missing the sun


Brandon

Ich streife durch die Straßen, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, meine Hände in den Jackentaschen vergraben. Die Sonne steht am Himmel, doch es ist eiskalt. Ich habe gerade Feierabend gemacht, ich sollte nach Hause gehen, etwas Essen und schlafen, doch meine Füße tragen mich zu einem anderen Ort. Mein Kopf kommt nicht zur Ruhe, seit Wochen nicht mehr. Seit sie weg ist, kreisen meine Gedanken nur um sie und wie es ihr wohl geht. Tief in mir drinnen verstehe ich, warum Jo fortmusste, doch sie hat mich einfach allein zurückgelassen und dieser Schmerz sitzt tief. Ich habe sie bereits um viele Dinge gebeten: Mit dem Trinken aufzuhören, mit den Drogen aufzuhören, einen Job suchen, oder etwas, was ihr Spaß macht, einfach Leben. Ihren Wunsch wahrwerden lassen: Autorin zu sein.
Doch sie tat ausgerechnet das Einzige, worum ich sie gebeten habe, es nicht zu tun: Sie ist gegangen und hat mich allein zurückgelassen, direkt nach dem ich ihr zum ersten Mal offen gesagt habe, dass ich sie liebe.

Sie war an diesem Abend so anders gewesen. Klar, als ich sie in ihrer Wohnung fand dachte ich, sie hätte sich endgültig in den Tod gesoffen. Doch nachdem es ihr wieder besser ging, dachte ich wirklich sie hätte begriffen, was sie mir bedeutet, hätte begriffen, was ich ihr bedeute. Oder habe ich mich all die Jahre geirrt? Ich war mir immer sicher gewesen, dass sie mich auch liebt und es eines Tages erkennen würde. Ich hatte einfach angenommen, dass ihre Vergangenheit sie daran hindern würde, meine Liebe zu akzeptieren und sie einfach nicht bereit war, ihre eigenen Gefühle zuzulassen. Als sie sich dann weinend und klitschnass, gerade aus der Badewanne kommend, an mich geklammert hatte, war ich mir so sicher gewesen, dass sie es begriffen hatte.

Als ich am nächsten Morgen vor Jos Tür stand, war ich so aufgeregt gewesen. Ich war nach der Arbeit schnell bei mir zu Hause vorbei gegangen, hatte geduscht und dann Blumen und Brötchen geholt. Auf dem Weg zu ihr war ich voller Hoffnung gewesen und hatte mir ausgemalt, wie schön unsere Zukunft werden würde. Klar, es wäre ein schwerer Weg geworden, aber gemeinsam hätten wir es schaffen können.
Ich klingelte bei Joanna, mehrmals, vergebens. Panik stieg wieder in mir auf. Was, wenn sie die Finger nicht von Alkohol und Drogen gelassen hatte? Was, wenn sie wieder bewusstlos in ihrem Badezimmer lag? Oder dieses Mal sogar noch schlimmer...
Ich hatte alles fallengelassen, ihren Wohnungsschlüssel aus meinen Taschen gekramt und eilig die Tür aufgeschlossen. Doch in der Wohnung empfing mich weder eine bewusstlose noch eine tote Jo. Die Wohnung war leer, niemand war dort. Im Schlafzimmer lag eine halbleere Weinflasche auf dem Boden, ein paar Schränke standen offen und auf dem Bett lag ein Brief, zusammen mit einem alten Foto von Joanna und mir.

×

Brandon,

Es tut mir leid, ich muss gehen. Ich weiß, du hast dir gewünscht, dass ich bleibe, dass ich dich nicht verlasse. Du hast Recht - mit allem, was du je gesagt hast. Es kann so nicht weiter gehen und deswegen muss ich dich um meiner selbst Willen verlassen. Ich habe mit meiner Therapeutin gesprochen und fahre noch heute in eine Entzugsklinik. Auf diesen Weg kann ich dich nicht mitnehmen, ich muss ihn allein gehen.
Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde und verstehe, wenn du nicht auf mich warten wirst, auch wenn ich hoffe, dass du es doch tust.
Ich danke dir für alles, Brandon.
Ohne dich wäre ich schon lange nicht mehr am Leben.

In Liebe
Jo

×

Schlagartig wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen, als die Worte in mein Gehirn gesickert waren. Sie ist weg. Sie ist weg und kommt nicht wieder...
Ich hatte geschrien, geheult und mit den Fäusten gegen die Wand geboxt. Ich war unfassbar wütend gewesen. Bis ich verstand, dass sie gegangen war, um gesund zu werden, nicht, um mich im Stich zu lassen.

Seitdem tragen meine Füße mich jeden Tag rastlos durch die Stadt. Überall sehe ich sie, überall tauchen Erinnerungen mit ihr auf. Wir haben die letzten Jahre so viel zusammen hier erlebt, dass es kaum eine Ecke gibt, wo wir noch nicht gemeinsam waren.

×

Da ist das kleine Café, in dem wir schon so oft zusammen gefrühstückt haben, wenn ich morgens von meiner Schicht aus dem Lager kam.

Da ist der Buchladen, in dem Jo Stunden damit verbringen konnte einfach die Regale zu betrachten und sich Klappentexte durchzulesen, während ich ungeduldig auf sie wartete.

Da ist das kleine Podest am Stadtteich, wo wir immer zusammensaßen, uns unterhielten und die Sonne genossen.

Unsere Lieblingseisdiele, ein kleiner Familienbetrieb, in der das Eis noch selbst hergestellt wird und wo man uns jedes Mal herzlich begrüßt.

Der kleine Park in der Nähe von Joannas Wohnung, in dem wir so oft spazieren waren und Jo dabei die Blumen in all ihrer Pracht bewunderte oder mir die wildesten Geschichten erzählte, an denen sie gerade arbeitete.

All diese Erinnerungen ziehen an mir vorbei, wenn ich jetzt allein durch die Stadt laufe. Dieser Ort ist voll von Jo und erst jetzt, wo sie weg ist, wird mir bewusst, dass ich diese Stadt ohne sie nicht leiden kann. Hier ist nicht mein Zuhause, weil ich die Stadt so sehr mag. Hier ist mein Zuhause, weil Jo hier ist, hier war, hoffentlich eines Tages wieder hier sein wird.

Die Erinnerungen halten mich wach. Ich bin endlos müde, doch kann nicht schlafen. Meine Füße tragen mich Vorwärts durch diesen Tunnel der Vergangenheit, ohne Ausgang. Und am Ende lande ich jeden Tag bei Joannas Wohnung und ich schaue kurz nach, ob sie zurückgekehrt ist. Jeden Tag schlucke ich die Enttäuschung hinunter, wenn ich die Wohnungstür aufschließe und feststelle, dass sie nicht wieder da ist.
Der rational denkende Teil von mir weiß, dass es gut, dass Jo noch immer nicht zurück ist. Denn das heißt, dass sie noch immer in der Klinik und noch immer Clean ist. Sie arbeitet an sich und ihrer Gesundheit. Sie hat nicht aufgegeben.
Doch der nicht-rationale Teil in mir fühlt sich im Stich gelassen, einsam und wie ein trauriger Hund, der von seinem Herrchen verlassen wurde und dennoch treu auf es wartet. Ich hasse diesen Teil von mir, ich finde ihn abstoßend. Ich sollte nicht traurig und wütend sein, dass Jo gegangen ist, sondern mich freuen, dass sie diesen Schritt gemacht hat.
Aber die Wahrheit ist, dass ich wütend darüber bin, dass sie die Entscheidung ohne mich getroffen hat. Es fühlt sich an, als würde sie mich nicht brauchen, als hätte sie mich aus ihrem Leben geschmissen.

Ich lege mich in ihr Bett und starre an die Decke. Früher haben wir das oft gemeinsam gemacht und uns dabei gegenseitig von unseren Träumen und Gedanken erzählt. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie fast neben mir spüren.

„Eines Tages werde ich meinen eigenen Roman veröffentlichen", sagt Joanna und streckt dabei ihre Hände in Richtung Decke aus.
„Das wirst du ganz bestimmt", entgegne ich, lege den Kopf schief und betrachte die wunderschöne junge Frau neben mir mit einem Lächeln
. Von dem kleinen Mädchen, das vor zwei Jahren in die Wohngruppe kam, ist kaum noch etwas übrig. Joanna ist zu einer jungen Frau herangewachsen, voller Träume, Hoffnungen und Güte. Ihr Lachen ist warm und fühlt sich jedes Mal an, wie eine herzliche Umarmung. Ich bewundere sie dafür, dass sie es schafft, so fröhlich zu sein, trotz allem was sie erlebt hat.
Meine Zeit in der Wohngruppe ist bald vorbei, ich bin zu alt und ziehe in meine eigene Wohnung. Beschissener Job als Lagerarbeiter, meistens Nachtschicht. Aber immerhin werde ich für mich selbst entscheiden können. Doch es tut mir weh, Jo zurücklassen zu müssen. Wir haben einen Antrag gestellt, dass sie mit mir zusammenziehen kann, aber weil sie noch nicht volljährig ist, hat das Jugendamt abgelehnt. So bleibt mir nichts anderes übrig, als die letzten Momente mit ihr hier zu genießen. Sobald ich weg bin, werden wir uns vorerst nicht so oft sehen. Aber wir haben Pläne. Wenn Jo volljährig ist, werden wir uns gemeinsam eine Wohnung suchen und es wird alles sein wie jetzt, nur besser. Vielleicht werden wir dann ein richtiges Paar, vielleicht auch nicht. Aber immerhin lebe ich dann mit meiner besten Freundin zusammen und nichts kann uns trennen.

Wie naiv ich war... denke ich, während ich weiter an die Decke von Joannas Wohnung starre. Hatte ich doch einfach angenommen, es würde sich nichts ändern. Aber je länger ich aus der Wohngruppe fort war, desto mehr veränderte sich Jo. Sie wurde kalt, abweisend und dunkel, ihre Vergangenheit fing an, sie nicht mehr loszulassen. Sie erzählte mir nie warum, meinte immer, es sei nichts. Dabei bin ich der festen Überzeugung, irgendwas war vorgefallen. Ich war damals hilflos und bin es heute noch. Ich kann nichts tun, außer ihr ihren Raum zu geben und sie aufzufangen, wenn sie wieder einmal fällt.

Ich habe ihr nie gesagt, wie weh es mir tat, als sie entschied nicht mit mir zusammenzuziehen, sondern sich eine eigene Wohnung zu suchen. Ich habe ihr nie gesagt, wie weh es mir tat, dass sie all unsere Pläne über Bord geworfen hatte. Stattdessen habe ich versucht sie zu verstehen, für sie da zu sein. Macht man das nicht so als guter Freund?

×

Doch alles, was mir jetzt bleibt ist das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Ich kenne dieses Gefühl. Es fühlt sich wie damals an, als meine Oma starb und meine Mutter mich nicht wollte. Direkt nach meiner Geburt gab meine Mutter mich an meine Oma weiter und sie zog mich groß. Meine Erzeugerin wollte mich als Baby nicht, Teenie-Schwangerschaft. Ich habe keine Ahnung, wer mein Vater ist, und manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, meine Mutter hätte mich einfach abgetrieben. Aber das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, also trug sie mich aus und gab mich ab.

Auch neun Jahre später, als meine Oma starb, war sie nicht in der Lage mich anzunehmen. Stattdessen verschwand meine Mutter spurlos und war nicht mehr auffindbar. Ich landete in der Jugendhilfe. Erst ein paar Pflegefamilien, die mich früher oder später nicht mehr wollten. Zu aggressiv, zu wütend, nicht anpassungsfähig.
Schließlich, genau wie bei Jo, mit 14 die Wohngruppe.

14, das magische Alter, die magische Altersgrenze, auch wenn es keiner laut ausspricht. Verlässt man in diesem Alter eine Pflegefamilie, gilt man als nicht mehr vermittelbar und landet in einer Wohngruppe, Endstation im System.

Ich habe es dort gehasst, aber immerhin hat keiner versucht, mich in seine Familie zu quetschen, in die ich einfach nicht reinpasste. Ich hatte viel meine Ruhe und konnte mehr oder weniger mein eigenes Ding machen. Ich durfte zum Kampfsport gehen, etwas, das meine Pflegeeltern mir immer verboten. Zu aggressiv, zu gewalttätig, besser wäre doch ein Mannschaftssport, Teamgeist lernen, Freunde finden. Aber ich wollte das Aggressive und Gewalttätige, etwas womit ich mich so richtig abreagieren konnte. In der Wohngruppe gewährte man mir schließlich diesen Wunsch und ich fand ein Ventil, das mir half, nicht mehr sauer auf alles und jeden zu sein.

Dann trat Joanna in mein Leben und wurde zu meiner Sonne. Vom ersten Augenblick an hätte ich alles für sie getan und ich würde genauso heute immer noch alles für sie tun.

Ich habe zugesehen, wie sie zur Frau heranwuchs. Zugesehen, wie schlecht sie sich von manchen Männern behandeln ließ. Zugesehen wie sie sich immer wieder verletzen ließ. Ich war jedes Mal danach für sie da, fing sie jedes Mal auf und war der Freund, den sie brauchte. Ich gab ihr meine Liebe, bedingungslos. Auch wenn ich immer hoffte, sie würde sie eines Tages erwidern, ich erwartete es nicht. Ich tat alles dafür, damit meine Sonne niemals unterging, würde noch immer alles dafür tun. Doch jetzt ist sie fort und hat mich im Dunkeln zurückgelassen.

Tränen laufen mir aus den Augen und ich lege mir den Arm über mein Gesicht. Eine Weile lasse ich den Schmerz einfach zu, dann stehe ich auf und verlasse Jos Wohnung.
Meine Füße treiben mich weiter quer durch die Stadt, hindurch durch alle Erinnerungen. Der Schmerz umarmt mich und hält mich fest.

Eines Tages... denke ich,

...eines Tages wird meine Sonne wieder scheinen.

So lange werde ich warten. Ich werde auf dich warten, Jo.

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