Kapitel 10 - Wiedervereinigung

Es stürmte und regnete, als John mit Einkaufstüten in der Hand die Baker Street entlang ging. Es war nun eineinhalb Jahre, dass Sherlock gesprungen war, und Johns Herz hatte sich noch immer nicht erholt. Während er vor der schwarzen Tür stand und die goldenen Lettern 221B betrachtete, kam ihm das Gespräch mit seiner Therapeutin in den Sinn.

"Wenn Sie wollen, dass die Alpträume aufhören, dann sollten Sie diese Tabletten nehmen."

"Nein."

"Wieso nicht?"

"Weil die Alpträume der einzige Weg sind, dass ich sein Gesicht wiedersehen kann."

John seufzte laut und öffnete die Tür. Sofort kam Mrs Hudson auf ihn zu.

"Hallo, John", sagte sie mit einem Lächeln. "Wie geht es ihnen?"

John wusste, die Vermieterin meinte es nur gut, doch er konnte nicht anders, als ihr einen etwas wütenden Blick zu zuwerfen.
"Grauenvoll", murmelte er, während er die Tüten die Treppe hinauf brachte.

Unten seufzte Mrs Hudson. "Das tut mir leid, John. Ich vermisse ihn ja auch."

Genau in dem Moment riss eine der Plastiktüten und eine Flasche kullerte die Treppe herunter. Mrs Hudson bückte sich und wollte die Flasche wieder John geben, als sie den Schrifzug etwas näher betrachtete.

"John!", rief sie tadelnd. "Ich weiß, Sherlock fehlt ihnen, aber Alkohol ist keine Lösung!"

John starrte die Vermieterin kurz an, dann ging er ohne ein weiteres Wort die Treppe weiter hoch und in das Wohnzimmer. Wie jeden Tag seit Sherlocks Fall durchfuhr ihn ein leichtes Zittern. Er warf seine Jacke achtlos zur Seite, nahm sich ein Bier und setzte sich auf das Sofa.

John war seit Sherlocks Tod Trinker geworden. Er wusste, dass das Sherlock nicht zurückkommen lassen würde, doch es lenkte ihn ein wenig von dem Schmerz ab.

"Sie haben viel Gefahr hinter sich. Gewaltsame Tode."

"Ja. Genug für ein Leben."

"Wollen Sie mehr davon?"

"Unbedingt, ja."

Stumme Tränen rannen an Johns Wange herunter. Es war ihm völlig egal. Sherlock war nicht da. Er könnte ihn sowieso nicht schwach sehen.

Nicht zum ersten Mal fiel sein Blick auf seine Pistole. Doch diesen Gedanken warf er wieder weg.

"Du musst mir versprechen, dass du an mich glaubst."

Dieser Satz war das einzige, was John davon abhielt, sich umzubringen. Er würde Sherlock nicht vergessen. Er würde weiter an ihn glauben.

Doch er vermisste ihn so sehr.

~

Sherlock lag auf dem kalten Boden, an das Wasserrohr gefesselt. Sein Rücken schmerzte von der Peitsche. Seine Haare waren länger geworden, ihm war ein Bart gewachsen. Er wollte zu John. Sofort. Ihm sagen, dass er noch am Leben war. Bereits seit vielen Monaten.

"Bruder?"

Sherlock erstarrte und schaute auf. Vor ihm stand Mycroft, sein Bruder.

"Mycroft?", flüsterte Sherlock.

Mycroft lächelte. "Zeit, in die Baker Street zurückzukehren, Sherlock Holmes."

Drei Tage später stand Sherlock vor 221B Baker Street. In seinem neuen Mantel und einem neuen Hemd. Die dunkle Tür, die goldenen Lettern. Oh, wie hatte er diesen Anblick vermisst.

Vorsichtig kramte er seinen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Er traute sich nicht, etwas zu rufen, doch er hatte auch keine Ahnung, wie er John beibringen sollte, dass er nicht tot war.

Langsam ging er Schritt für Schritt die Treppe hoch. Als er vor der Wohnzimmertür angekommen war, hörte er, wie jemand in dem Wohnzimmer aufstand. Ja, er hörte es. Sherlock wusste bereits seit Jahren, dass das Sofa etwas Geräusche machte. Doch gerade störte ihn das nicht.

Er wollte gerade langsam die Hand zu der Türklinke heben, als die Tür sich von selbst öffnete. Nicht von selbst. Sie wurde geöffnet.

"Wer ist da?", murmelte eine Stimme. Sherlocks Herz erstarrte für einen Moment, dann schlug es augenblicklich schneller.

John trat aus dem Wohnzimmer mit einem schlurfenden Schritt und sah langsam nach oben.

Dann erkannte er Sherlock.

Eine Glasflasche, die er gerade noch in der Hand gehabt hatte, fiel auf den Boden und zersprang. Johns Augen funkelten vor Angst und Panik.

Sherlock wollte einen Schritt auf ihn zugehen, doch sein Körper bewegte sich nicht. Er war wie gelähmt.

"John", flüsterte er.

John starrte ihn mit einem so panischen Blick an, dass Sherlock gedacht hätte, irgendetwas stimmte nicht an ihm. Dann, ganz plötzlich, verschwand die Panik komplett und John fing an zu grinsen.

"Natürlich", sagte er. Sherlocks Augenbrauen zogen sich verwirrt nach unten.

"John?", fragte er vorsichtig.

"Du bist nicht echt. Du siehst echt aus. Bist du aber nicht. Mein Körper spielt mir einen verdammten Streich", sagte John mit einem gequälten Lächeln.

Sherlock betrachtete ihn besorgt. John hatte Augenringe, also wenig geschlafen. Sein Atem roch nach Alkohol. Außerdem waren seine Haare verwuselt und ungepflegt. All diese Beobachtungen ließen nur die eine Frage in Sherlocks Kopf immer und immer wieder erscheinen:

Was habe ich John angetan?

"John, hör mir zu", flüsterte er. Seine eigene Stimme zitterte so stark, dass er einmal schlucken musste, bevor er fortfuhren wollte. Was ihm aber nicht gelang.

"Nein!", rief John. "Ich höre dir nicht zu! Du bist tot! Du bist nicht hier, du liegst in einem Sarg an einem Friedhof. Ich habe dich begraben! All das ist ein dummer Traum!"

"Es tut mir so unendlich leid", wisperte Sherlock. "Ich musste es tun."

John ging auf ihn mit einer erhobenen Hand zu. "DU. BIST. NICHT. ER!", schrie er.
"Sherlock ist tot! Er ist vor meinen Augen von einem Dach gesprungen! Er hat Selbstmord begangen, weil er die Lügen nicht mehr ertragen konnte und ich habe nichts dagegen tun können. Ich würde absolut alles dafür geben, dass er wiederkommt, aber das wird er nicht. Er ist weg." John presste die Hand vor seinen Mund und sank auf die Knie. Langsam füllte sich Sherlocks Herz mit Trauer und Wut über sich selbst.
"Mein Sherlock ist weg", flüsterte John.

"Nein, John. Ich bin hier", sagte Sherlock.

"Geh weg", wimmerte John. Sherlock ging ebenfalls auf die Knie. "Du bist nicht real. Du bist tot."

"Sieh mich an. John." John hob eine Hand und wollte nach Sherlock schlagen. Dieser stoppte Johns Hand mit der seinen.

Johns Trauer verwandelte sich augenblicklich in Überraschung, während er auf ihre beiden Hände starrte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

"Kann eine Halluzination dich berühren?", fragte Sherlock mit sanfter Stimme. John schüttelte den Kopf. Sherlock schloss kurz die Augen. Was hatte er nur getan?

"Sherlock?", fragte John zitternd. Er wollte noch etwas sagen, doch dazu kam er nicht, da er von etwas abgelenkt wurde. Dann, ganz plötzlich ging er auf Sherlock zu, hob die Hand und gab Sherlock eine kräftige Ohrfeige. Dann noch einmal. Sherlock starrte ihn erschrocken an. Die Wut in Johns Augen schaffte es, ihn sich klein fühlen zu lassen.

"Du...", knurrte John. "Hast du eine Ahnung, was du mir angetan hast?" Sherlock senkte den Kopf.
"Du hast mich trauern lassen... ich bin an deinem Tod beinahe zerbrochen und jetzt stehst du einfach hier, und erwartest wahrscheinlich, dass ich dich anbete wie vorher. Ich bin so unendlich wütend auf dich, Sherlock Holmes. Ob Traum oder nicht."

"Schlag mich, so oft du willst. Ich liebe dich und werde es immer tun. Und ich werde dich nie wieder verletzten", sagte Sherlock.
Dann ging er auf John zu und drückte sich an ihn, während er ihn umarmte.

Vorsichtig legte der Detectiv seine Arme um Johns Schultern.

"Es tut mir so leid, John", flüsterte er immer wieder. Er spürte Johns plötzliche Überraschung über seine Worte. Er spürte, dass er langsam den Kopf senkte und die Tränen wiederkamen. Langsam fühlte er, dass John ebenfalls seine Arme hob und sie um Sherlock legte.

"Sherlock... du ... du bist am Leben. Aber... wie? Das ist unmöglich. Träume ich?", fragte er leise.

"Nein, tust du nicht. Du bist wach, genauso wie ich", flüsterte Sherlock.

Vorsichtig löste John seine Umarmung und sah dem Consulting Detectiv in die Augen.

"Eineinhalb Jahre", flüsterte er und Sherlock schloss die Augen. "Eineinhalb Jahre hast du mich denken lassen, du seist tot."

"Ich weiß. Ich wäre früher gekommen, wäre es möglich. Doch das ist es nicht gewesen. Es tut mir so leid", wisperte er.

"Ich verstehe nur nicht, wieso", wisperte John mit Tränen in den Augen. "Wieso hast du mir das angetan? Mich diese ganze Zeit trauern lassen? Du hast mir das Herz gebrochen."

"Moriarty", antwortete Sherlock. "Er hatte Scharfschützen auf Mrs Hudson, Lestrade und dich richten lassen. Er hat mich erpresst, dass, wenn ich nicht sterben würde, ihr es tun würdet", raunte Sherlock.

John starrte ihn entsetzt an. "Du hast es getan, damit wir leben?"

Sherlock nickte. "Sozusagen, ja-"

Weiter kam er nicht, denn John war einen Schritt nach vorne gegangen und presste seine Lippen auf die des Detectivs. Dieser erwiderte den Kuss sofort. Wie hatte er diese Lippen vermisst! Johns Hand fuhr über Sherlocks Rücken und für einen Augenblick fühlte Sherlock den Schmerz der Peitsche wieder, doch ihn kümmerte es nicht. Er küsste John immer und immer wieder, bis dann schließlich beide Luft holen mussten und sich kurz voneinander lösten und die Stirn aneinander drückten.

"Du bist am Leben!", flüsterte John, als würde er es immer noch nicht begreifen. "Du lebst!"

Sherlock lächelte kurz. "Du auch", flüsterte er erleichtert. Er musste gestehen, er war besorgt um John gewesen. Es hätte ja sein können, dass Moriarty noch einen Scharfschützen bereithielt, um John daran zu hindern, Sherlocks Ruf wiederherstellen zu können. Doch John war noch am Leben.

"Es tut mir so leid, dass ich dich nicht kontaktiert habe. Glaub mir, ich habe es versucht. Nur da, wo ich hingegangen bin, konnte ich es nicht", sagte Sherlock, während er durch Johns Haare mit seiner Hand fuhr.
"Ich liebe dich, John", fügte er hinzu.

Das war nun der Satz, vor dem er am meisten Angst hatte. Er hatte tatsächlich geglaubt, John würde seinen Tod leichter verkraften, wenn er ihm die Geschichte auftischte, die Moriarty angefertigt hatte. Doch dann, später, war ihm in den Sinn gekommen, dass John ein gutaussehender Mann mit vielen Kontakten war, der ziemlich schnell eine Freundin finden konnte, wenn er wollte. Was, wenn er eine neue Freundin hatte? Oder vielleicht sogar einen Freund?

Etwas neugierig starrte er in Johns rote Augen. Dieser lächelte.
"Ich liebe dich auch, Sherlock!", flüsterte er. "Ich dachte, du wärst für immer... tot..." John schloss kurz die Augen. "Ich dachte, ich wäre zu schlecht gewesen, um dich aufzuhalten..."

"Bitte verzeih mir", flüsterte Sherlock. John musterte ihn.

"Das kann ich nicht", antwortete er grob und stand auf.

Sherlock starrte ihn erschrocken an.
"Was?"

"Ich kann es nicht, da ich keinen Grund habe, dir etwas vorzuwerfen. Du hast es für Mrs Hudson, Lestrade und mich getan. Und weil Moriarty dich gezwungen hat", erklärte John mit einem aufmunternden Lächeln.

"Du Mistkerl. Du hast mich verdammt noch mal erschreckt", sagte Sherlock mit zitternder Stimme und stand ebenfalls auf. Als John ihn lächelnd betrachtete, fügte er mit erhobenen hinzu:
"Verdammt noch mal, du hast richtig gehört. Ich habe geflucht."

John grinste kurz, dann zog er Sherlock an dem Kragen zu sich hinunter und küsste ihn nochmal. Sherlock hob den kleinen Mann an, um ihm eine bequemere Position zu verschaffen und erwiderte den Kuss dabei leidenschaftlich.

"Ich habe dich so vermisst", sagte Sherlock.

"Ich dich auch." Dann umarmte John Sherlock nochmal. "Auch wenn ich dir gerade ein paar gepfeffert habe."

"Ich habe es verdient", sagte Sherlock einfach. "Also, vergibst du mir?"

"Für mich gibt es nichts zu vergeben. Doch wenn du dich dann besser fühlst: Ja, ich vergebe dir."

Sherlock drückte ihn enger an sich. "Danke."

Langsam führte John Sherlock in das Wohnzimmer. Dort setzten sich beide auf das Sofa und kuschelten sich aneinander. Sherlock drehte seinen Kopf kurz.

"Ist es schön, wieder hier zu sein...", flüsterte er. John lächelte ihm zu.

"Es ist hier nicht dasselbe ohne dich", antwortete er. Sherlocks Mundwinkel zogen sich leicht nach oben.

Dann begann er, John zu küssen. Dieser hatte nichts dagegen. Sherlock senkte seinen Kopf ein wenig und plazierte federleichte Küsse auf dem Hals des früheren Army-Doctors. John seufzte genussvoll und legte einen Arm um Sherlock.

"Wo warst du überhaupt?", fragte er plötzlich.

Sherlock sah ihn lange an. "Erinnerst du dich daran, dass ich dir von einem Netzwerk Moriartys erzählt habe?"

John nickte.

"Ich habe dieses Netzwerk ausfindig gemacht und zerstört. Dafür musste ich um die halbe Welt reisen, doch ich habe es letzten Endes geschafft", sagte Sherlock.

"Hättst du nicht wenigstens eine Nachricht senden können? Eine SMS, einen Brief?", fragte John traurig.

Sherlock blinzelte ein paar Mal verwirrt. "Aber... John, ich habe dir einen Brief geschickt."

"Was?!", rief John überrascht, plötzlich hellwach.

"Ja, habe ich", sagte Sherlock. "Ich dachte zuerst, du hättest ihn ignoriert. Ihn für einen Witz gehalten."

"Sherlock, ich habe keinen Brief bekommen!", sagte John.

Sherlock musterte ihn verwundert. "Merkwürdig. Was ist mit dem Brief geschehen?"

John schüttelte den Kopf. "Darüber machen wir uns später Gedanken. Jetzt...", er küsste Sherlock sanft, "werden wir ins Bett gehen. Ich bin müde."

Sherlock nickte einverstanden. Er selbst war nicht wirklich müde, aber John schon. Und er wollte unbedingt wieder in der warmen Decke an Johns Brust gekuschelt einschlafen.

Er stand auf und zog John zu sich hoch. "Komm her, Liebling.", schnurrte er sanft. John lächelte einfach, während Sherlock ihn in sein Schlafzimmer führte.

John zog seine Klamotten aus und sich dafür den Pyjama an. Als Sherlock ebenfalls Mantel und sein Hemd auszog, erstarrte John.

"Sherlock!", rief er erschrocken, während er auf Sherlocks Brust starrte. Dort waren, noch sehr frisch, die Wunden des serbischen Peitschers zu sehen. "Großer Gott!", flüsterte John. "Wo hast du-?"

"Als ich Moriartys Netzwerk beinahe zerstört hatte, hatten mich ein paar Serbier erwischt und mehrere Nächte ausgepeitscht."

In Johns Augen funkelte pures Entsetzten. "Oh Gott", flüsterte er, während er vorsichtig Sherlocks Brust berührte. Sherlock winkte schnell ab.

"Keine Sorge, ist nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht", sagte er mit einem halben Grinsen.

"Sherlock, du... du wunderbarer, wunderbarer Engel", flüsterte John. Sherlock sah ihn überrascht an.

"So siehst du mich wirklich?", fragte er mit leiser Stimme. John nickte. Sherlock lächelte kurz. "Danke."

Dann zog er sich schnell ebenfalls einen Pyjama an, um John mit seinen Wunden nicht zu sehr zu verschrecken.

Er legte sich zu John ins Bett und sofort überkam ihn wieder dieses wundervolle Heimatsgefühl. Er war zuhause. Die wunderbare Decke, der wundervolle Mann...

"Ich liebe dich, Sherlock", murmelte John neben ihm.

"Ich dich auch."

"Sherlock?"

"Ja?"

"Bitte lass das kein Traum sein, ja?"

Sherlock öffnete kurz die Augen und blickte in die Johns. Dann lächelte er.

"Versprochen."

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