𝟏𝟐 | 𝐃𝐀𝐍𝐙𝐃𝐄𝐇
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• C A N A N •
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‚Alles gut?' Er hat es bestimmt an meinem Verhalten erkannt. Dass etwas nicht stimmt. So ist es zwar auch, aber...
Gott, wie ich diese Frage verabscheue. Denn meine Antwort darauf ist immer eine Lüge, ohne dass es der Fragende weiß.
Ich nicke. Mit einem Lächeln.
Was erwartet er von mir, wenn er solch eine Frage stellt? Dass ich ehrlich antworte? Dass ich ihm gleich über meine Probleme ausplappere? Ihm sage: Mein Vater behandelt mich seit jener Nacht nicht mehr wie davor, meine Mutter steht wie immer zu ihm, selbst wenn es heißt, auf ihre Werte als Frau zu scheißen und meine jüngere Schwester macht sich seit dem auch lustig darüber? Mein einziger Beschützer ist außerhalb des Landes gereist für sein Ziel?
Ich sollte eigentlich schon im Bett liegen und mich ins Schlaf ausheulen, wollte ihm schreiben, wir sollen den Training einfach sausen lassen, aber ich wusste auch mit dem Schlafen würde nichts bringen, denn ich musste wie noch nie aus dem Haus raus. Mich von diesen Menschen eine Weile entfernen. Für eine lange Weile, würde ich nicht meiden.
Und hier bin ich. hier stehe ich. Mit ihm. Dennoch lassen sie mich nicht ruhen die Gedanken, in denen sie Platz genommen haben. Das, obwohl wir uns schon dem Ende des Trainings nähern, oder?
Dennoch bleibt Rojyar in seiner Haltung stehen. Schenkt mir einen durchschaubaren Blick, als würde er wissen, ich lüge. Doch als er nach ein paar Sekunden mit seinen Angriffen fortstreitet, bin ich ihm dankbar, dass er nicht noch mehr nachhakt. Ich würde zu weinen beginnen. Ohne Zweifel.
Ich falle auf dem Rücken zu Boden. Er schaut von oben zu mir herruter und entfernt sich ein paar Schritte, vielleicht weil er denkt, ich würde von selbst aufstehen, weil ich das kann, aber... Ich bleibe liegen und schließe dabei mit schnellem Atemzügen die Augen.
Was ich denke, vorherzusehen, ist, Rojyar nähert sich und mir die Hand zum Aufstehen reichen. Und wenn ich sie nicht annehme, nimmt er meine Hand von selbst. Doch das passiert nicht. Ich stehe erst auf, als sich mein Atem nicht mehr so schwer anfühlt und entdecke Rojyar, der wahrscheinlich schon die ganze Zeit seine Augen auf mich gehabt hat, denn sie sehen mir schon in meine, ehe er mir meine Wasserflasche reicht, die ich dankend annehme.
‚Beim Kick-Boxen gibt es klare Regeln', erklärt er mir durch seine Zeichen, die ich verständnisvoll aufnehme. ,Diese Regeln dürfen nicht gebrochen werden, aber solltest du dich nicht im Käfig befinden, so rate ich dir sie zu brechen.'
Jedes Mal, wenn er seine Hände und Finger bewegt, um mit mir zu kommunizieren, schlägt dieses wichtige Organ an der linken Seite meiner Brust ein Ticken schneller. Es ist beinahe so, als würden wir beide über eine Geheimsprache sprechen, welche nur er und ich verstehen. Er schenkt mir das Gefühl, gesehen und gehört zu werden. Das klingt so absurd, aber wahr.
Und so hat die nächste Übung angefangen. Ich darf Regeln brechen.
Rojyar meint, heute werde ich nur einen kleinen Vorgeschmack bekommen. Aber beim nächsten Trainingstag, welcher schon übermorgen ist, wird er mich richtig darin eintauchen lassen.
,Erstens: Rennen. Bei unserem nächsten Treffen- Hast du...' Er scheint am Überlegen zu sein. Rapide klettert er aus dem Ring und läuft mit großen Schritten auf seine Tasche zu, ehe er einen Block und einen Stift wieder mit sich bringt. Als er sich vor mir auf dem Boden des Rings setzt — zu nah —, schlägt er den Block auf irgendeine leere Seite auf und fängt an zu schreiben. Er hält seinen Block auf. ‚Hast du Freitag Morgens was vor? Ausbildung? Abi? Uni?'
Meine Eltern haben die Hoffnung an mir verloren. Sie zählen eher mehr auf meinen älteren Bruder, der jetzt den Pfad zum Jurastudium im Ausland gewählt hat, und meine jüngere Schwester, die die zehnte Klasse am Gymnasium abschließt.
Niemals werde ich eins ihrer Kinder sein, auf welches sie stolz sein können.
Ich schüttle meinen Kopf als eine knappe Antwort. Doch als er mir daraufhin den Grund erklärt, wünsche ich mir im selben Moment, ich hätte lieber gelogen. Warum habe ich genickt? Warum habe ich nicht einfach den Kopf geschüttelt? Warum habe nicht gelogen?
Nachdem Rojyar auf seine Uhr einen Blick zuwirft, sagt er mir, dass unser Training sein Ende gefunden hat.
Ich atme seufzend aus. Zum ersten Mal nach einem Training habe ich das Bedürfnis lieber weiter zu trainieren als nach Hause zurückkehren, denn ich will nicht Heim. Ich möchte nicht nach Hause. Nur nicht jetzt.
Haben wir nicht zu früh aufgehört? Eine Augenbraue erhebt sich von selbst, als ich Rojyar frage. Und tatsächlich. Er nickt und erklärt, er müsse auf irgendeinem... Fest?
Daraufhin nicke ich nur. Wenn er gehen muss, dann ist es eben so. Unmöglich könnte ich ihn jetzt fragen, ob er mit mir bleiben könnte statt auf diese Veranstaltung zu gehen. Vielleicht ist es sogar eine wichtige Veranstaltung. Eine Hochzeit seiner Cousine? Cousin? Geburtstagfeier von einem Familienmitglied? Aber das ist doch nicht meine Angelegenheit, warum also stelle ich offene Fragen mir selbst?
Wir treten gemeinsam aus dem Klub und merken schnell, dass es noch immer regnet. Den ganzen Tag regnet es schon, weshalb mich Rojyar auch mit seinem Auto von zu Hause abholte. Und jetzt wieder zurückfahren wird.
Rojyar führt zwei absichtlich große Schritte vor und öffnet mir die Tür zur Beifahrerseite. Das hat er auch schon beim Abholen getan.
Ich platziere die Fingerspitzen meiner flachen Hand am Kinn, ehe ich diese leicht vom Kinn wegführe. ,Danke!', führe ich vor, bevor ich einsteige und er die Türe schon schließt. Nachdem er den Motor startet und sich selbst anschnallt, überprüft er, ob ich mich schon angeschnallt habe - genauso als er mich abgeholt hatte.
Natürlich verläuft die Fahrt still, denn die Entfernung vom Klub bis zu mir war nicht wirklich weit. Doch als er von der Straße nach rechts lenkt und parkt, realisiere ich erst, dass wir schon angekommen sind, und das, obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster lugte.
Ich will nicht heim.
Scheiße. Das ging viel zu schnell. Wenn ich jetzt nicht aussteige, wird das echt peinlich, denn er wartet auf mich, dass ich aussteige. Allerdings als ich mich daran erinnere, er muss noch zu seinem Fest, zögere ich dennoch, als ich den Gurt ablege und die schon dabei bin die Türe zu öffnen.
Eine Handberührung.
Eine einzige Handberührung hat es gereicht, um mich zu stillen, um mich zu entspannen, beruhigen.
Es ist diese große Handfläche die auf meine liegt, mich davon abhält die Tür zu öffnen.
Warum tut er das? Warum setzt er seine Hand auf die meine? Hat er was bemerkt? Was soll er bemerkt haben? Bin ich ein offenes Buch? Hätte ich mich so bei meinem Vater benommen, würde er mein Zögern wirklich ignorieren — würde er es überhaupt zur Kenntnis nehmen? Ich bin kein offenes Buch, ich bin mir da zu hundert Prozent sicher. Warum also? Was hat ihn dazu bewegt?
Ich vernetze meine Augen mit die seiner.
Die Augen diesen Mannes strahlen in einem warmen, tiefen Braun, welches gleichzeitig hell ist, mich aber an geschmolzene Karamell-Schokolade erinnert. Sie sind umrahmt von dunklen Wimpern, die meinem Betrachten eine geheimnisvolle Stärke ihrer Wirkung auf mich verleiht. In diesen Augen liegt eine sanfte Tiefe, als ob sie die Geschichten unzähliger Sonnenuntergänge und nächtlicher Geheimnisse bewahren. Sie funkeln selbst im Dunklen und nehmen mich gefangen, als würden sie ein unentdecktes Universum voller Emotionen offenbaren wollen, mich einladen wollen. Und gerade versprechen sie mir, ich könne mir Zeit nehmen.
In Filmen wie Liebesfilmen wird meistens festgestellt, dass manchmal alles wie in einem Traum scheint. Nie entwickelte sich dieses Gefühl in mir mit einer anderen Person. Oder gar in irgendwelchen Situationen. Und nun muss ich selbst hier die Partei ergreifen, nachdem sich das Feuer dieser seelische Regung in mir entfacht, als mich diese Augen ergreifen.
Ich hatte noch nie ein Verlangen nach etwas unmöglichem. Und jetzt bete ich, irgendwann seine Stimme hören zu dürfen. Aber vielleicht wird es so sein.
Irgendwann.
Im nächsten Leben.
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• R O J Y A R •
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Ich parkiere auf der Parkfläche einer Parkanlage dieser Stadt. Dieser Ort ist nicht wirklich weit von ihrem Elternhaus entfernt.
Sie wurde belehrt wie man spricht, nur sie hat ihre Stimme eliminiert, denn jedes Mal, als sie dem Sprechen eine weitere Chance gab, existierte niemand für sie, der ihr mit einem Ohr beglückte.
Und nun liegt sie hier seitwärts auf dem Beifahrersitz, mein bedeckten Arm, welchen ich sie als ihren kuscheligen Kissen verwenden lasse, während mein anderer Arm, welcher über ihre Schulter hinweg liegt, dessen Hand ihre kalte zu wärmen versucht.
Ich versuche mein Bestes, ihr das Gefühl zu vermitteln, dass sie es verdient, so umarmt zu werden. Mit Wertschätzung, mit Gefühlen, mit Respekt.
Ich tue doch das richtige, Yadê, oder?
Als ich wieder zu ihr runter blicke, stelle ich fest, sie hält ihre Augenlider zugeklappt, als würde sie mir den Zugang ins nächste Paradies nicht gewähren lassen.
Ihr gebe ich die Zeit, die sie benötigt, um die kleinen Wunden etwas zuzunähen. Die großen werden niemals so schnell verheilen. Möglicherweise auch nicht alle Kleine, aber ich hoffe und bete dafür. Für sie.
Ich brachte unseren Training etwas früher zu ende, damit ich auf die Geburtstagsfeier Iskaras noch schaffe, da ich ihr Geschenk noch überreichen muss. Sie hat mich eingeladen und ich hab ihr mein Wort gegeben, wenigstens für eine Weile anwesend zu sein.
Aber wenn Canan irgendjemand an ihrer Seite braucht und Xwedê diesen Jemand zu mich bildete — es zu meiner Aufgabe machte, dann ist es so. Dann sei es so. Ich habe unendlich viele Möglichkeiten, wie ich kann auch morgen Iskara das Geschenk überreichen. Denn das hier ist wichtiger. Canan ist wichtiger.
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23.02.2025!!! WÄHLT (solltet ihr die Gelegenheit dazu haben, SO NUTZT DIESE)!
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