𝟎𝟒 | 𝐂̧𝐀𝐑
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• R O J Y A R •
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Diese Person dreht sich sofort zu mir um, nachdem ich sie nach ihrem Gebet an der Schulter antippe, und sie wegen mir aufschreckt. Das ist nicht absichtlich gewesen, ich wollte das nicht.
Canans Augen stechen in meine. Meine Privatschülerin. Und als sie mich wieder erkennt, beruhigt sich genauso ihre Atmung sowie Haltung.
In unseren Stunden gemeinsam habe ich nicht wirklich die Möglichkeit dazubekommen, sie anzugreifen, damit sie es mit einem echten Menschen versucht, sich zu verteidigen. Aber es ist verständlich.
So viele Fragen schießen durch meinem Kopf, die ich ihr stellen möchte. Also hole ich mein Handy hervor, ehe ich auf meinen Notizen zu schreiben beginne, da ich ihre Nummer nicht habe.
‚Was machst du hier?'
Sie blickt vom Bildschirm zu mir auf, ehe sie mit einem fragendem Gesichtsausdruck auf meinem Handy zeigt, welches ich ihr sofort mit einem Nicken überreiche.
,Nachdem ich für meinen Opa gebetet habe, habe ich einen Gebet diesem Verstorbenen hinterlassen.', antwortet sie.
Diesem Verstorbenen. Aber es ist Dayê.
Jîyan Azad.
Ich frage weiter, ob sie überhaupt diese Person kennt, und sie schüttelt nur ihren Kopf.
Sie betet für eine Unbekannte.
‚Wie kommt es dazu, dass du für sie betest?'
Sie dreht ihren Rücken zu mir um, somit ich nun jedes einzelne Wort, welches sie auftippt, mit lesen kann. ,Seit der einen Nacht, von der ich eigentlich nach Hause wollte' Ihre Finger beginnen zu zittern, aber hören nicht auf die letzten Worte zu schreiben, schnell. ‚betete ich für die falsche Person, da dessen Grab direkt neben meiner Tante liegt, aber das ist mir spät aufgefallen.'
Von hinten umzingele ich sie mit meinen Armen und greife nach meinem Handy, worauf ich vor ihr tippe. ,Dankeschön, dass du für meine Mutter betest.'
Abrupt schaut sie mit einem überwältigendem Blick zu mir auf, zeigt zuerst auf dem Grab meiner Mutter und dann auf mich.
Ich nicke, dabei kratzt es mir im Hals.
Ihre Gesichtszüge werden entspannter und in ihre Augen liegt Mitleid. Mitleid, welches mich anders fühlen lässt als der Mitleid anderer.
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• C A N A N •
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Ich habe nicht gewusst, dass es eine Frau gewesen ist, für die ich Dua'as ausgesprochen habe. Ich habe es nicht gewusst, denn ich habe noch nie von einer Frau gehört Namens Jîyan. Also habe ich angenommen, es sei ein Mann. Und jetzt, da ich erfahren habe, sie ist eigentlich eine Frau gewesen, schäme ich mich. Ich habe das nicht von irgendjemanden erfahren, sondern auch noch von ihrem Sohn.
Es tut mir so leid. Im Inneren hoffe ich zutiefst, meine Gebete an sie werden trotzdem angenommen. Ich bin mir bestimmt sicher, denn niemand ist so barmherzig wie Allāh.
An dem Tag, an dem ich erfahren habe, dass meine Tante von uns gegangen ist, war die Hölle los. Sie war die einzige Person zu der ich mich wenden konnte, wenn mal wieder meine Gedanken gestört haben. Mit ihr habe ich all die schweren psychischen Phasen meines Lebens noch überlebt. Sie war wie meine zweite Mutter und sah auch ihrer älteren Schwester — meine Mutter — sehr ähnlich.
Jedoch eine Mutter zu verlieren... Ich wollte mir das gar nicht vorstellen, wie ich aufgewachsen wäre ohne meine Mutter. Ohne sie würde nicht wissen, wie ich mich als Frau zu verhalten habe.
Ihre Schwester hat mir erlaubt, verrückt zu sein wie ich es schon immer gewesen bin. Bei meiner Tante habe ich mich am meisten mehr zu Hause gefühlt als in meinem eigenen zu Hause, unter dem Dach meiner Familie.
Das seine Arme mich umzingeln, stört mich nicht. Und das für eine Person wie mir, die körperlichen Kontakt verabscheut, ist was neues. Jedesmal wenn einer von den Besucher oder Gastgeber der Familie mich einfach so umarmen und noch diese Küsse auf den Wangen hinterlassen, lässt mich innerlich vor Wut aufkochen, dass ich an den Tod denke. An deren Tod.
Ich bekomme das Gefühl, ich schreibe mehr als er über seine Notizen-App und bekomme trotzdem viel von ihm. Aber es stört mich überhaupt nicht. Nein, es entlastet manches von mir, wovon ich nicht einmal gewusst habe, dass ich sie mit mir rumtrage.
Was ich zugleich spüre, ist, ich will mehr erzählen. Ich fühle mich genau jetzt so wohl, dass ich ihm wirklich meine ganze Lebensgeschichte erzählen möchte. Er muss nur fragen, und ich schreibe ihm ein ganzen Roman. Das Schlimmste hierbei, ich habe nicht die Angst davor. Er könnte die schlimme Seite meiner Geschichte gegen mich setzten, und mich würde nicht die Angst dazu haben. Er wäre der Erste, nach meiner Tante. Er ist der erste, dem ich alles erzählen möchte, auch wenn er nicht zuhören mag.
Zuhören. Bei mir gibt es nichts zu hören. Wie konnte ich bloß vergessen, dass ich seit genau acht Jahren nicht mehr spreche? Bei mir gibt es genauso nichts zu bereden, meine Gebete verrichte ich mit leisem Geflüster vor mich hin. Nicht mehr. Menschen finden es langweilig bei mir, da sie immer wieder etwas zum Schreiben brauchen, wenn sie bei mir sind. Sie haben mich verlassen und jemand neues meinen Platz ersetzen lassen. Ich bin glücklich für sie. Und kann sie verstehen, denn niemand von ihnen beherrscht die Gebärdensprache.
Meine Tante hat sie gelernt, für mich. Während meine Familie — ja, selbst meine Schwester — immer wieder irgendwelche sinnlose Ausreden erfinden, und ich mich zu Konzentrieren gelernt habe, um deren Lippenbewegungen zu verstehen.
Und dennoch habe ich mehr Panik bekommen, als mir niemand von der Nacht glauben wollte. Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich habe versucht, alles der Polizei zu melden, aber meine Eltern haben mich aufgehalten.
,Lässt du mich dich angreifen, morgen?', schreibt er. Er hat es bemerkt. Er hat bemerkt, dass ich seine beinahe Umarmung von hinten zulasse, und fragt mich.
Ich glühe, grinse innerlich und es leuchtet in mir. Ich lächele und gebe ihm ein einfaches Nicken von mir zur Antwort.
Plötzlich fängt es an extrem auf uns zu schütten. Und ich freue mich jetzt nun mehr und hebe den Kopf ab, um die kalten Tränen der dunklen Wolken genau auf meinem Gesicht zu spüren bekomme.
Rojyar berührt mich sanft an der Seite, um mir zu deuten, wir sollen aus dem Friedhof gehen, wohin weiß ich nicht. Seine Kapuzen-Jacke hält er über uns, und ich renne einfach mit ihm und trage das wahrhaftigste, breiteste Grinsen auf.
Nicht weit vom Friedhof kommen wir unter einem der weiten Flachdächer eines Centers zum stehen. Die Läden sind geschlossen, um uns ist keine Menschenseele.
Erst in diesem Moment realisiere ich, wie lange ich vor den Gräber gestanden habe. Es ist geplant, vor Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein, aber... Ich schaue zu Rojyar und signalisiere ihm, ich möchte die Zeit wissen, indem ich auf mein Handgelenk tippe. Er zeigt mir sein Bildschirm; 19:06 Uhr.
Scheiße.
Wiedermal zeigt er mir seinen Bildschirm, auf dem steht, ob ich nach Hause müsste.
Hastig nicke ich.
Und er schreibt mir, er würde mich gerne begleiten.
Es ist schon dunkel, die Gefahr besteht, dass die Männer mich wahrscheinlich aufsuchen werden in dieser Nacht. Und ich habe mir nach dem Vorfall zu Hause versprochen, ich werde niemals das Haus verlassen oder nicht zu lange draußen zu bleiben.
Die Meisten wären bestimmt in meiner Stelle traumatisch zurückgeblieben, würden nie wieder aus Angst das Haus verlassen, während ich bis dato immer noch. nicht darauf klarkomme. Tagsüber verläuft mein Tag normal, aber Nachts... Erst wenn ich die Lider versuch zu schließen, taucht die Nacht vor mir auf, als würde ich sie wieder erleben.
Seine beschmutzen Händen haben an mir geklebt. Die Panik ist gestiegen, die Luft ist mir weggeblieben.
Todesfurcht.
—
ich weiß, man dachte am Anfang der Geschichte, sie seie vor einem beinahen Missbrauch gerettet worden..
ich halt die fresse, weil wäre jetzt ein spoiler für meinen kranken Plot, obwohl das LETZTE WORT dieses Kapitels einen hinweis gibt, hihihi
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