Kapitel 19 - Klettern

John gähnte einmal laut und erhob sich. Dann stolperte er kurz. Seine Beine waren eingeschlafen. Sherlock, der ebenfalls aufgestanden war, griff ihm sachte um den Bauch herum.

"Ganz ruhig", sagte er. "Du hast gerade erst deine Erinnerungen zurück erlangt." John, als er wieder festen Halt gefunden hatte, lächelte nur.

"Ich muss mich noch bei dir bedanken", sagte er und griff nach Sherlocks Hand. Sherlock sah ihn verwundert an.

"Bedanken?", fragte er. "Wofür?"

"Hm, wo fang ich da an?", überlegte John. "Du bist bei mir geblieben, auch als ich meine Erinnerung verloren habe. Du hast dich hauptsächlich darum gekümmert, dass ich glücklich war, du hättest dafür sogar dein eigenes Leben oder deine Gefühle völlig ignoriert. Außerdem wäre ich, hätte ich das Kuchenstück ganz aufgegessen, gestorben. Aber das habe ich nicht, weil ich von dir zum Tanz gebeten wurde. Das heißt, streng genommen hat mir Tanzen mit dir das Leben gerettet." Sherlock sah ihn lange an und blinzelte ein paar Mal.

"Gern geschehen", sagte er zögernd. John starrte ihn lange an, dann brach er in lautes Gelächter aus. Sherlock starrte ihn erschrocken an. "Falsch?"

John schüttelte den Kopf. "Nein. Absolut richtig." Er zog Sherlock zu sich heran und presste seine Lippen auf die des Lockenkopfes. Sherlock lächelte glücklich. Dann plötzlich verschwand das Lächeln und der traurige Ausdruck kehrte zurück.

"Du warst nicht dazu bestimmt, vergiftet zu werden", sagte er. John starrte ihn verblüfft an.

"Wie meinst du das?", fragte er.

"Ich esse Blaubeerkuchen gerne, musst du wissen", antwortete Sherlock. "Unser Nachbar muss das gewusst haben. Vielleicht ist es einer von meiner Vergangenheit. Vielleicht sogar jemand aus Serbien, einer der Leute, die mich ausgepeitscht haben." Bei diesen Worten fasste John fast schon automatisch an Sherlocks Brust. Wenn es einer der Peitscher war, würde John ihn wahrscheinlich ordentlich einen Schlag verpassen. In sein Gesicht.
"Du hättest den Kuchen gar nicht essen sollen. Es war gedacht, damit ich sterbe. Oder dich komplett verliere", flüsterte Sherlock. John musterte ihn.

"Keine Sorge", flüsterte er. "Morgen werden wir ihn besuchen. Mal sehen, was er zu sagen hat. Falls er überhaupt noch hier ist. Und danach", er stellte sich auf seine Zehenspitzen und flüsterte direkt in Sherlocks Ohr, "kannst du mir gerne noch ein paar lebensrettende Tanzschritte beibringen." Als er seinen Kopf wieder von dem Sherlocks wegnahm, waren Sherlocks Wangen so rot wie noch nie.

~

Als Sherlock sich abends in sein Bett legte, war er noch immer sehr besorgt. Immerhin änderte der Fakt, dass John sich wieder erinnern konnte, nichts daran, dass er vergiftet wurde. John hatte um Haaresbreite überlebt. Sherlock seufzte kurz, dann drehte er sich zur Seite und sah, dass John sich neben ihn gelegt hatte.

"Hey", flüsterte John. Sherlock lächelte.

"Hey", flüsterte er zurück. "Ich habe gar nicht gemerkt, dass du reinkommen bist." John sah ihn amüsiert an, dann strich er Sherlock eine Sträne aus dem Gesicht.

"Bedrückt dich etwas?", fragte er. Sherlock nickte. "Was ist es?"

"Ich habe Angst um dich", sagte Sherlock. John musterte ihn liebevoll.

"Ich weiß. Und ich habe Angst um dich. Weil ich dich liebe", sagte er. Sherlock sah ihn lange an, dann rutschte er im Bett etwas weiter zu John und kuschelte sich an ihn.

"Danke, dass du mir beigebracht hast, was Kuscheln ist", murmelte er. John grinste.

"Danke, dass du mir beigebracht hast, was wahre Liebe ist", antwortete er. Sherlock sah ihn lange an. Verzaubert von Johns Aussehen traute er sich kurz nicht, etwas zu sagen. Also küsste er einfach nur John. Er hatte so viel nachzuholen. Einen Monat hatte er wieder darauf gewartet. John strich behutsam über Sherlocks dunkle Locken, während Sherlock mit dem Kopf auf Johns Brust dessen Herzschlag lauschte. Es beruhigte ihn ungemein.

"Sherlock?", flüsterte John. Sherlock war zu müde, um sich aufzusetzten.

"Ja?", fragte er gähnend.

"Es tut mir leid, dass ich dich so mies behandelt hatte", sagte John mit einem bedauernden Ton. "Also, den letzten Monat. Ich weiß nicht-"

"John", unterbrach ihn Sherlock mit geschlossenen Augen und John verstummte. "Du hast dein Gedächtnis verloren. Die Zeiten, an die du dich nur noch erinnern konntest, waren andere, als sie es jetzt sind. Ich war ebenfalls ein anderer Mensch. Das habe ich erkannt, als ich gesehen habe, wie seltsam du mich angeschaut hast. Aber eigentlich bin ich stolz darauf, dass ich freundlicher geworden bin. Also bitte hör auf, dich die ganze Zeit zu entschuldigen!"

John warf ihm einen überraschten Blick zu. "Sicher?", fragte er. Sherlock nickte.

"Ganz sicher. Jetzt schlaf ein", flüsterte er. John legte seine Hand an Sherlocks Schulter. Sherlock schmunzelte, danach schloss er die Augen.

~

Am nächsten Morgen wachte Sherlock spät auf, aber trotzdem noch vor John. Mit einem breiten Lächeln beobachtete er den Blonden. Einen Monat Trauer und Hoffnungslosigkeit, doch alles war in einem Kuss sofort vergeben worden. Natürlich. Wie konnte er auch anders?

John, welcher noch immer am Schlafen war, hatte sich so hingelegt, dass er Sherlock förmlich in seinen Armen festklammerte. Jetzt bewegte er sich kurz und Sherlock dachte, er würde aufwachen, doch John kuschelte sich einfach näher an Sherlock heran. Der schmunzelte, dann schloss er die Augen und wartete darauf, dass John aufwachte.

Etwa 10 Minuten später wachte John dann auch auf. Sherlock schlug die Augen auf, als er bemerkte, dass John sich bewegte. Als dieser dann noch langsam die Augen öffnete und sah, dass Sherlock schon wach war, grinste er.

"Guten Morgen", flüsterte Sherlock.

"Guten Morgen", antwortete John. "Hast du gut geschlafen?" Sherlock nickte.

"Besser als je zuvor", antwortete er. War ja auch kein Wunder, er durfte in Johns Armen schlafen. John lächelte weiterhin, während er sich zu Sherlocks Kopf hinunter beugte und einen kleinen Kuss auf dessen Wange platzierte. Sherlock schloss wieder kurz die Augen. Er liebte es, wenn John ihn küsste.

Vorsichtig drehte er sich um, sodass er ganz auf John lag, und grinste ihn frech an. "Hast du Lust auf Frühstück?", fragte er.

"Gerne", antwortete er. "Aber ich werde es zubereiten. Du hast es oft genug gemacht." Sherlock lächelte und beugte sich vor, bis seine Lippen die von John berührten. John setzte sich etwas auf, damit sie beide eine etwas bequemere Position hatten, dann erwiderte er Sherlocks Kuss, während er mit seiner Hand über dessen Rücken strich.

Nach fast einer halben Stunde von Kuscheln und Küssen, einigten sie sich darauf, dass die das auch nach dem Frühstück machen konnten (auch wenn Sherlock eher dagegen war). Als Sherlock am Küchentisch saß, fiel ihm wieder ein, was sie heute noch machen wollten. Noch war Sherlock noch nicht alles klar, und das hasste er. Wieso wollte sein Nachbar ihn unbedingt vergiften? Dieser Sebastian. Es war nicht so, dass Sherlock nicht bereits einige Sebastians kannte, aber keiner davon war in der Verfassung, ihn umzubringen, oder?

John setzte sich vor ihn, zwei Teller mit Speck und einem Spiegelei in der Hand, welche er vor Sherlock und sich abstellte. Sherlock warf ihm einen dankbaren Blick zu.

"Vielen Dank", sagte er. John sah ihn überrascht an.

"Ich muss dich nicht dazu zwingen, etwas zu essen? Wow. Du musst mich wirklich lieben", scherzte John. Sherlock nickte zustimmend.

"Tue ich auch. Sehr sogar", sagte er, während John sich ihm gegenüber hinsetzte. Während er die Zeitung aufschlug, wanderte seine Hand zu der Sherlocks, die auf dem Tisch lag, und griff vorsichtig nach ihr. Sherlock schaute überrascht auf, John war mit seinen Gedanken immer noch bei der Zeitung, doch ein kleines Lächeln hatte sich auf seinen Lippen gebildet. Sherlock schaute kurz auf ihre beiden Hände, dann senkte er den Kopf. Seine Wangen brannten wie Feuer. Wieso schaffte es John, ihn so unsicher und schüchtern zu machen? Das war doch verrückt! So unglaublich unfair. John schien dieses Problem nicht zu haben. Wieso denn auch? Er hatte ja schon viele Frauen als Freundinnen gehabt. Er konnte eben gut mit Frauen umgehen.

Sebastian.

Sherlock wandte sich wieder seinem Spiegelei zu. Gott sei Dank konnte er auch mit der linken Hand eine Gabel verwenden, sonst wäre das Essen jetzt etwas schwierig geworden. Doch Sherlock genoss jede einzelne Sekunde, wenn John ihn berührte.

Sebastian.

Es sendete immer eine Art Zittern durch seinen Körper. Das war schon sehr lange so. Bevor er John seine Liebe gestanden hatte, hatte John ihn an der Schulter berührt. Da war sie wieder da gewesen, diese Elektrizität. Das war auch der Grund, warum Sherlock ursprünglich so zusammen gezuckt war.

Sebastian.

Mit der Gabel führte er das letzte Stück Essen zum Mund. Er hatte schneller gegessen, als er es gedacht hatte. Aber er musste zugeben, John konnte gut kochen.

"Das war lecker", sagte er und unterbrach die zauberhafte Stille zwischen ihnen beiden. John schaute auf, dann lächelte er.

"Danke", sagte er. Sherlock lächelte ebenfalls. John legte kurz die Zeitung weg, dann wandte er sich wieder voll und ganz Sherlock zu. "So...", sagte er mit vorsichtiger Stimme, und sofort wusste Sherlock, was John besprechen wollte.

"Du willst wissen, wie wir mit Sebastian reden, oder?", fragte er. John nickte vorsichtig. Sherlock seufzte. "Ich denke, wir würden wohl kaum reingelassen, er hat eine Klingel mit einem Mikrofon, was bedeutet, er würde nachfragen, wer da sei, und unsere Stimme sofort erkennen." John nickte, dann fuhr Sherlock fort. "Aber, wie der Zufall es so will, weiß ich, wie man auf diese Haus klettern kann." John starrte ihn mit offenem Mund an.

Sebastian Wer?

"Klettern? Woher weißt du bitte, wie man da raufklettern kann?", fragte er. Sherlock grinste.

"Als ich damals diese Leute von dir ferngehalten habe, die dich ausrauben wollten, bin ich relativ schnell an genau diesem Haus einmal runter und wieder hoch geklettert. Ich habe dort einen kleinen Balkon gesehen, den man nutzen könnte, um die Wohnung zu betreten", sagte Sherlock. John musterte ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Freundlichkeit. Dann lag aber wieder diese Sorge in seinen Augen.

"Was dann?", fragte John.

"Dann werde ich dich reinlassen. Die Wohnung müsste im ersten Stock sein, so wie unsere Wohnung. Dann werden wir Sebastian überraschen", sagte Sherlock.

"Das hört sich nach einem schrecklichen Plan an", murmelte John. " Was, wenn dir vorher etwas passiert? Wenn Sebastian nur darauf wartet, dass du hereinkommst?", fragte er und schaute auf ihre beiden Hände, die noch immer aufeinander lagen. Sherlock schüttelte den Kopf.

"Mir wird nichts passieren, keine Sorge", sagte er. John starrte ihn wütend an.

"Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?", rief er. "Er hat versucht, dich zu vergiften! "Als Zeichen der Nachbarschaft" hat er gesagt! Wie kannst du nur glauben, er würde dich nicht auf der Stelle töten, wenn er dich nur sieht?" Sherlock starrte John lange an, unsicher, was er jetzt sagen sollte. John seufzte kurz. "Wir verlieren uns immer wieder", sagte er mit rauer Stimme. Sherlock schüttelte den Kopf.

"Nein. Wir verlieren uns zwar, aber wir finden uns auch immer wieder. Du und ich, wir haben Gift, Tod, Räuber und einen Anschlag in einem silbernen Auto überstanden, wir beide haben gelitten, doch wir sind trotzdem wieder zusammen", sagte er bestimmt. John sah ihn überrascht an, verblüfft von dieser Antwort. Plötzlich stand er auf. Sherlock dachte, er wolle weggehen und senkte den Kopf. Vielleicht war er zu weit gegangen. Doch anstelle wegzugehen, ging John schnellen Schrittes auf ihn zu, beugte sich herunter und küsste Sherlock sanft. Sherlock verstand die Welt nicht mehr. Das musste man ihm angesehen haben, denn John, als er sich ihm löste, grinste ihn amüsiert an.

"Du bist ein so wundervoller Mann, Sherlock", flüsterte er, dann küsste er Sherlock ein zweites Mal. Diesmal zögerte Sherlock keine Sekunde, seinen Geliebten zurück zu küssen. Als sie sich lösten, atmete John ruhig auf. "In Ordnung. Ich vertraue dir. Doch bitte, im Namen Gottes..." Er strich mit seinem Daumen über Sherlocks Wange. "... sei vorsichtig."

~

John stand vor Sebastians Haus und wartete. Sherlock war eben noch an der Seite des Gebäudes abgebogen und auf die Mauer hochgeklettert war. John hoffte wirklich sehr, dass alles nicht so ablaufen würde, wie bei ihrem zweiten gemeinsamen Abenteuer. Sherlock hatte ihn nicht reingelassen. Aber das würde er jetzt, oder?

Klick.

Erleichtert atmete John auf. Die Tür hatte sich geöffnet und er konnte eintreten. Die Wohnung sah der von ihnen sehr ähnlich. Die Tapeten waren etwas anders, außerdem war diese Wohnung viel gepflegter.

"Sherlock?", rief er. Er hoffte wirklich sehr, dass es Sherlock gut ging. Und dass er jetzt antworten würde.
Doch das tat er nicht.
Schnell ging John die Treppe hoch in das Zimmer, in dem laut Sherlock der Balkon sein sollte. Als er die Tür öffnete, erblickte er Sherlock, der mitten im Zimmer stand.

"Verdammt, Sherlock! Wieso antwortest du mir nicht?", fragte John. Sherlock presste einen Finger vor seinen Mund.

"Psst!", flüsterte er. John verstummte, holte jedoch seine Waffe heraus und stellte sich neben Sherlock.

"Wo ist er?", fragte John so leise, wie er sprechen konnte. Sherlock machte eine Bewegung, die etwa 'Keine Ahnung!' bedeuten sollte. Verdammt. War er vielleicht nicht da? Oder schon weg, wie sie es befürchtet hatten?

"Hände hoch", sagte eine dunkle Stimme von der Zimmertür. Sherlock und John wirbelten herum. Sebastian starrte sie wütend an, in der Hand hielt er eine Waffe. John zuckte zusammen. Sofort bereute er alles. Dass sie hierher gekommen waren, dass er den Kuchen überhaupt angenommen hatte... wieso hatte er es so weit kommen lassen? Nicht schon wieder. Er wünschte sich, dass er einfach mit Sherlock zuhause geblieben wäre. Sie beide wären dann sicher.

Sherlocks Kiefer klappte nach unten. Mit einem geschockten Blick beobachtete er Sebastian. "Du?", flüsterte er. "Aber das ist..." Sebastian grinste.

"Hallo, Sherlock Holmes", sagte er mit einem düsteren Lächeln. 

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