nicht das, was ihn am meisten beunruhigte. Es war schrecklich, dass Mycroft ihn durchschaute. Woran erkannte er, dass er für John Gefühle hatte?
Vor allem waren Gefühle gegenüber John so seltsam. Ja, er liebte ihn, aber es hatte keinen besonderen Grund. Oder doch. Sherlock konnte ohne mit der Wimper zu zucken 103 Gründe aufzählen, was er an John mochte. Obwohl Gründe Nr. 29-67 sich hauptsächlich mit Johns Aussehen beschäftigten. Sherlock fand, dass John sehr attraktiver Mann war. Besonders das Gesicht. Wunderschöne Lippen. Blaugraue Augen, in denen auch ein Leichter Schimmer braun zu sehen waren.
Dann war da noch Johns Persönlichkeit. Seine Art, wie er mit anderen Menschen umging. Er war immer so nett. Auch oft zu Sherlock. Oft verstand dieser nicht, warum. Sherlock wusste, dass er selbst ein komplizierter Mann war. Doch manchmal war es einfach wirklich schwierig, nicht zu rauchen. Oder zu anderen nett zu sein, die so langsam waren. Doch John mochte er wirklich gerne. John konnte gleichzeitig so temperamentvoll wie ein Löwe sein, wie in seinem früheren Soldatenleben, und er konnte genauso so freundlich wie ein zahmes Rotkehlchen sein. Außerdem war er witzig und nicht ganz so dumm wie viele andere.
Sherlock konnte sich nicht an einen Moment in seinem Leben erinnern, als er diesen Mann noch nicht geliebt hatte. Doch genauso gab es keinen Moment, an dem er nicht wusste, dass sie nicht zusammen sein konnten. Sherlock hatte Feinde, darunter ein Consulting Criminal, der John schon einmal gefangen genommen hatte, und John war damals dem Tod um eine Haaresbreite entronnen. Und selbst wenn es Moriarty nicht gäbe, dann wäre da noch das große Problem, dass John ihn nicht liebte.
Dieser Blick, als Sherlock die Fassung verloren und alles gesagt hatte, was er eigentlich in seinem Herzen verschlossen lassen wollte. Pures Entsetzen und pure Panik. Und dann, als Sherlock noch tausend mal dümmer als sonst gewesen war und seine Hand geküsst hatte. Was hätte er sonst noch falsch machen können?
Es war ein Abschiedskuss gewesen.
Sherlock fasste sich an die Lippen, dort wo sie Johns sanfte Haut berührt hatten. Für viele war ein Kuss auf die Hand ein Zeichen des Respekts, doch Sherlock hatte noch nie zuvor einen Menschen auf irgendeine Weise geküsst. Und es war falsch gewesen. Sherlock war zwar ein sehr rationaler Mensch, doch war er auch der Überzeugung, dass sein erster Kuss etwas besonderes sein sollte und dass sich beide von ganzem Herzen liebten. Er würde auch lieber als Jungfrau sterben, als sich für irgendeinen dahergelaufenen Jemand gleich hinzugeben, wie es heutzutage viele taten. Ja, Sherlock war Jungfrau. Doch es war doch nichts Schlimmes, oder? Gut, zugegeben, als Irene Adler ihn darauf hingewiesen hatte, war er schon etwas peinlich berührt gewesen. Aber diese Frau verstand das auch nicht. Sie war eine Domina, sie zog sich aus, um einen Eindruck zu hinterlassen. Sherlock war stolz darauf, dass er klug war.
Denn er war ja nicht gerade hübsch.
Bleiche Haut, hässliche Wangenknochen und verwuselte, kohlrabenschwarze Haare. Außerdem war er sehr dünn und hatte kaum große Muskeln oder so etwas. Nicht gerade das, was man unter einem Model verstehen würde. Hätte ihm irgendwer gesagt, dass er ihn attraktiv fände, hätte er ihn nur ausgelacht.
Sherlock ging an der Straße entlang, absolut uninteressiert, wo er tatsächlich hin lief. Mycroft hatte etwas von einer halben Stunde gesagt, also würde er wahrscheinlich so lange irgendwo herumlaufen, bis er ihn anrief.
Tief in seinem Inneren hatte Sherlock Mycroft wirklich sehr lieb, auch wenn er es von außen nie zeigen, geschweige denn sagen würde. Aber er war sein älterer Bruder, der bei ihm geblieben war, als es Sherlock schlecht ging. Außerdem war Mycroft klug. Vielleicht, er würde lieber sterben als es zuzugeben, aber vielleicht bewunderte Sherlock Mycroft ein wenig.
Sherlock ging weiter die Straßen entlang, bis sein Handy plötzlich klingelte.
"Sherlock?"
"Ja, Mycroft?"
"Ich hätte da etwas für dich. Etwa drei Straßen von Baker Street entfernt, das heißt, du könntest noch immer ein Auge auf John haben und gleichzeitig wärst du nicht weit von Scottland Yard entfernt."
Wie Mycroft es schaffte, Sherlocks Gefühle zu verstehen, ohne dass Sherlock sie auch nur erwähnt hatte, war verblüffend.
Ich danke dir, großer Bruder.
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